Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 178-183
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Die Aussichten in Frankreich und England

Geschrieben am 10. April 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4375 vom 27. April 1855]

<178> London, Dienstag, 10. April 1855

Erlauben Sie mir, nach einer längeren Pause meine Korrespondenz in der "Tribune" wieder aufzunehmen.

Gestern und heute werden höchstwahrscheinlich die beiden ersten entscheidenden Tage der Wiener Konferenz sein, da sie am 9. in Gegenwart des Herrn Drouyn de Lhuys eröffnet werden sollte und gleichzeitig erwartet wurde, daß der russische Botschafter seine Instruktionen wegen des dritten und vierten Punktes bekommen hat. Die Reise des Herrn Drouyn de Lhuys wurde von Anfang an an sämtlichen Börsen als sicheres Friedenssymptom in den Himmel gehoben. Es wurde gesagt, daß ein so hervorragender Diplomat sicherlich nicht persönlich an den Verhandlungen teilnehmen würde, wäre er nicht seines Erfolges sicher. Was die "hervorragende Qualität" dieses Diplomaten anbelangt, so ist sie von einer sehr sagenhaften Natur und existiert hauptsächlich nur in den von ihm bezahlten Zeitungsartikeln, durch die er sich zu einem zweiten Talleyrand erheben läßt, als ob seine langjährige Karriere unter Louis-Philippe nicht schon seit langem seine "hervorragende" Mittelmäßigkeit etabliert hätte. Der wahre Grund seiner Reise ist aber der: Lord John Russell hat es durch seine allbekannte Unkenntnis der französischen Sprache binnen wenigen Wochen fertiggebracht, die Alliierten in Konzessionen zu verwickeln, die er gewiß niemals machen wollte und die zurückzuziehen außerordentlich schwer sein dürfte. Lord Johns Französisch ist die Art des typischen John Bull, so wie es "Mylord" in "Fra Diavolo" spricht und in anderen ehedem in Frankreich populären Stücken. Es fängt mit den Worten "Monsieur l'aubergiste" <"Herr Gastwirt"> an und endigt mit den Worten "très bien" <"sehr gut">. Versteht er nur die Hälfte von dem, was man zu ihm spricht, so <179> hat er die Genugtuung in dem Bewußtsein, daß andere Leute von dem, was er von sich gibt, noch weniger verstehen. Gerade aus diesem Grund schickte ihn aber sein Freund und Rivale Lord Palmerston nach Wien, erwägend, daß ein paar grobe Fehler auf diesem Schauplatz genügen dürften, um dem armen kleinen John endgültig das Genick zu brechen. Und so ist es auch wirklich gekommen. Meistens konnte er nicht verstehen, wovon die Rede war, und eine jede rasche und unerwartete Interpolation Gortschakows oder Buols entlockte dem unglückseligen diplomatischen Debütanten unfehlbar ein verlegenes "très bien". So konnte es geschehen, daß Rußland und bis zu einem gewissen Grade auch Österreich die Behauptung aufstellen konnten, daß in einigen Punkten, wenigstens soweit sie England betreffen, bereits eine Übereinstimmung erzielt sei, die der arme Lord John niemals zuzugestehen die Absicht hatte. Selbstverständlich hatte Palmerston dagegen nichts einzuwenden, solange die Schuld seinen unglücklichen Kollegen trifft. Doch kann es Louis Bonaparte nicht zulassen, auf diese Weise zum Frieden überlistet zu werden. Um dieser Art von Diplomatie einen Riegel vorzuschieben, hat die französische Regierung sich daher plötzlich entschlossen, die Dinge zur Entscheidung zu bringen. Sie stellte ein Ultimatum auf, mit dem Drouyn de Lhuys nach London ging, wo er die Zustimmung der britischen Regierung erlangte, und das er dann mit sich nach Wien nahm. Man kann ihn daher jetzt als den gemeinsamen Vertreter von Frankreich und England betrachten, und es ist nicht daran zu zweifeln, daß er diese Stellung im besten Interesse seines Herrn ausnützen wird. Und da das einzige und ausschließliche Interesse Louis Bonapartes darin besteht, keinen Frieden zu schließen, ehe er nicht neuen Ruhm und neue Vorteile für Frankreich errungen und ehe nicht der Krieg seinen Zweck als "moyen de gouvernement" <"Mittel der Verwaltung"> voll und ganz erfüllt hat, wird es klar, daß Drouyns Mission, weit entfernt davon, eine friedliche zu sein, im Gegenteil nichts anderes bezweckt, als eine Fortdauer des Krieges unter jedem nur halbwegs schicklichen Vorwand zu sichern.

Bei der Bourgeoisie Frankreichs und Englands ist dieser Krieg entschieden unpopulär. Bei der französischen war er es von allem Anfang an, denn diese Klasse stand seit dem 2. Dezember stets in voller Opposition zur Regierung des "Retters der Gesellschaft". In England war die Bourgeoisie geteilt. Die große Masse hat ihren Nationalhaß von den Franzosen auf die Russen übertragen. Obgleich John Bull gerne selbst in Indien hie und da ein kleines Annexionsgeschäft vornimmt, so denkt er gar nicht daran, anderen Nationen zu erlauben, in anderen Gegenden dasselbe zu tun, wenn diese England oder <180> seinen Besitzungen beunruhigend nahe sind. Rußland war das Land, das in dieser Hinsicht schon längst seinen eifersüchtigen Argwohn erregte. Der ins Ungeheure anwachsende britische Handel nach der Levante und über Trapezunt nach Innerasien macht die freie Schiffahrt durch die Dardanellen zu einem Punkt von höchster Wichtigkeit für England. Es kann nicht zulassen, wie Rußland nach und nach die Donauländer aufsaugt, deren Wert als Kornkammer beständig wächst, und ebensowenig kann es erlauben, daß Rußland die Schiffahrt auf der Donau sperrt. Russisches Getreide spielt bereits eine übermächtige Rolle in der britischen Konsumtion; eine Annexion der kornproduzierenden Nachbarländer durch Rußland würde Großbritannien von ihm und den Vereinigten Staaten ganz abhängig machen und diese beiden Länder in Regulatoren des Getreidemarktes der ganzen Welt verwandeln. Außerdem zirkulieren in England einige unbestimmte und alarmierende Gerüchte über Rußlands Vordringen in Zentralasien; diese Gerüchte werden von daran interessierten indischen Politikern und erschreckten Phantasten aufgegriffen und durch die allgemeine geographische Unkenntnis von dem britischen Publikum gläubig hingenommen. Als daher Rußland seine Aggression gegen die Türkei begann, brach der nationale Haß elementar hervor, und nie war vielleicht ein Krieg so populär wie dieser. Die Friedenspartei mußte zeitweilig schweigen, und die Masse ihrer eigenen Mitglieder ließ sich sogar von der allgemeinen Strömung mitreißen. Wer aber den Charakter der Engländer kennt, der mußte wissen, daß diese Kriegsbegeisterung nicht von langer Dauer sein konnte, wenigstens soweit die Bourgeoisie in Betracht kam. Sobald die Wirkung des Krieges auf ihre Taschen in Form von Steuern sich fühlbar machte, siegte natürlich der kaufmännische Verstand über den Nationalstolz, und die Einbuße unmittelbarer persönlicher Profite wog natürlich schwerer als die Gewißheit des allmählichen Verlustes großer nationaler Vorteile. Die Peeliten, dem Kriege abhold nicht so sehr aus wahrer Friedensliebe als aus Beschränktheit und Zaghaftigkeit, die alle großen Krisen und jede entschiedene Aktion verabscheut, boten alles auf, schleunigst den großen Moment herbeizuführen, wo jeder britische Kaufmann und Fabrikant bis auf den letzten Heller sich berechnen konnte, was ihn persönlich der Krieg per annum <pro Jahr> kosten würde. Herr Gladstone, die vulgäre Idee einer Anleihe verschmähend, verdoppelte sofort die Einkommensteuer und stellte die Finanzreform ein. Sofort zeigte sich das Resultat. Die Friedenspartei erhob wieder ihr Haupt. Herr Bright erkühnte sich, mit dem an ihm wohlbekannten Feuer und mit Zähigkeit gegen die herrschende Stimmung aufzutreten, bis es <181> ihm gelang, die Industriedistrikte für sich zu gewinnen. In London ist die Stimmung zwar immer noch mehr für den Krieg; aber sogar hier ist der Einfluß der Friedenspartei sichtbar. Auch darf man nicht vergessen, daß die Friedensgesellschaft niemals zu irgendeiner Zeit irgendwelchen nennenswerten Einfluß in der Hauptstadt hatte. Trotzdem nimmt ihre Agitation in allen Teilen des Landes zu, und ein zweites Jahr verdoppelter Einkommensteuer, dazu eine Anleihe - denn diese wird jetzt als unvermeidlich angesehen -, und die letzte Spur kriegerischen Geistes unter den gewerbe- und handeltreibenden Klassen ist ausgerottet.

Ganz anders liegt der Fall bei der Masse des Volkes in beiden Ländern. Die Bauernschaft in Frankreich war seit 1789 der heißeste Verfechter des Krieges und des Kriegsruhms. Dieses Mal sind die Bauern sicher, nicht viel von der Bedrängnis des Krieges zu spüren; denn in einem Lande, wo der Grund und Boden unter den kleinen Eigentümern unendlich zersplittert ist, befreit die Aushebung zu Kriegsdiensten nicht nur die Ackerbau treibenden Distrikte von überschüssigen Arbeitskräften, sondern sie gibt auch noch jedes Jahr einigen 20.000 jungen Menschen Gelegenheit, ein rundes Sümmchen Geld dadurch zu verdienen, daß sie sich als Stellvertreter anwerben lassen. Nur ein langwieriger Krieg würde schwer empfunden werden. Kriegssteuern darf der Kaiser den Bauern nicht auferlegen, wenn er nicht Krone und Leben riskieren will. Sein einziges Mittel, den Bonapartismus unter ihnen zu erhalten, besteht darin, sie von Kriegssteuern zu befreien und dadurch ihre Gunst zu erkaufen, und so mögen sie noch mehrere Jahre von dieser Art der Bedrückung frei bleiben.

Ähnlich liegt der Fall in England. In der Landwirtschaft herrscht gewöhnlich Überfluß an Arbeitskräften, und aus ihnen rekrutiert sich die Hauptmasse des Militärs, das erst in einer späteren Periode des Krieges einen starken Zusatz aus dem Rowdytum der Städte bekommt. Als der Krieg begann, befand sich der Handel in einem leidlich guten Zustand, und manche gute landwirtschaftliche Verbesserung wurde verwirklicht; daher war diesmal die Zahl der bäuerlichen Rekruten eine geringere als sonst, und das städtische Element ist in der gegenwärtigen Miliz entschieden das vorherrschende. Aber schon die geringe Zahl der Eingezogenen genügte, die Löhne günstig zu beeinflussen, und die Sympathie der Dorfbewohner begleitet stets die Soldaten, die aus ihrer Mitte kommen und die sich nun in Helden verwandeln. Die direkte Besteuerung berührt nicht die kleinen Farmer und Arbeiter, und ehe die Erhöhung der indirekten Steuern sich für sie fühlbar macht, müssen erst einige Kriegsjahre verstrichen sein. Unter diesen Leuten ist die Kriegsbegeisterung stärker als sonstwo, und es gibt wohl kein Dorf, wo nicht ein neues Bierhaus <182> mit dem Schild "Zu den Helden von der Alma" oder einer ähnlichen Aufschrift sich fände und wo nicht in fast jedem Hause wunderbare Farbendrucke mit Darstellungen von der Alma, von Inkerman, der Attacke bei Balaklawa und Bilder von Lord Raglan und anderen die Wände zieren. Wenn aber in Frankreich das große Übergewicht der Kleinbauern (vier Fünftel der ganzen Bevölkerung) und ihr eigenartiges Verhältnis zu Louis-Napoleon ihren Stimmen ein solches Gewicht verleihen, so hat in England das Landvolk, das nur ein Drittel der Bevölkerung bildet, kaum irgendeinen Einfluß, außer als Anhängsel und Nachläufer der aristokratischen Grundeigentümer.

Die industrielle Arbeiterbevölkerung nimmt in beiden Ländern fast die gleiche besondere Stellung in bezug auf diesen Krieg ein. Sowohl die britischen wie auch die französischen Proletarier sind von einem edlen Nationalgeist erfüllt, obgleich sie sich mehr oder weniger von den veralteten nationalen Vorurteilen frei gemacht haben, die der Bauernschaft beider Länder eigen sind. Sie haben wenig unmittelbares Interesse an dem Krieg, es sei denn, daß die Siege ihrer Landsleute ihrem nationalen Stolze schmeicheln und daß der Verlauf des Krieges, der von den Franzosen tollkühn und vermessen, von den Engländern zaghaft und stumpfsinnig geführt wird, ihnen eine gute Gelegenheit gibt, gegen die bestehenden Regierungen und herrschenden Klassen zu agitieren. Die Hauptsache für sie ist es aber: Dieser Krieg, der mit einer kommerziellen Krise zusammenfällt - deren erste Anfänge sich eben bemerkbar machten -, der von Köpfen und Händen geleitet wird, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind und der gleichzeitig europäische Dimensionen annimmt, wird und muß Ereignisse heraufbeschwören, die die proletarische Klasse in den Stand setzen werden, jene Stellung wieder einzunehmen, die sie durch die Junischlacht 1848 in Frankreich verlor. Und das gilt nicht allein für Frankreich, sondern auch für das ganze Mitteleuropa, einschließlich England.

In Frankreich kann in der Tat kein Zweifel darüber herrschen, daß jeder neue revolutionäre Sturm früher oder später die Arbeiterklasse zur Macht bringen muß. In England nehmen die Dinge rasch eine ähnliche Wendung. Da ist eine Aristokratie, die den Krieg weiterzuführen wünscht, aber dazu nicht fähig ist, und die sich durch die schlechte Kriegführung im vergangenen Winter völlig kompromittiert hat. Da ist eine Bourgeoisie, die diesen Krieg nicht weiterzuführen wünscht, aber der Krieg kann jetzt nicht beendet werden; indem sie alles dem Frieden opfert, tut sie dadurch ihre Unfähigkeit kund, England zu regieren. Sollten die Ereignisse die eine dieser beiden Klassen mit ihren zahlreichen Fraktionen ausschalten und die andere nicht ans Ruder kommen lassen, so bleiben bloß zwei Klassen, denen die Macht <183> zufallen kann: Die Kleinbourgeoisie, die Klasse der kleinen Gewerbetreibenden, deren Mangel an Energie und Entschiedenheit sich bei jeder Gelegenheit zeigte, wo sie berufen war, von Worten zu Taten überzugehen, und die Arbeiterklasse, der man beständig vorwarf, sie zeige viel zuviel Energie und Entschiedenheit, wenn sie sich anschickte, als Klasse zu handeln.

Welche dieser Klassen wird also diejenige sein, die England aus dem jetzigen Kampf und aus allen Verwicklungen hinausführt, die im Zusammenhang mit ihm entstehen?

Karl Marx