Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 189-192
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Die Affäre vom 23. März


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 179 vom 18. April 1855]

<189> London, 15. April. Die Belagerung von Sewastopol schleppt sich voran, langsam, langweilig, leer an Ereignissen und Entscheidungen, kaum hier und da belebt durch einige resultatlose Scharmützel oder desultorische Angriffe, worin die letzte immer die Kopie der vorletzten und das Original der nachfolgenden ist. Mit Ausnahme der Überlegenheit, die die Verteidigung im Ingenieurdepartement entwickelt, bieten sicher wenige Feldzüge von gleicher Dauer das Schauspiel gleicher Mittelmäßigkeit in den kommandierenden Offizieren auf beiden Seiten.

Die französischen und englischen offiziellen Berichte über die Affäre vom 23. März liegen uns vor; einen detaillierten russischen Bericht haben wir noch nickt gesehen. Wie gewöhnlich sind die Berichte der alliierten Generale in so künstlerisches Halbdunkel gehüllt, daß wir nichts Bestimmtes aus ihnen ersehen können. Mit Hilfe von englischen Privatbriefen und Zeitungskorresponzen lassen sich indes die Hauptumrisse des Ereignisses wiederfinden. Die rechte Attacke der Alliierten, gerichtet gegen die südöstliche Front von Sewastopol, ist vorwärts geschoben bis zu 600 Yards von der ersten russischen Linie vermittels 3 Linien von Approchen oder Zickzacks, die an ihren Enden durch die sog. zweite Parallele miteinander verbunden sind. Über diese hinaus werden die 3 Zickzacks weitergerückt, obgleich langsam und unregelmäßig; dies ist bezweckt, sie durch eine dritte Parallele zu verbinden und auf der Zentralapproche einen Waffenplatz zu bilden oder einen gedeckten Platz, geräumig genug, um eine Reserve zu beherbergen. Von den 3 Approchen befindet sich die mittlere in der Hand der Engländer, während die rechte und linke von den Franzosen besetzt ist. Diese zwei Flankenapprochen sind weiter vorgestoßen als die zentrale, so daß hier die französischen Laufgräben dem Platze <190> ungefähr 50 Yards näher sind als die von den Engländern eingenommene Position.

Am 23. März vor Tagesanbruch rückten beträchtliche russische Streitkräfte, ungefähr 12 Bataillons, von der Stadt auf die Belagerungswerke vor. Wohl wissend, daß die Laufgräben mit völliger Vernachlässigung der herkömmlichen und vorschriftsmäßigen Vorkehrungen konstruiert worden, daß ihre Flanken weder hinreichend eingezogen noch durch Redouten verteidigt sind, daß folglich ein kühner Stoß auf die extremen Flanken der Parallele in die Laufgräben führen muß, begannen die Russen ihren Angriff mit einer plötzlichen und raschen Bewegung, wodurch die östlichen und westlichen Extremitäten der Parallele umgangen wurden. Ein Frontangriff beschäftigte die Laufgrabenwache und ihre Reserven, während die überflügelnden Kolonnen, trotz dem tapferen Widerstand der Franzosen, in die Werke hinabstiegen und den Laufgraben fegten, bis sie bei der durch die Briten verteidigten Zentralposition anlangten. Die britischen Linien, gesichert vor ernsthafter Beunruhigung in der Front, wurden nicht belästigt, bis die auf der Rechten und Linken stattfindende Füsillade einen Teil ihrer Reserven herbeigerufen hatte, und selbst dann war der Frontangriff nicht von großer Heftigkeit, da die Stärke des Ausfalles in den überflügelnden Kolonnen konzentriert war. Aber auch diese hatten infolge des großen Umfanges des Laufgrabens, den sie bereits überrannt, ihr erstes Feuer verloren, und als sie bei den Briten ankamen, hatten ihre Offiziere beständig die Chance des schließlichen Rückzuges im Auge zu halten. Der Kampf erreichte daher sehr bald den Punkt, wo beide Teile ihren Grund behaupten, und das ist der Moment, wenn ein ausfallendes Detachement an sichere Retirade denken muß. Das taten die Russen. Ohne einen ernsthaften Versuch, die Briten aus ihrer Position zu bringen, hielten sie das Gefecht aufrecht, bis die Mehrzahl ihrer Truppen sich Sewastopol bedeutend genähert hatte, und dann riß ihre Arrieregarde aus, heftig verletzt durch die französischen und britischen Reserven.

Die Russen müssen erwartet haben, viele Kanonen, beträchtliche Munition und anderes Kriegsmaterial in der zweiten Parallele zu finden. Dies zu zerstören, kann der einzige Zweck ihres Ausfalls gewesen sein. Aber sie fanden fast nichts von alledem und gewannen so nichts durch den Ausfall, außer der Sicherheit, daß sie noch fähig sind, in dieser Entfernung von ihren eigenen Linien, in der ersten oder zweiten Stunde eines Ausfalls, und bevor die feindlichen Reserven sich versammeln können, die stärkste Front zu zeigen. Dies ist etwas wert, kaum aber die Verluste eines solchen Ausfalles. Der materielle Schaden, den sie den Belagerungswerken zugefügt, war in einem oder zwei Tagen wieder gutgemacht, und der durch diesen Ausfall hervorgebrachte <191> moralische Effekt ist auf Null zu setzen. Da jeder Ausfall in einen Rückzug endet, so halten sich die Belagerer stets für die Sieger. Falls der Verlust der Belagerten nicht unverhältnismäßig gering im Vergleich mit dem der Belagerer, ist der moralische Effekt im Durchschnitt mehr ermutigend für die letzteren als für die ersteren.

In diesem Falle, da Canrobert und Raglan mehr denn je eines scheinbaren Erfolgs bedürftig waren, kam ihnen dieser Ausfall mit seinen Diminutiv-Früchten und seinem schließlichen hastigen Rückzug ungemein gelegen. Die französischen Truppen schreiben sich besonders hoch an, den Feind bis dicht an die Linien von Sewastopol verfolgt zu haben. Dies ist indes in ähnlichen Umständen nicht so schwierig, da die Kanonen des Platzes nicht spielen können aus Furcht, die eignen Truppen zu treffen. Die Briten ihrerseits, während sie mit Stillschweigen über ihre ausnahmsweise zurückgeschobene Position weggehn, die ihnen mehr den Charakter einer Reserve geben als den eines Truppenkorps in erster Schlachtlinie, renonimieren wieder - diesmal aber mit weniger Grund als je zuvor - mit ihrer eignen Unbesiegbarkeit und dem unbeugsamen Mut, der dem britischen Soldaten verbietet, auch nur einen Zollbreit zu weichen. Die britischen Offiziere in den Händen der Russen, aufgegriffen aus der Mitte dieser unbeugsamen Soldaten und sicher nach Sewastopol beordert, Oberst Kelly u.a., wissen, was all dieser Cant <Scheinheiligkeit> auf sich hat.

Unterdes fahren die großen Strategiker der britischen Presse fort, mit bedeutender Emphase zu erklären, daß, bevor an einen Sturm auf Sewastopol zu denken, die neu von den Russen errichteten Außenwerke durchaus genommen werden müssen; und sie hoffen, daß dies bald sich ereignen werde. Ihre Behauptung ist sicher ebenso wahr wie gemeinplätzlich, aber die Frage ist, wie sie zu nehmen, wenn die Alliierten nicht einmal deren Vollendung unter den Augen ihrer eigenen Batterien verhindern konnten? Der Angriff auf Selenginsk (auf dem Berg Sapun) zeigte klar genug, daß ein solches Werk mit großen Opfern an Leben in Besitz genommen werden kann für einen Augenblick, aber es ist schwer zu sagen, mit welchem Nutzen, wenn es nicht einmal während der zu seiner Zerstörung nötigen Zeit behauptet werden kann. Die Tatsache ist, daß diese neuen Werke, die einen integrierenden Teil des russischen Verteidigungssystems bilden, die auf den Flanken und im Rücken durch die russische Hauptlinie beherrscht sind, nicht genommen werden können, außer wenn dieselben Mittel gegen sie wie gegen die Hauptlinie angewandt werden. Approchen müssen bis zu einer passenden <192> Entfernung vorgeschoben, bedeckte Parallelen mit Waffenplätzen vollendet, Batterien, um die russische Hauptlinie zu engagieren, errichtet und armiert werden, bevor an einen Angriff auf diese Außenwerke und Bemächtigung derselben ernstlich gedacht werden kann. Die "Times", am lautesten in ihrem Schrei nach Wegnahme dieser Außenwerke, vergaß nur die neue Methode mitzuteilen, wodurch diese schwierige Aufgabe in ein paar Stunden zu lösen, was sie zuversichtlich ankündigte. Kaum hatte sie ihre sanguinischen Hoffnungen verraten, als ein Brief ihres Krim-Korrespondenten eintraf, der die neuen russischen Außenwerke nicht nur für uneinnehmbar erklärt, sondern zugleich für bloßen ersten Grenzstein eines beabsichtigten weitern Vorrückens russischer Contre-Approchen. Die Schützengräben in Front der Mamelon-Redoute (von den Russen Kamtschatka genannt) sind miteinander verbunden worden durch einen regelmäßigen Laufgraben und bilden so eine neue Verteidigungslinie. Zwischen der Mamelon-Redoute und der Selenginsk-Redoute (auf Berg Sapun) ist ein anderer Laufgraben gegraben, der 3 Seiten eines Quadrats bildet und einen Teil der französischen Approchen enfiladiert. Soviel ist klar, daß ein vollständiges System vorgeschobener Posten von den Russen bezweckt ist, um Malachow auf beiden Seiten in der Front zu decken und vielleicht schließlich sich in den Laufgräben der Alliierten festzusetzen. Sollte ein solcher Versuch gelingen, so wären die Belagerungslinien auf dieser Seite der Attacke durchbrochen. Während die Alliierten in den letzten 6 Monaten nur ihren Grund behauptet und ihre Batterien eher verstärkt als vorgerückt haben, sind die Russen in einem einzigen Monat bedeutend auf sie vorgerückt und rücken noch vor. Gewiß! Manche Verteidigung war glorreicher als die von Sewastopol, aber es ist unmöglich, seit der Belagerung von Troja, in den Annalen des Kriegs eine Belagerung aufzuweisen, so zusammenhanglos, ideenlos und ruhmlos wie die Belagerung von Sewastopol.