Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 210-212
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Pianori -
Mißstimmung gegen Österreich


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 219 vom 12. Mai 1855]

<210> London, 9. Mai. "Morning Chronicle", "Advertiser", "Daily News" etc. enden alle ihre Philippiken gegen den Meuchelmörder Pianori mit mehr oder minder scheuen Wendungen gegen die Nummer des "Moniteur", die den Anklageakt gegen Pianori veröffentlicht gleichzeitig mit dem Dekret, das dem ehemaligen französischen Unteroffizier und jetzigen Brüsseler Ladenhüter Cantillon das Napoleonische Legat von 10.000 Francs auszuzahlen verordnet, den Lohn seines an Wellington versuchten Meuchelmordes. Am drolligsten wendet und krümmt sich der von Profession ernsthafte "Chronicle". Napoleon III., meint er, müsse nicht wissen von dieser sonderbaren und in diesem Augenblicke so taktlosen Huldigung Napoleons I. Der Name "Cantillon" müsse sich durch einen Lapsus pennae <Schreibfehler> in die sittenreinen Spalten des "Moniteur" verirrt haben. Oder ein übereifriger Subalternbeamter habe auf seine Faust Cantillon mit den 10.000 Francs dotiert usw. Der würdige "Chronicle" scheint sich einzubilden, daß die französische Bürokratie nach dem Muster der englischen eingerichtet ist, wo allerdings, wie wir aus dem letzten Verhör vor dem parlamentarischen Untersuchungskomitee sehn, ein Subalterner in dem Board of Ordnance <Feldzeugamt> auf seine Faust eine gewisse Sorte von Raketen, hinter dem Rücken seiner Vorgesetzten und zum Belauf von Tausenden von Pfunden, bestellen kann, oder wo, wie Palmerston dem Unterhaus erklärt, diplomatische Aktenstücke dem Parlament wochenlang vorenthalten werden müssen, weil die "Person", die im Ministerium des Auswärtigen mit Übersetzung solcher Dokumente betraut ist, am Schnupfen oder Rheumatismus leidet.

<211> Seit einigen Tagen sucht die Londoner Presse von ihrer Bewunderung Österreichs zurückzukommen und ihr Publikum auf einen jähen Übergang in einer entgegengesetzten Tonart vorzubereiten. Wie gewöhnlich müssen "our own correspondents" das Eis brechen. So läßt sich der "Morning Chronicle" von Berlin schreiben:

"Kein positiver Akt der Täuschung oder formellen Wortbruchs kann dem preußischen Kabinett zur Last gelegt werden. Sind die westlichen Kabinette getäuscht worden, so war es ihr eigner Fehler oder derer, die das Geschäft haben, ihnen die Augen zu öffnen. Aber kann dasselbe von Österreich gesagt werden? War sein Betragen so unverhüllt wie das Preußens? Letzteres hat den westlichen Mächten allen Schaden getan, der in seiner Macht war, offen und unverhüllt. Es trotzt und verlacht uns ohne Maske oder Rückhalt. Das erstere hat kokettiert mit England und Frankreich während 20 Monaten, uns im geheimen ausgelacht, Hoffnungen hervorgerufen offiziell und privatim, von Kommission zu Kommission uns gelockt, Versicherungen des formellsten Charakters gegeben, und, wie lange vorhergesagt von denen, die nicht geblendet durch übertriebenes Vertrauen, steht nun auf dem Sprung, uns im Stich zu lassen, falls wir nicht Friedensbedingungen annehmen, möglichst vorteilhaft für Rußland und durchaus schädlich für Frankreich und England. In der Tat! Nachdem Österreich Rußland als Schild am Pruth gedient und Gortschakow befähigt hat, fast seine ganze Streitkraft von Bessarabien nach der Krim zu detachieren, tritt es nun vor und besteht auf einem Frieden, der die Dinge lassen soll, wie sie sind. Wenn das alles ist, was wir von österreichischer Freundschaft zu erwarten haben, dann, je eher die Maske weggeworfen wird, desto besser."

Andrerseits läßt sich die "Times" aus Wien berichten:

"Baron Heß, der Oberkommandant des 3. und 4. Armeekorps, hat neulich ein Memorandum aufgesetzt und seinem kaiserlichen Herrn überreicht, worin bewiesen wird, daß, unter gegenwärtigen Umständen, es nicht ratsam für Österreich sei, Rußland den Krieg zu erklären. Man wird wahrscheinlich ein Geschrei gegen mich erheben, daß ich in so öffentlicher Weise einen so delikaten Gegenstand berühre, aber nach meiner Meinung ist es ein Dienst für England und Frankreich, ihnen zu sagen, daß sie auf ihre eignen Hilfsquellen rechnen müssen und Österreichs Beistand kaum zu erwarten ist. Hätte es Preußen und den Bund bereden können, seine linke Flanke mit einer Armee von 100.000 Mann zu decken, so würde es, trotz der vielen Hindernisse, die sich entgegenstellten, wahrscheinlich seit lange sich verpflichtet haben, die Offensive gegen Rußland zu ergreifen. Die Argumente, die Baron Heß in seinem Memorandum entwickelt, sind nicht positiv bekannt, aber die russischgesinnten Österreicher, in solchen Materien stets am besten unterrichtet, versichern, daß sie sich ungefähr auf folgendes belaufen: Die Westmächte haben zur Evidenz bewiesen, daß sie ihre eigenen Gesamtmittel wie die der Türkei erheischen, um gegen die Russen in der Krim stand- <212> zuhalten. Es wäre daher höchst unklug auf seiten Österreichs, falls es nicht den Beistand des Deutschen Bundes sichern kann, sich in einen Krieg mit Rußland einzulassen. Es ist von allen Seiten anerkannt, daß letzteres eine Armee von 250.000 Mann, mit Einschluß der Garden und Grenadierkorps, in Polen stehen hat, und da sie hier in dem Rayon von sieben der stärksten Festungen des Russischen Reiches postiert ist, kann keine wenigstens doppelt so starke Streitkraft Vorteile über sie davonzutragen erwarten. Ebenso soll der zerrüttete Zustand der Finanzen in Betracht gezogen sein; Frankreichs Unfähigkeit, Österreich 100.000 Mann zur Verfügung zu stellen; die bloßgelegte Hilflosigkeit der britischen Regierung, der wenige Verlaß auf Preußen usw. Letzte Woche kam noch ein neuer Grund hinzu, die Vergänglichkeit der Dinge im allgemeinen, die Ungewißheit eines Menschenlebens im besondern und das Dilemma, worein Österreich gestellt wäre, sollte irgend etwas dem Louis-Napoleon zustoßen, während es sich in einem Kriege mit Rußland befände!"