Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 249-252
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Die Parlamentsreform -
Abbruch und Fortdauer der Wiener Konferenzen -
Der sogenannte Vernichtungskrieg


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 245 vom 30. Mai 1855]

<249> London, 26. Mai. Nähere Details über das vorgestern vor Eröffnung des Unterhauses von Lord Palmerston zusammenberufene Comité du Salut Ministériel <Komitee zur Rettung des Ministeriums> haben verlautet, charakteristisch für den parlamentarischen Mechanismus und die Stellung der verschiedenen Fraktionen, die dem Ministerium eine Majorität von 100 Stimmen zugeführt haben. Palmerston drohte gleich am Beginn mit Resignation, wenn Disraelis Motion durchgehe. Er drohte mit der Aussicht eines Tory-Ministeriums. Die sogenannten radikalen Parlamentler, poor fellows <[die] armen Kerle>, genießen das Privilegium, diese große und letzte Drohung über sich verhängt zu sehen seit 1830, so oft sie in Meuterei ausbrechen. Sie bringt sie jedesmal zur Disziplin zurück. Und warum? Weil sie die Massenbewegung fürchten, die unter einem Tory-Ministerium unvermeidlich ist. Wie buchstäblich richtig diese Ansicht ist, mag man aus dem Bekenntnis eines Radikalen sehen, der in diesem Augenblick selbst Minister ist, wenn auch nur Minister der königlichen Waldungen, des Sir William Molesworth. Die Stellung paßt für den Mann, der von jeher das Talent besaß, vor lauter Bäumen den Wald nicht zu sehen. Deputierter von Southwark, einem Stadtteil von London, erhielt er die Einladung von seinen Kommittenten, einem vergangenen Mittwoch abgehaltenen öffentlichen Meeting für Southwark beizuwohnen. (NB. Auf diesem Meeting, wie in der Mehrzahl der bisher in verschiedenen Provinzen abgehaltenen, wurde die Resolution gefaßt, daß Administrativreform ohne vorhergehende Parlamentsreform sham <Schwindel> und Humbug sei.) Molesworth erschien nicht, aber er sandte einen Brief, und in diesem Brief erklärt er, der Radikale und Kabinettsminister: "Wenn Herrn <250> Disraelis Motion durchgeht, wird die Notwendigkeit administrativer Reform offenbarer werden." Das heißt "offenbar": Wenn die Tories ins Ministerium kommen, wird die Reformbewegung ernsthaft. Die Drohung mit der Resignation war indes nicht die große Kanone, die Palmerston abfeuerte. Er spielte auf Auflösung des Parlaments an und das Schicksal der vielen Unglücklichen, die sich vor kaum drei Jahren mit ungeheuren Opfern in das "ehrenwerte Haus" einkauften. Dies Argument war unwiderstehlich. Es handelte sich nicht mehr um seine Resignation. Es handelte sich um ihre Resignation.

Obgleich Palmerston so eine Majorität von 100 Stimmen gegen Disraelis Motion sicherte, indem er den einen mit seiner Resignation drohte, den andern mit ihrer Verjagung aus dem Unterhaus, den einen Aussicht auf Frieden und den andern Aussicht auf Krieg eröffnete - brach die neubegründete Koalition sofort wieder zusammen, und zwar während der öffentlichen Aufführung der verabredeten Komödie. Die Erklärungen, wozu die Minister im Laufe der Debatte verleitet wurden, neutralisierten die Erklärungen, die sie en petit Comité <im kleinen Komitee> gegeben hatten. Der Kitt, der die widerstrebenden Fraktionen lose zusammenhielt, bröckelte zusammen nicht vor einem Orkan, sondern vor parlamentarischem Wind. In der gestrigen Sitzung interpellierte nämlich Roebuck den Premier über das Gerücht einer Wiedereröffnung der Wiener Konferenzen. Er verlangte zu wissen, ob der englische Gesandte in Wien an diesen Konferenzen teilzunehmen beauftragt? Nun hatte bekanntlich Palmerston, seit Russells, des unglücklichen Diplomaten, Rückkehr von Wien jede Debatte über Krieg und Diplomatie abgelehnt unter dem Vorwand, die "zwar unterbrochenen, aber keineswegs geschlossenen Wiener Konferenzen" nicht zu stören. Milner Gibson hatte vergangenen Montag seine Motion zurückgenommen oder vertagt, weil nach der Erklärung des edlen Lords die "Konferenzen noch schwebten". Palmerston hatte bei der Gelegenheit ausdrücklich hervorgehoben, daß das englische Ministerium Österreich, "unserem Alliierten innerhalb gewisser Grenzen", überlassen, neue Anknüpfungspunkte zu Friedensunterhandlungen auszuhecken. Die Fortexistenz der Wiener Konferenz, sagte er, ist über jeden Zweifel erhaben. Russell hat zwar Wien verlassen, aber Westmoreland fährt fort, in Wien zu residieren, wo außerdem Gesandte sämtlicher Großmächte tagen, also alle Elemente einer permanenten Konferenz vorhanden sind.

Seit Montag, dem Tage, wo Palmerston das Parlament mit diesen Enthüllungen begnadigt, war indes ein großer Umschwung eingetreten. Disraelis Antrag und ein Tag Debatte über diesen Antrag standen zwischen dem <251> Palmerston vom Montag und dem Palmerston vom Freitag, und Disraeli hatte seinen Antrag motiviert durch das Bedenken, daß das Ministerium während der Vertagung des Hauses in einen "schmählichen Frieden treiben" möge, wie es unter den Auspizien Aberdeens in einen schmählichen Krieg "getrieben" war. An Palmerstons Antwort auf Roebucks Interpellation hing also das Schicksal der Abstimmung. Er durfte das Gespenst der Wiener Konferenz in diesem Augenblick nicht heraufbeschwören und dem Hause erklären, daß man in Wien beschließe, während man in den Hallen von St. Stephen's debattiere; daß man hier proponiere, aber dort disponiere. Er konnte das um so weniger, als Russell den Abend vorher Österreich verleugnet hatte und die Friedensprojekte und die Wiener Konferenz. Er antwortete Roebuck daher: die Wiener Konferenz sei nicht wiedereröffnet, und der englische Gesandte habe keine Erlaubnis, ohne speziellen Befehl von Downing Street einer neuen Konferenz beizuwohnen. Nun erhob sich Milner Gibson, sittlich entrüstet. Wenige Tage vorher habe der edle Lord erklärt, die Konferenz sei nur suspendiert, und Westmoreland besitze absolute Vollmacht, in ihr zu negoziieren. Sei diese Vollmacht ihm entzogen worden und wann? - Vollmacht! antwortete Palmerston, seine Vollmacht ist so völlig wie je, aber er hat nicht die Macht, sie anzuwenden. Eine Vollmacht besitzen und sie gebrauchen dürfen, das ist zweierlei. Diese Antwort auf Roebucks Interpellation löste das Band zwischen dem Ministerium und der durch die Peeliten verstärkten Friedenspartei à tout prix. Das war indessen weder das einzige noch das wichtigste "Mißverständnis". Russell war vorgestern von Disraeli stundenlang auf die Tortur gespannt und gefoltert und mit glühenden Stecknadeln gezwickt worden. In der einen Hand zeigte Disraeli das rhetorische Löwenfell, worin der Whig-Aztek zu prangen pflegt, in der andern das Guttapercha-Diminutiv-Männlein, das hinter diesem Fell steckt. Russell, obgleich durch seine lange parlamentarische Erfahrung und Abenteuer so gewappnet gegen harte Worte wie der gehörnte Siegfried gegen Wunden, wußte seine Fassung gegenüber dieser rücksichtslosen, nackten Ausstellung seines eigentlichen Selbst nicht zu behaupten. Er schnitt Gesichter, während Disraeli sprach. Er wandte und drehte sich unruhig und haltlos auf seinem Sitze, während Gladstone mit seiner Predigt folgte. Als Gladstone eine rhetorische Pause machte, erhob sich Russell und wurde nur durch das Gelächter des Hauses erinnert, daß die Reihe noch nicht an ihn gekommen sei. Endlich war Gladstone definitiv verstummt. Endlich konnte Russell dem gepreßten Herzen Luft machen. Er erzählte dem Hause nun alles, was er dem Fürsten Gortschakow und dem Herrn von Titow gegenüber weislich verschwiegen hatte. Rußland, dessen "Ehre und Würde" er befürwortete auf der Wiener Konferenz, erschien ihm nun als eine Macht, <252> die rücksichtslos der Weltherrschaft zustrebt. Verträge machend, um Vorwände zu Eroberungskriegen zu gewinnen, Krieg führend, um mit Verträgen zu vergiften. Nicht nur England, Europa schien ihm bedroht, nichts zulässig als ein Vernichtungskrieg. Auch auf Polen spielte er an. Kurz, der Wiener Diplomat war plötzlich in einen "Straßendemagog" (einer seiner Lieblingsausdrücke) metamorphosiert. Disraeli hatte ihn schlau berechnend in diesen Odenstil lanciert.

Aber gleich nach der Abstimmung erhob sich Sir James Graham, der Peelit. Solle er seinen Ohren trauen? Russell habe einen "neuen Krieg" gegen Rußland verkündet, einen Kreuzzug, einen Krieg auf Leben und Tod, einen Krieg der Nationalitäten. Die Sache sei zu ernsthaft, um die Debatte zu schließen. Man sei unklarer über die Absichten der Minister als je zuvor. Russell glaubte, nach der Abstimmung die Löwenhaut gewohnterweise abwerfen zu können. Er machte also keine Umstände. Graham habe ihn "mißverstanden". Er wolle nur "Sicherheit für die Türkei". Da seht ihr, rief Disraeli, ihr, die ihr das Ministerium von dem Vorwurf "zweideutiger Sprache" durch Verwerfung meiner Motion freigesprochen, ihr hört seine Aufrichtigkeit! Dieser Russell widerruft nach der Abstimmung die ganze Rede, die er vor der Abstimmung gehalten! Ich gratuliere euch zu eurer Abstimmung!

Das Haus vermochte dieser Demonstratio ad oculos <[diesem] klaren Beweis> nicht zu widerstehen; die Debatte wurde vertagt bis nach den Pfingstferien; der Sieg, den das Ministerium errungen, war in einem Moment wieder verlorengegangen. Die Komödie sollte aus nur zwei Akten bestehen und mit der Abstimmung enden. Es ist jetzt ein Nachspiel hinzugekommen, das ernsthafter zu werden droht als die Haupt- und Staatsaktionen. Die Ferien des Parlaments werden uns unterdes erlauben, die ersten zwei Akte näher zu analysieren. Unerhört in den Annalen des Parlaments bleibt es, daß nach der Abstimmung die Debatte erst ernsthaft wird. Parlamentarische Schlachten pflegten bisher zu enden mit der Abstimmung, wie Liebesromane mit der Heirat.