Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 253-256
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Disraelis Antrag


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 247 vom 31. Mai 1855]

<253> London, 28. Mai. Ein "reicher Speisezettel", wie der elegante Gladstone sagt, bot dem Unterhaus die Wahl zwischen Disraelis Motion und Barings Amendement zu Disraelis Motion, zwischen Sir W[illiam] Heathcotes Sousamendement zu Barings Amendement und Herrn Lowes Contre-Sousamendement gegen Disraeli, Baring und Sir W. Heathcote. Disraelis Motion enthält eine Zensur der Minister und eine Kriegsadresse an die Krone, die erste bestimmt, die zweite dehnbar, beide durch eine vor dem parlamentarischen Denkprozeß zugängliche Kopula miteinander verbunden. Die schwächliche Form, worin die Kriegsadresse gehüllt, war bald aufgeklärt. Disraeli hatte Meuterei im eigenen Heerlager zu befürchten. Ein Tory, der Marquis von Granby, sprach gegen, ein anderer, Lord Stanley, sprach für ihn, aber beide im Sinne des Friedens. Barings Amendement war ministeriell. Es unterdrückt das Tadelsvotum gegen das Kabinett und adoptiert den kriegerischen Teil der Motion mit Disraelis eigener Terminologie, nur vorherschickend, daß das Haus "mit Bedauern gesehen hat, daß die Wiener Konferenzen nicht zum Schlusse der Feindseligkeiten geführt haben". Er bläst kalt und warm aus einem Odem. Das "Bedauern" für die Friedenspartei, die "Fortführung des Kriegs" für die Kriegspartei, bestimmte Verpflichtung des Kabinetts gegen keine Partei - ein shell-trap <Falle> für Stimmen, schwarze und weiße, Text für die Flöte und Text für die Posaune. Heathcotes Sousamendement schließt Barings doppelzüngiges Amendement in rein idyllischer Wendung ab durch Zufügung der Worte: "daß das Haus immer noch den Wunsch warmhält" (cherishing ist ein durchaus gemütlicher Ausdruck), "daß die fortdauernden <254> Kommunikationen zu einem erfolgreichen Ende führen". Lowes Amendement erklärt umgekehrt die Friedensverhandlungen mit der Verwerfung des dritten Punktes durch Rußland abgefertigt und motiviert so die Kriegsadresse an die Krone. Man sieht: Das eklektische Amendement des Ministeriums hat beide Seiten, die es zu vertuschen und zu neutralisieren suchte, selbständig und friedlich gegenüberstehen. Fortdauer der Wiener Konferenzen! ruft Heathcote. Keine Wiener Konferenz! antwortet Löwe. Wiener Konferenz und Kriegführung! zischelt Baring. Wir werden die Themata dieses Terzetts heute über 8 Tage durchführen hören und kehren für jetzt zur Debatte über Disraelis Motion zurück, deren erster Abend nur drei Haupt- und Staatspersonen figurieren sah, Disraeli, Gladstone und Russell, der erste pointiert und drastisch, der zweite glatt und kasuistisch, der dritte platt und polternd.

Wir stimmen nicht in den Vorwurf ein, daß Disraeli über seiner persönlichen Wendung gegen Russell die "Sache selbst" aus den Augen verlor. Die Geheimnisse des russisch-englischen Krieges sind nicht auf dem Kriegstheater zu suchen, sondern in Downing Street. Russell, Minister des Auswärtigen zur Zeit der geheimen Mitteilungen des Petersburger Kabinetts, Russell, außerordentlicher Gesandter zur Zeit der letzten Wiener Konferenz, Russell, gleichzeitig Leader <Führer> des Hauses der Gemeinen, er ist die wandelnde Downing Street, er ist ihr enthülltes Geheimnis. Nicht, weil er die Seele des Ministeriums, sondern weil er dessen Maultrommel ist.

Gegen Ende 1854, erzählt Disraeli, stieß Russell in die Kriegsposaune und erklärte in vollem Parlament und unter den lauten cheers <Beifall> des Hauses:

"England könne seine Waffen nicht niederlegen, bis materielle Garantien erhalten seien, die Rußlands Macht zu Europa unschädlichen Verhältnissen zurückführten und so volle Sicherheit für die Zukunft gewährten."

Derselbe Mann war Mitglied eines Kabinetts, das das Wiener Protokoll vom 5. Dezember 1853 genehmigte, worin die französischen und englischen Bevollmächtigten stipulierten, der Krieg dürfe nicht zu einer Verminderung oder Veränderung der "materiellen Verhältnisse" des Russischen Reichs führen. Clarendon, von Lyndhurst über dieses Protokoll interpelliert, erklärte im Namen des Ministeriums:

"Es möchte der Wunsch Preußens und Österreichs sein, aber es sei weder der Wunsch Frankreichs noch Englands, daß eine Verkleinerung der russischen Macht in Europa bewirkt werde."

<255> Russell denunzierte dem Unterhause das Betragen des Kaisers Nikolaus als "falsch und fraudulent". Juli 1854 kündigte er vorlaut die Invasion der Krim an, er erklärte die Zerstörung Sewastopols für eine europäische Notwendigkeit. Er stürzte endlich Aberdeen, weil dieser in seiner Meinung den Krieg zu schwach führe. Soweit die Löwenhaut, nun der Löwe. Russell war Minister der auswärtigen Angelegenheiten während zwei oder drei Monaten im Jahre 1853, zur Zeit, als England die "geheime und vertrauliche Korrespondenz" von Petersburg erhielt, worin Nikolaus offen die Teilung der Türkei verlangt, hauptsächlich zu erreichen durch sein vorgeschütztes Protektorat über die christlichen Untertanen der Türkei, ein Protektorat, von dem Nesselrode in seiner letzten Depesche gesteht, daß es nie bestanden hat. Was tat Russell? Er richtete an den englischen Gesandten in Petersburg eine Depesche, worin es wörtlich heißt:

"Je mehr die türkische Regierung die Regeln unparteiischen Gesetzes und billiger Administration annimmt, desto weniger wird der Kaiser von Rußland es nötig finden, die ausnahmsweise Protektion, die er so schwierig und störend gefunden hat, auszuüben, obgleich sie ihm zweifelsohne durch Pflicht vorgeschrieben und durch Vertrag geheiligt ist."

So gesteht Russell von vornherein den Streitpunkt zu. Er erklärt das Protektorat nicht nur für legal, sondern für obligatorisch. Er leitet es her aus dem Vertrag von Kainardschi. Und was erklärt der "4. Punkt" des Wiener Kongresses? "Daß die irrige Auslegung des Vertrags von Kütschük-Kainardschi die Hauptursache des gegenwärtigen Krieges sei." Wenn wir Russell so vor dem Ausbruch des Kriegs als den Advokat von Rußlands Recht - jetzt selbst von Nesselrode aufgegeben - [sehen], erblicken wir ihn am Schlusse der ersten Periode des Kriegs, auf dem Wiener Kongreß, als den Vertreter von Rußlands Ehre. Sobald das wirkliche Geschäft begann, am 26. März, die Diskussion über den 3. Punkt, erhebt sich der russenfressende Russell und erklärt feierlichst:

"In den Augen Englands und seiner Alliierten seien die besten und einzig zulässigen Friedensbedingungen die, die am meisten in Harmonie mit der Ehre und Würde Rußlands, zugleich Europa sicherten etc."

Am 17. April schlugen die russischen Bevollmächtigten daher ab, die Initiative der Vorschläge über den 3. Punkt zu ergreifen, nach Russells Erklärung überzeugt, daß die Bedingungen, die die alliierten Bevollmächtigten anzubieten, mehr im russischen Geist gefaßt sein würden als die, die Rußland selbst aushecken könne. War aber die Einschränkung der russischen Seemacht "am meisten in Harmonie mit Rußlands Ehre"? Nesselrode in <256> seinem neuesten Zirkular hält daher fest an Russells Zugeständnis vom 26. März. Er zitiert Russell. Er interpelliert ihn, ob die Vorschläge vom 19. April "die besten und einzig zulässigen" seien? Russell erscheint als der Patron Rußlands an der Schwelle des Kriegs. Er erscheint als sein Patron am Schluß der ersten Kriegsperiode, am grünen Tisch in Graf Buols Palaste.

Soweit Disraeli gegen Russell. Er leitete dann sowohl die Unglücksfälle auf dem Kriegstheater als die Verstimmung im eigenen Land von der widersprechenden Aktion des Ministeriums ab, das in der Krim am Krieg und in Wien am Frieden arbeite, kriegerische Diplomatie mit diplomatisierendem Krieg verbindend.

"Ich leugne", rief er aus, "daß es zur Kriegführung genügt, Steuern zu erheben und Expeditionen auszurüsten. Ihr müßt den Geist des Volkes aufrechterhalten. Das könnt ihr nicht, wenn ihr beständig dem Lande einprägt, daß Frieden bezweckt wird, daß der ganze Punkt, um den sich die Kontroverse dreht, schließlich von einem vergleichungsweis kleinlichen Charakter ist. Man unterzieht sich großen Opfern, wenn man einem kolossalen Feind zu begegnen zu haben glaubt. Man unterzieht sich großen Opfern, wenn man glaubt, in einen Kampf verwickelt zu sein, wo es sich um des Landes Ruf, seine Existenz und seine Macht handelt. Aber wenn ihr die Einkommensteuer verdoppelt oder verdreifacht, wenn ihr Männer von ihren Heimstätten weg in den Kriegsdienst schleppt, wenn ihr die Herzen Englands verdüstert mit blutigen Unglücksfällen, wenn ihr alles das tut, so muß das Volk nicht hören, daß die Frage ist, ob Rußland 3 oder 8 Fregatten im Schwarzen Meere halten soll ... Um den Krieg wirksam zu führen, ist es nicht nur notwendig, den Geist des Landes, sondern auch den Geist fremder Mächte aufrechtzuerhalten. Seid versichert, daß, solang ihr an eine fremde Macht appelliert, als Vermittler zu handeln, diese Macht nie als euer Verbündeter handeln wird ... Lord Palmerston versichert, daß er keinen schmählichen Frieden schließen wird. Der edle Lord zeugt für sich selbst; aber wer zeugt für den edlen Lord? ... Ihr könnt euch euren Schwierigkeiten nicht entwinden durch die Wiener Konferenzen; ihr werdet Schwierigkeiten und Gefahren nur vermehren durch Diplomatie. Eure Position ist durchaus falsch; und ihr könnt nie einen Angriffskrieg mit Erfolg führen, ohne unterstützt zu sein von einem enthusiastischen Volke und von Alliierten, die von eurer Entschiedenheit überzeugt sind. Ich wünsche, daß das Haus diese Nacht durch seine Abstimmung diesem fehlerhaften doppelten System, einem System gleichzeitig des Kriegs und der Diplomatie ein Ende macht, daß es in offner, unzweideutiger Sprache die Zeit zu Negotiationen vorüber erklärt. Ich denke, niemand, der Nesselrodes Zirkular gelesen, kann das bezweifeln."