Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 270-273
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Parlamentarisches -
[Zur Frage Krieg oder Frieden]


"Neue Oder-Zeitung" Nr. 263 vom 9. Juni 1855]

<270> London, 6. Juni. Palmerston hat wieder seine alte Meisterschaft bewährt, die Diplomatie durch das Parlament und das Parlament durch die Diplomatie zu handhaben. Die Politik des Ministeriums sollte diskutiert werden auf Grundlage der Amendements von Baring, Heathcote und Lowe. Die Amendements ruhten sämtlich auf der Grundlage der Wiener Konferenz. Während der Pfingstwoche eskamotiert Palmerston die Wiener Konferenz weg, sich Österreich gegenüber auf die vergangene Parlamentsdebatte berufend, und dem wieder versammelten Parlament gegenüber eskamotiert er die Debatte weg, sich auf die vergangene Konferenz berufend, die nur noch in der Sage existiere. Mit der Wiener Konferenz fallen die auf ihrer Voraussetzung ruhenden Amendements, mit den Amendements fällt die Diskussion über die Politik des Ministeriums, mit dieser Diskussion die Notwendigkeit für das Ministerium, sich über Tendenz, Zweck und Gegenstand des "neuen" Kriegs zu erklären. Dieser Zweck, so versichert David Urquhart, alias David Bey, sei kein anderer, als die alliierten Truppen mit den Sommerkrankheiten der Krim vertraut zu machen, nachdem sie die Winterkrankheiten der Krim erprobt haben. Und wenn Urquhart nicht alles versteht, so versteht er seinen Palmerston. Nur täuscht er sich in der Macht der geheimen Absicht über die öffentliche Geschichte. Palmerston also erklärt dem wiederversammelten Parlament, es liege kein Gegenstand mehr zur Beratung vor, und das Haus könne nun nichts Besseres tun, als eine Kriegsadresse an die Krone richten, d.h. dem Ministerium ein Vertrauensvotum geben. Er scheitert einstweilen an dem Eigensinn der Parlamentler, die lange Reden über die Amendements einstudiert haben und ihre Ware an den Mann bringen wollen. Allein durch <271> die Auflösung der Konferenz hat er diesen Reden die Pointe abgebrochen, und der Horror vacui, die Langeweile, wird das Parlament zur Annahme seiner Adresse treiben. Um sich vor den Reden zu retten, wird es zur Adresse greifen.

Lowes Amendement hatte mit der veränderten Situation seinen Sinn verändert. Ursprünglich bedeutete es Abbruch der Wiener Konferenz. Jetzt bedeutet es Sanktion der Wiener Konferenz und der ministeriellen Diplomatie, sofern es die von Russell formulierte Verminderung der russischen Seemacht im Euxin <(eigentlich: Euxinus) altgriechische Bezeichnung für das Schwarze Meer> zum letzten Zweck, zum eigentlichen Gegenstand des Krieges erhebt. Stein des Anstoßes für die Friedenspartei, sofern es zu viel, für die Kriegspartei, sofern es zuwenig, ist es Stein des Anstoßes für das Ministerium, sofern es überhaupt einen Gegenstand, einen eingestandenen Gegenstand des Krieges verlangt. Daher das Phänomen, daß Friedensmänner und Tories nun für und das Ministerium gegen die Fortführung der Debatte über das Amendement Lowes waren; daher der Versuch Palmerstons, es über Bord zu werfen. Der Versuch mißlang. Er vertagte daher die Debatte bis Donnerstagabend. Ein Tag Zeit gewonnen. In der Zwischenzeit ist das Wiener Abschiedsprotokoll gedruckt. Es wird dem Hause vorgelegt. Ein neuer Inzidenzpunkt erhebt sich, und Palmerston kann hoffen, mit seinen dissolving views <Nebelbildern> den eigentlichen Gegenstand, um den es sich handelt, aus dem Auge der Debatte ru entrücken.

Die zweitägige parlamentarische Diskussion war so langweilig, schleppend, konfus, wie nur von Reden zu verlangen, deren Pointe im voraus abgebrochen.

Sie bot jedoch das charakteristische Schauspiel, daß, wenn vor dem Votum über Disraelis Resolution die Friedensmänner mit dem Ministerium, sie jetzt mit der Opposition, wir meinen die Opposition vom Fach, kokettierten. Sie zeigte ferner die Entente cordiale zwischen den Peeliten und der Manchesterschule. Die Peeliten schmeicheln sich offenbar, nach dem Frieden England zu beherrschen, an der Spitze der industriellen Bourgeoisie. So hätten die Peeliten nach langen Wanderungen endlich eine wirkliche Partei hinter sich und die Industriellen endlich professionelle Staatsmänner gefunden. Wenn die Friedensmänner so Gladstone, Graham und Komp. gewonnen, haben sie den "radikalen" Sir William Molesworth, einen mehr als zwanzigjährigen Freund, verloren. Molesworth muß in dem Hobbes, den er herausgegeben, gelesen haben, "daß der Verstand durch die Ohren kommt". Er appellierte darum nicht an den Verstand, sondern an die Ohren. Er tat, <272> was Hamlet dem Schauspieler zu tun verbietet. Er übertyrannisierte den Tyrannen, war mehr Russell als Russell selbst. Er hatte auch in seinem Hobbes gelesen, daß alle Menschen gleich sind, weil jeder dem andern das Leben nehmen kann. Da es ihm nun darum zu tun ist, sein ministerielles Leben zu fristen, sprach er im Sinne der Menschen, die es ihm nehmen können. Sonderbar blieb es, diese Rechenmaschine dithyrambisieren zu sehen. Das hatte selbst Babbage nicht geahnt in seiner "Philosophie der Maschinen". Milner Gibson, der Baronet aus der Umgegend von Manchester, war eintönig, einschläfernd, eingetrocknet und eintrocknend. Er hat von der benachbarten Metropole englischer Industrie offenbar gelernt, möglichst viel zu möglichst wenig Produktionskosten zu liefern. Er ist ein Mann, dessen ganze Erscheinung verrät, daß er sich langweilt. Warum sollte er seinen Nebenmenschen zu amüsieren suchen? Wie du mir, so ich dir! Außerdem rechnet er klärlich Geist, Witz, Leben zu den faux frais de production <Nebenkosten der Produktion>, und es ist das erste Gesetz der ökonomischen Schule, der er angehört, die "falschen Kosten" zu vermeiden. Bulwer schwebte zwischen der heroischen Stimmung seines "Königsmacher" und der kontemplativen seines "Eugene Aram". In der ersten warf er Rußland den Fehdehandschuh hin, und in der zweiten flocht er einen Myrtenkranz um das Haupt Metternichs.

Milner Gibson, Molesworth und Bulwer waren die Koryphäen des ersten, Cobden, Graham und Russell die des zweiten Abends. Cobdens Rede allein verdient eine Analyse, die Raum und Zeit in diesem Augenblicke nicht gestatten. Bemerken wir nur, daß er behauptet, Bonaparte sei bereit gewesen, die letzten österreichischen Vorschläge anzunehmen. Des verstorbenen Sir Robert Peels dirty boy <schmutziger Bube>, der sich in der letzten Zeit auf "sentiments" <"Gefühle">, "gebrochene Herzen", und "Wahrheitsliebe" verlegt hat, sprach eine Selbstapologie seines Nächsten, nämlich des Sir James Graham. Er hatte Napier verboten, im Baltischen Meere zu handeln, bis die Jahreszeit eingetreten, wo jede Aktion ruinierend für die englische Flotte ist. Er hatte Dundas verboten, Odessa zu bombardieren. Er hatte so die englische Flotte neutralisiert im Baltischen wie im Schwarzen Meere. Er rechtfertigt sich mit der Größe der Flotten, die er ausgerüstet. Die bloße Existenz dieser Flotten war der Beweis englischer Macht. Ihre Aktion war daher überflüssig. Napier hat vor einigen Tagen einen lakonischen Brief an einen Freund Urquharts gerichtet, den Urquhart im Statford-Meeting vorlas. Dieser Brief lautet wörtlich: "Mein Herr! Ich halte Sir J[ames] Graham jeder Niederträchtigkeit fähig. Ch[arles] Napier."

<273> Russell endlich übertraf sich selbst. Er erklärte im Beginn seiner Rede, die große Frage, die vorliege, sei folgende:

"Wenn wir Frieden schließen wollen, welche Friedensbedingungen können wir erhalten? Wenn wir den Krieg fortsetzen wollen, für welche Zwecke setzen wir ihn fort?"

Was die erste Frage betreffe, so finde man seine Antwort in den Wiener Protokollen. Was die zweite betreffe, den Gegenstand des Krieges, so müsse seine Antwort eine sehr allgemeine sein, nämlich gar keine. Wenn man die Phrase "Sicherheit für die Türkei" als eine Antwort nehmen wolle, so habe er nichts dagegen. Eine Interpretation dieser "Sicherheit" war gegeben in der Wiener Note; eine andere in den vier Punkten, eine dritte zu finden sei die Sache nicht Russells, sondern des Krieges. Es war Napoleons Prinzip, daß der Krieg seine Kosten selbst decken, es ist Russells Prinzip, daß der Krieg seinen Gegenstand selbst finden muß.