Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 318-321
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Der Unfall des 18. Juni -
Verstärkungen


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 291 vom 26. Juni 1855]

<318> London, 23. Juni. Der 18. Juni, der Jahrestag der Schlacht von Waterloo, wurde diesmal natürlich nicht in London gefeiert. Er sollte in der Krim gefeiert werden durch einen Sieg, nicht gegen die Franzosen, sondern mit den Franzosen. Das Ereignis schien um so pikanter, als Raglan, Wellingtons Famulus, mehr oder minder unter den Ordres eines Generals Napoleons III. kommandierte. Die Inschrift war fertig; nur ließ das Ereignis in Stich, das sie verewigen sollte. Man wird in der Geschichte des restaurierten Kaisertums die fatalistische Vorliebe nicht verkennen, womit die großen Daten des Empire ins Leben zurückgerufen werden, Erfolg bejahend, Mißgeschick verneinend durch eine zweite verbesserte Auflage. Diese glorreiche Resurrektion napoleonischer Data, bisher glücklich in den Schlägen gegen die Republik scheitert in den Schlägen gegen den auswärtigen Feind. Und das Empire ohne die Siege des Empire erinnert an die Bearbeitung des Shakespeareschen Hamlet, worin nicht nur die Melancholie des dänischen Prinzen fehlt, sondern der dänische Prinz selbst. Am 2. Dezember 1854 war eine große Waffentat in der Krim von Paris aus bestellt. Sie wurde zu Wasser durch Überfluß an Regen und Mangel an Munition. Am 18. Juni 1855 sollte die Schlacht in verbesserter Ausgabe und mit umgekehrter Pointe vor Sewastopol aufgeführt werden. Statt dessen ereignet sich die erste ernsthafte Niederlage der französisch-englischen Armee.

London ist düster; die Fonds sind gefallen, und Palmerston hat in einem Tage wieder eingebüßt, was er durch feinste Taktik in Monaten gesichert hatte. Die Niederlagen ereigneten sich am 18. Juni; die telegraphische Nachricht verkündet sie erst am 22. Vergangenen Donnerstag zeigt der offizielle "Globe" auf Palmerstons Geheiß an: "es habe sich nichts Ernsthaftes ereignet". In der Nachtsitzung des Unterhauses vom selben Datum wiederholt <319> Palmerston feierlich dieselbe Versicherung. Und nun ist konstatiert, daß er die telegraphische Depesche schon 4 Uhr nachmittags, Mittwoch, den 20. Juni, erhalten hatte. Der "Leader" behauptet, es sei dies auf dringendes Verlangen von Paris aus geschehn, wo man das Mißgeschick im Feld in Geschick auf der Börse verkehrt habe. Wie dem auch sei, der Cockney <Spottname für Londoner> grollt Palmerston ernsthaft. Geschlagen zu werden ist schlimm genug. Aber im Drury-Lane- und Coventgarden-Theater durch die Hinterlist der Minister sich zu lächerlichen Sewastopol-Einnahme-Ovationen hinreißen zu lassen - this is too bad, Sir! <das ist zu arg, mein Herr!>

Wir hatten unsere Leser hinreichend darauf vorbereitet, daß Pélissiers verstocktes Festhalten am Sturm auf die Südseite den alliierten Armeen Unheil ankünde. Wir machten zugleich bei seiner Übernahme des Kommandos auf den mildernden Umstand aufmerksam, daß Mangel an Transportmitteln ihm große Schwierigkeiten für Operationen im freien Feld auftürme. Beides ist jetzt durch die englische Presse bestätigt. So sagt z.B. der "Morning Herald" von heute:

"Die Armee kann nicht ins freie Feld rücken, wie sie allen Regeln der Strategie gemäß tun müßte, um die Hilfsarmee bei Simferopol zu schlagen. Sie kann nicht, weil die obrigkeitlichen Totengräber, Nachlässigkeit und Aufschub, wieder an ihrem mörderischen Werk waren und von 28.000 Stück Zugvieh, deren wir bedürfen, nur 4.000 bis 5.000 zu unserer Verfügung stehen; und all dies, während Krankheit wieder durch ein Lager schleicht, das jedes Reizmittel für Fieber, Cholera und Pest in sich birgt. Dies Unvermögen der Fortbewegung, ähnlich wie zu Varna und im Tal des Todes, ist die Ursache, warum Tag auf Tag unsere Generale gezwungen sind, das Leben unserer Truppen in verzweifelten Angriffen auf fast uneinnehmbare Erdwerke zu verwüsten, während die hochherzige Armee, die das Feld ergreifen sollte, müßig an der Tschornaja liegt, ohne Kavallerie oder Transportmittel."

Mit welcher raffinierten Nachlässigkeit das Kabinett von Anfang des Kriegs die ihm zur Verfügung gestellten Mittel handhabte, ist von neuem durch eben veröffentlichte Finanzberichte bewiesen. Nach diesem offiziellen Bericht betrug der Kassenbestand der für die Armee bewilligten Gelder am 1. Januar 1854: 1.835.882 Pfd.St. und die für die Armee am 1. April 1854 verausgabte Summe nur 2.270.000 Pfd.St., so daß weniger als 3/4 der vom Parlament votierten Summe für Aushebung von Truppen verwandt wurde. Und woran ging die Armee, dem Bericht des Roebuck-Komitees gemäß, zugrunde? An Überarbeit. Und woher die Überarbeit? Aus numerischer Schwäche. Die numerische Schwäche aber, wie der Finanzbericht zeigt, war <320> das Resultat einer Kabinettsintrige. Und Prinz Albert klagt, daß die Königin keine Truppen zur Verfügung habe! Und daß dem Kabinett die Hände gebunden seien! Wie dasselbe Kabinett, das, während es über Mangel an Transportmitteln klagte, Transportschiffe nach Portsmouth sendet über Newcastle-on-Tyne, um dort Kohlen einzunehmen, oder von dem Clyde nach Liverpool und von Deptford nach Woolwich, um vom Surveyor <Kontolleur der ankommenden und abgehenden Schiffe> inspiziert zu werden, hat sich in der Layard-Debatte herausgestellt.

Die Unfälle des 18. Juni haben sofortige Verstärkung nötig gemacht. Demgemäß sind gestern Befehle erteilt worden, unmittelbar einzuschiffen: das 15. Infanterieregiment, neulich von Ceylon zurückgekehrt; das 51. leichte Infanterieregiment des Königs, das 80. und 94. Infanterieregiment, alle Indiendetachierungen von den verschiedenen Depotkompanien und 1.200 Mann Kavallerie sollen sofort nach dem Kriegsschauplatz abgehen. Telegraphische Ordres sind nach Marseille abgegangen, um von dort Extradampfschiffe an die Gouverneure von Malta und Gibraltar und den Lord High Commissioner <Lord Oberkommissar> der Ionischen Inseln zu senden, mit dem Auftrage, alle dienstfähige Mannschaft nicht nur der Garnisonen, sondern auch der Reserve der Household-Brigade und alle zu entbehrenden Reservebataillons vor dem Eintreffen der Ablösungsregimenter und -miliz zu verschiffen. Es werden sofort absegeln: das leichte 13. Infanterieregiment von Gibraltar, das 31. Infanterieregiment von den Ionischen Inseln, das 48. von Korfu, das 54. von Gibraltar, das 66. von Gibraltar, das 92. Hochschottenregiment von Gibraltar. Die britische Streitkraft in der Krim wird so um mehr als 13.000 Mann vermehrt werden. Dazu kommen 4 Feldbatterien, eine Schar von reitender Artillerie und eine Verstärkung des Belagerungstrains, die alle bereit sind und nur auf Transportschiffe harren. England befindet sich übrigens in derselben Situation wie 1854. Keine Reservearmee. Und noch schlimmer. 1854, wie der Roebuck-Bericht gesteht, verhinderte und verzögerte Palmerston die Bildung der Miliz; aber 1855 ist es ihm gelungen, die schon gebildete Miliz so gut wie aufzulösen. Die Verstärkungen, wie man aus obiger Aufzählung sieht, absorbieren nicht nur das Gros der Armee; sie verschlingen die Depotbataillons und lösen die Cadres auf. England gleicht so dem Montesquieuschen Wilden, der den Baum fällt, um seiner Früchte habhaft zu werden. Das ökonomische Land par excellence verausgabt sein militärisches Kapital statt der Zinsen. Es ist dies Resultat der manoeuvres des Kabinetts, in das Prinz Albert unbedingtes Vertrauen erheischt! Nichts falscher als die Vorstellung des Kontinents, daß England zu menschenarm, um Armeen zu stellen. 1815, nach <321> 22jährigem Kriege, hatte England auf den Beinen mehr als 350.000 Mann! Aber das Kabinett vernachlässigt absichtlich beide Mittel, Erhöhung des Prämiums für die stehende Armee, Kugelung für die Miliz! Was anders erwarten von dem Premier, dem die Fürstin Lieven 1827 seine Schulden bezahlt und den sie 1830 zum Minister des Auswärtigen ernennt, der Rußland durch den Vertrag von Hunkiar-Iskelessi eine achtjährige Diktatur über die Türkei verschafft und 8 Tage, bevor der Vertrag von Hunkiar-Iskelessi ablief, ihn erneuerte im Dardanellenvertrag?

Roebuck zeigte gestern im Unterhaus an, er werde den 3. Juli (Dienstag über 8 Tage) folgenden Antrag stellen:

"Daß dieses Haus, tief beklagend die Leiden der Armee in der Krim während des Winterfeldzugs und übereinstimmend mit dem Bericht seines Komitees, daß das Betragen der Regierung die erste und Hauptursache der Unglücksfälle war, die diese Armee heimsuchten, hiermit seinen strengen Tadel verhängt über jedes Glied dieses Kabinetts, dessen Ratschläge zu so unheilvollen Resultaten führten."

Roebucks Antrag schließt also absichtlich ein: Palmerston, Russell, Clarendon, Granville und Lansdowne, zugleich Mitglieder des jetzigen und des letzten Kabinetts. Der kleine giftige, Thersites-ähnliche, aber geriebene und in parlamentarischer Taktik vollendete Advokat sah sich zu diesem Antrage gezwungen, weil seine Wähler von Sheffield drohten, ihn, der am Dienstag Palmerston denunzierte und am Donnerstag sein Vertrauen in denselben Palmerston stimmte, in einem öffentlichen Meeting mit einem Mißtrauensvotum heimzusuchen. Prinz Alberts unglückliche Einmischung zwischen Kabinett und Parlament, seine Provokation der parlamentarischen Machtvollkommenheit war ein andres Motiv für diesen Antrag, der die Königin "ihrer konfidentiellen Diener" wieder zu berauben droht.

Über die letzten Taten und Schicksale der Administrativen wie über die Pfaffenumtriebe das nächste Mal.