Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 348-350
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Über den Sturm vom 18. [Juni]


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 317 vom 11. Juli 1855]

<348> London, 7. Juli. Wir haben gestern den Originalplan der Alliierten für den Sturm vom 18. Juni auseinandergesetzt. Sehr spät am Abend des 17. erfuhr Pélissier, daß die Russen einen großen neuen Angriff auf den Mamelon für den nächsten Tag beabsichtigten. Dies hätte er als einen wahren Glücksschlag betrachten müssen; denn die Verteidigung des Mamelon gegen jede Streitkraft, die die Russen darauf werfen konnten, mußte über jeden Zweifel erhaben sein. Wie hätte sonst der Mamelon (jetzt Brancion-Redoute getauft) als Operationsbasis für den Sturm auf Malachow dienen können? So würden die Russen, unterlegen in ihrem Angriff auf den Mamelon, sich in der fatalen Läge befunden haben, eine zweite Schlacht für Malachow zu schlagen, und unter diesen Umständen scheint der Erfolg der Operationen gegen die letzte Position so gut wie sicher gewesen zu sein. Pélissier aber verstand es anders. Er widerrief, spät in der Nacht, die Kanonade und verordnete den Sturm für 3 Uhr morgens. Das Signal sollte durch drei Raketen gegeben werden. Die Engländer wurden ebenfalls unterrichtet von diesem Wechsel in der Disposition.

Dies Verfahren endete, wie es enden mußte, in der Art, wie Napoleon, der echte Napoleon, das Schicksal schwankender und stümpernder Generale beschreibt: "Ordre, Contreordre, Desordre". Eine halbe Stunde vor der anberaumten Zeit wurde die äußerste rechte französische Kolonne mit dem Feind engagiert. Ob die Russen sie herauslockten durch einen Scheinausfall oder ob, wie Pélissier sagt, der General eine französische Bombe für die Signalraketen ansah, ist nicht ganz klar. Jedenfalls war Pélissier gezwungen, sein Signal zu überstürzen, und die Kolonnen, noch damit beschäftigt. die ihnen angewiesenen Plätze in den Laufgräben zu suchen, hatten sich in halber Ver- <349> wirrung, und zum Teil von andern Angriffspunkten als den angewiesenen, in Bewegung zu setzen. Die mittlere französische Kolonne, bestimmt, die Flanke des Malachow zu umgehen, erreichte ihr Ziel und drang in die russischen Werke; aber die zwei andern Kolonnen konnten keine Bahn brechen in dem Hagel von Kartätschen- und Musketenfeuer, das sie empfing. Jede Kolonne bestand in einer Brigade von vier Bataillons; die zweite Brigade jeder Division befand sich in zweiter Linie, während die Garde die allgemeine Reserve bildete. So waren ungefähr vier Divisionen oder 20.000 Mann disponibel. Die zweite Linie wurde vorgesandt zur Unterstützung der ersten Attacke, aber vergeblich; die Garde wurde endlich vorwärts kommandiert, aufgehalten und schließlich auch zurückgeworfen. Nur 2 Bataillons blieben disponibel. Es war halb 9 geworden. Die Brigade der mittleren Kolonne, die in die russischen Werke eingedrungen war, wurde herausgeworfen; auf jedem Punkte waren die Franzosen mit großem Verlust zurückgetrieben, und frische Truppen waren nicht zur Hand. Die Engländer waren ebensowenig erfolgreich. Pélissier gab Befehl zur Retirade, die, wie er sagt, "mit Würde" bewerkstelligt ward.

Auf der englischen Seite zählten die leitenden Kolonnen jede nur 1.800 Mann, 1.000 Mann weniger als die französischen. Von diesen 1.800 waren 1.000 zum Kämpfen bestimmt, 800 zur Ausführung der nötigen Arbeiten. In zweiter Linie hinter jeder Kolonne stand der Rest der Brigade, der sie entlehnt war, 1.200-1.400 Mann. In dritter Linie die zweite Brigade jeder Division hinter ihrer ersten Brigade. Schließlich bildeten die Garden und Hochschotten (erste Division) die allgemeine Reserve. So waren von der ganzen auf dem Platze versammelten englischen Infanterie nur 7.200 Mann im ersten Ausfall vorwärts zu lancieren, und von diesen sollten nur 4.000 Mann wirklich am Kampf teilnehmen. Diese Dünne in den ersten Kolonnen war verursacht teils durch die Traditionen des britischen Dienstes, teils durch ihre Gewohnheit, in Linie anzugreifen. Alle Berichte lassen schließen, daß sie selbst bei dieser Gelegenheit in Linie angegriffen und so eine nutzlos ausgedehnte Zielscheibe den feindlichen Kugeln darboten. Die Verwickelung, verursacht durch die Aufstellung vier verschiedener Linien, eine hinter der andern, in engen und unregelmäßigen Laufgräben, schuf große Unordnung und Unheil vom Beginn und mußte äußerste Verwirrung hervorrufen, wäre der Kampf irgendwie ernsthaft geworden. Die erste und dritte Kolonne (von der Rechten zur Linken) sollten die Flanken des Redan umgehen, während die zweite seinen hervorspringenden Winkel angreifen sollte, sobald sie ihren Zweck erreicht hätten. Die vierte oder äußerst linke Kolonne sollte den Kopf des innern Hafens angreifen.

<350> Sobald das Signal gegeben wurde, waren die Kolonnen, gerade wie die französischen, noch in Bewegung nach ihren respektiven Positionen. Die erste Kolonne jedoch übersprang die Brustwehr der Laufgräben und wurde sofort von einem mörderischen Kartätschenfeuer begrüßt. Die Truppen, durch das Klettern in Unordnung gebracht, konnten sich nicht formieren. Oberst Yea, ihr Kommandant, schrie bereits nach einem Trompeter, um den Rückmarsch blasen zu lassen; kein Trompeter war zu finden, und voran stürmten sie in großer Unordnung. Einige drangen vor in die Abattis, die den Redan umgeben, aber umsonst. Die Masse der Kolonne fiel plötzlich zurück und suchte den Schutz der Laufgräben. Die dritte Kolonne avancierte eine oder zwei Minuten später. Sie verfehlte ihren Weg und stürmte auf die Fassade des Redan statt auf die Flanke. Sie taumelte vorwärts unter einem furchtbaren Hagel von Projektilen, wurde gebrochen und retirierte in völliger Auflösung nach einigen wenigen Minuten. So endete die Attacke auf den Redan, bevor irgendeine der komplizierten Reserven Lord Raglans Zeit fand, zu ihrer Unterstützung herbeizukommen. Die zweite Kolonne war so überrumpelt von diesem plötzlichen Zusammenbruch ihrer Flankenunterstützungen, daß sie nicht einmal ihre Laufgräben verließ. Der vierten Kolonne allein gelang es, sich in dem Kirchhofe und den umgebenden Häusern festzusetzen. Hier hielten ungefähr 1.800 Mann während des ganzen Tages aus; sie konnten nicht retirieren, denn der Grund hinter ihnen war offen und unter dem Kreuzfeuer der Russen. So kämpften sie so gut sie konnten bis 9 Uhr abends, als sie ihren Rückweg im Dunkeln bewerkstelligten. Ihr Verlust betrug mehr als ein Drittel ihrer Anzahl. So endete Pélissiers große Attacke auf die Karabelnaja-Vorstadt. Es war ein Unternehmen, hastig beschlossen, hastiger verändert in seinen Hauptzügen kurz vor dem entscheidenden Augenblicke, und mit außerordentlicher Stümperhaftigkeit ausgeführt. Jener russische Offizier hatte recht, der einen englischen Offizier während des Waffenstillstands vom 19. fragte: "Waren eure Generale gestern betrunken, als sie den Sturm kommandierten?"