Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 368-372
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Perspektiven des Krieges

Geschrieben um den 20. Juli 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4459 vom 4. August 1855, Leitartikel]

<368> Nach unseren letzten Meldungen war ein Stillstand in den Kriegsoperationen auf der Krim eingetreten. Keine Sturmversuche mehr; die Kanonen sind beinahe verstummt, und würde nicht das Büchsenfeuer beständig zwischen den zwei Verschanzungslinien gewechselt, schöben die Alliierten ihre Position durch Minieren und Sappen nicht auf den Malachowhügel vor und machten die Russen nicht gelegentliche Ausfälle, so könnte man die Feindseligkeiten für suspendiert halten. Es ist dies die Stille, die dem Sturm vorhergeht. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat sich bereits bei Sewastopol eine Schlacht abgespielt, wilder als bei Inkerman, dem Grünen Mamelon oder dem Sturme vom 18. Juni.

Der Monat August muß zu einem gewissen Punkt den Ausgang der Kampagne entscheiden. Um diese Zeit wird der größte Teil, wenn nicht die gesamten russischen Verstärkungen, angelangt sein, während die Reihen der Alliierten durch Krankheit gelichtet sein müssen. Behaupten sie sich auf dem Plateau des Chersones, so wird das schon viel sein. Die Einnahme der Südseite von Sewastopol für dieses Jahr ist eine Vorstellung, die jetzt selbst von der englischen Presse aufgegeben wurde. Ihnen ist nur die Hoffnung geblieben, die Stadt Stück für Stück niederzuwerfen, und wenn sie es durchsetzen, mit derselben Eile vorzugehen wie bisher, wird die Belagerung in ihrer Dauer die von Troja erreichen. Es ist durchaus kein Grund für den Glauben vorhanden, daß sie ihr Werk in beschleunigter Geschwindigkeit vollbringen werden, denn wir sind jetzt so gut wie offiziell unterrichtet, daß das bisher befolgte fehlerhafte System hartnäckig fortgesetzt werden soll. Der Krim-Korrespondent des Pariser "Constitutionnel", ein Mann von hohem Rang in der französischen Armee - man glaubt, daß es General Regnault de <369> Saint-Jean-d'Angely, Kommandant der Garden ist -, hat klar ausgesprochen, das Publikum könne sich die Mühe sparen, sich in Spekulationen über eine Kampagne im freien Feld und die eventuelle Einschließung der Nordseite von Sewastopol zu ergehen. Unter den gegenwärtigen Umständen, sagt er, könne das nicht geschehen ohne Aufhebung der Belagerung und ohne Überlassung des ganzen Plateaus an die Russen. Es sei daher entschieden worden, so hart als möglich auf die einmal angegriffene Position loszuhämmern, bis zu ihrer völligen Zerstörung. Nun, auf die Ankündigungen dieses Briefes kann man sich stützen, da jeder Grund vorhanden ist, zu glauben, nicht nur, daß der französische Kaiser sie billigt, sondern selbst, daß er jeden Bericht aus dieser Quelle vor dem Drucke revidiert. Dabei ist Regnault einer seiner speziellen Günstlinge.

Was die Folge von alledem sein muß, ist leicht vorherzusagen. Die russische Armee in und um Sewastopol besteht jetzt aus dem 3. und 4. Korps, aus zwei Divisionen des 5. und einer Division des 6. Korps, außer Seesoldaten, Matrosen, lokalen Truppen, Kosaken und Kavallerie, die eine bewaffnete Streitmacht von 180 Bataillonen bilden oder von 90.000 Mann Infanterie und 30.000 Mann Artillerie und Kavallerie, nebst etwa 40.000 Kranken und Verwundeten. Selbst der französische "Moniteur" schätzt ihre Effektivkraft unter Waffen auf 110.000 Mann. Nun befinden sich das ganze 2. Korps (50 Bataillone, 32 Schwadronen, 96 Kanonen) und zwei Grenadierdivisionen mit einer Division Kavallerie (24 Bataillone, 32 Schwadronen, 72 Kanonen) auf dem Marsch oder schon in der Nähe Sewastopols. Sie repräsentieren eine additionelle Streitkraft von 55.000 Mann Infanterie, 10.000 Mann Kavallerie und Kosaken und 5.000 Mann Artillerie. Die Russen werden so bald eine Streitmacht von mindestens 175.000 Mann konzentriert haben, oder beträchtlich mehr, als den Alliierten übrigbleiben kann nach ihren jüngsten Verlusten durch Kämpfe und Seuchen. Daß die Russen so fähig sein werden, wenigstens ihr bisheriges Terrain zu behaupten, ist sicher das mindeste, was man von ihnen erwarten kann, besonders da sie beständig die durch Anstrengungen erschöpften Truppen der Garnison durch frische ablösen können.

Die Alliierten auf der anderen Seite haben keine Chance, ähnliche Verstärkungen zu erhalten. Sie zählen jetzt 21 Divisionen Infanterie (12 französische, 4 englische, 3 türkische und 2 piemontesische) oder ungefähr 190 Bataillone, 3 Divisionen Kavallerie (1 französische, 1 englische und 1 türkische) oder ungefähr 60 Schwadronen und eine entsprechende Zahl von Kanonen. Da aber ihre Bataillone und besonders ihre Schwadronen sehr stark gelichtet sind durch die Verluste der Kampagne, wird ihre Gesamt- <370> kraft nicht 110.000 Mann Infanterie, 7.500 Mann Kavallerie und 20.000 bis 25.000 <In der "Neuen Oder-Zeitung" werden die Zahlen 30.000-35.000 angegeben ( siehe vorl. Band, S. 375)> Mann Artillerie, Train und Dienstunfähige überschreiten. Wenn die Kräfte der beiden kämpfenden Parteien jetzt, vor der Ankunft der russischen Verstärkungen, sich so nahe das Gleichgewicht halten, muß die Waage sich offenbar gegen die Alliierten neigen, sobald jene anlangen. Alle eingetroffenen Verstärkungen der Alliierten und die jetzt nachgeschickt werden, sind bloß Detachements von den Depots, um die engagierten Bataillone und Schwadronen aufzufüllen, und sind nicht sehr stark, wenn wir den Behauptungen der Presse Glauben schenken. Jedoch sollen drei Divisionen nach Marseille und Toulon marschieren, wo sich Dampfboote konzentrieren, während in England die für die Krim bestimmten Regimenter den Befehl erhalten haben, sich für die unmittelbare Verschiffung bereitzuhalten. Sie werden ungefähr eine Division Infanterie und eine Division Kavallerie zählen. So mögen während der Monate August und September nach und nach ungefähr 33.000 Mann Infanterie mit vielleicht 2.500 Mann Kavallerie und Artillerie auf der Krim anlangen; aber dies alles hängt sehr stark davon ab, wie schnell ihr Abtransport erfolgt. Auf jeden Fall werden die Alliierten wieder einmal zahlenmäßig unterlegen sein und können wieder auf dem Plateau eingezwängt werden, wo sie den letzten traurigen Winter verbrachten. Ob es den Russen diesmal gelingen wird, sie aus diesem festen Schlupfwinkel zu vertreiben, wagen wir nicht zu entscheiden. Aber ihr eigenes Terrain zu halten, ist offenbar alles, was die Alliierten erwarten können, außer wenn sie Verstärkungen in einem wirklich gigantischen Ausmaße erhielten. Somit verspricht der Krieg reduziert zu werden auf eine Reihe von ergebnislosen blutigen Treffen, in denen jede Seite Tag für Tag frische Truppenteile ausschicken wird, um dem Feind im Handgemenge zu begegnen, sei es auf den Wällen der Stadt, den Brustwehren der Laufgräben oder den eskarpierten Anhöhen um Inkerman und Balaklawa. Es kann keine Lage feindlicher Armeen ersonnen werden, wo größerer Blutverlust zu unwichtigeren Resultaten führt, als von solchen Kämpfen zu erwarten ist.

Es gibt jedoch eine Chance, daß etwas Entscheidendes eintritt. Wenn es die Russen fertigbringen könnten, außer den schon herangebrachten Truppen noch weitere 50.000 Mann heranzubringen, um so ihrer Armee ein unumstößliches Übergewicht zu sichern, könnten sie den Alliierten ernste Niederlagen beibringen und sie so zwingen, sich wieder einzuschiffen. Um diese Möglichkeit zu beurteilen, müssen wir die Kräfte betrachten, die die <371> Russen an ihrer ganzen ausgedehnten Grenze unter Waffen halten. Die Krimarmee, einschließlich der obenerwähnten Verstärkungen, berechneten wir mit ungefähr 175.000 Mann. Im Kaukasus, wo außer den lokalen Truppenteilen und den Kosaken die 16. und 17. Division engagiert sind, mögen sie etwa 60.000 Mann haben. In Bessarabien haben sie, wie gesagt wird, 60.000 Mann unter dem Befehl von Lüders; man kann annehmen, daß diese Truppen hauptsächlich aus kombinierten Bataillonen und Reserven bestehen, da sich nur eine Division Infanterie des 5. Korps dort befindet und niemals etwas mitgeteilt worden ist, daß Truppen des 1. oder 2. Korps dorthin marschiert wären. In Polen und Wolhynien würden zwei Gardedivisionen, eine Grenadierdivision, zwei Divisionen des 1. Armeekorps und verschiedene Reserven verbleiben - zusammen ungefähr 160.000 Mann. Der größere Teil der Reserven und ein Teil der Garde sind an der Ostsee in folgender Weise konzentriert: 50.000 Mann unter Sievers in den deutschen baltischen Provinzen, 30.000 Mann unter Berg in Finnland und 50.000 Mann unter Rüdiger als Reservearmee in und um St. Petersburg; alles zusammen ungefähr 585.000 Mann. Der Rest der russischen Streitkräfte, ungefähr 65.000 Mann, befindet sich im Innern des Landes; somit würde die gesamte bewaffnete Streitkraft 650.000 Mann ausmachen. Berücksichtigt man die in Rußland durchgeführten gewaltigen Aushebungen, so erscheint diese Zahl keineswegs übertrieben.

Nun, es ist klar, daß zu dieser vorgeschrittenen Jahreszeit die Russen keine ernsthafte Gefahr einer Landung an der Ostseeküste zu befürchten haben und daß eine allgemeine Verschiebung der hier befindlichen verschiedenen Abteilungen nach dem Süden erfolgen könnte, um so - sagen wir - 30.000 Mann freizubekommen, die durch Opoltschenzen oder andere Truppen aus dem Innern des Landes ersetzt werden. Diese 30.000 Mann würden, wenn sie nach Polen gingen, in diesem Lande eine gleiche Anzahl Truppen freisetzen, und wenn die Österreicher ihre Armee an der Grenze auf die harmlose Stärke von 70.000 oder 80.000 reduziert haben werden, was in der nächsten Zukunft geschehen soll, könnten weitere 30.000-40.000 Mann von der polnischen Armee eingespart werden. So könnten die Truppen für eine solche Verstärkung gefunden werden, die jede Möglichkeit ausschließen würde, daß die Alliierten jemals die Krim allein beherrschen, und diese Verstärkung könnte gegen Mitte Oktober auf den Kriegsschauplatz gebracht werden. Doch taucht die Frage auf, ob es der Regierung möglich sein wird, eine so große Truppenzahl während des Winters zu verpflegen, besonders jetzt, da das Asowsche Meer von russischen Schiffen geräumt worden ist. Was das anbetrifft, haben wir keine ausreichenden Daten, um eine Meinung <372> auszusprechen; aber wenn das getan werden kann und man griffe zu dieser Maßnahme, könnten die Alliierten genausogut die den Hafen von Balaklawa umgebenden Felsen beschießen als die Wälle von Sewastopol, die direkt und indirekt von einer Streitkraft von 250.000 Mann verteidigt werden.

Bisher haben 300.000 Österreicher Rußland an der Flanke seiner Verbindungslinie mit der Krim in Schach gehalten. Laßt Rußland einmal diese Fessel loswerden, und die Alliierten werden bald gewahr werden, mit welch einer Macht sie es zu tun haben. Sie haben zugelassen, daß die Zeit verstrich, als sie, indirekt von Österreich unterstützt, Sewastopol hätten erobern können. Jetzt, da Rußland von dieser Seite sicher zu sein beginnt und es nur mit den Alliierten zu tun hat, ist es zu spät.