Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 482-484
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Kommentar zu den Parlamentsverhandlungen


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 371 vom 11. August 1855]

<482> London, 8. August. Die Debatte über Indien im gestrigen Unterhause, veranlaßt durch Vernon Smiths (gegenwärtig Großmogul und Manu in einer Person) Finanzbericht über das britische Reich in Asien und durch Brights Antrag, diesen wichtigen Gegenstand künftig zu einer "debattierbaren" Zeit den Gemeinen vorzuführen - diese Debatte schieben wir einstweilen beiseite, da wir während der Parlamentsvertagung eine ausführliche Skizze ostindischer Verhältnisse zu geben gedenken.

Den bevorstehenden Schluß der Parlamentssitzung dürfte Lord John Russell nicht herannahen lassen, ohne einen Versuch, aus seiner mißlichen Situation politisches Kapital zu schlagen. Er ist nicht mehr im Ministerium, er ist noch nicht in der Opposition - dies die mißliche Situation. In der Tory-Opposition ist die Führerstelle besetzt, und Russell hat auf dieser Seite nichts zu finden. In der liberalen Opposition drängt sich Gladstone an die Spitze. Gladstone in seiner letzten von seinem Standpunkte aus musterhaften Rede - bei Gelegenheit der türkischen Anleihe - plädierte geschickt den Frieden mit Rußland, indem er den Krieg nachwies als einen Krieg auf Kosten der Türkei und der ringenden Nationalitäten, besonders Italiens. Russell ahnt furchtbare Mißgeschicke während der Vertagung und darin Friedensgeschrei bei der Wiederversammlung des Parlaments. Er ahnt, daß der Friede auf liberale Vorwände hin erschrien werden muß, um so mehr, als die Tories sich in die Stellung der Kriegspartei par excellence verrannt haben. Italien - Vorwand zum Friedensschluß mit Rußland! Russell beneidet Gladstone um diesen Einfall, und da er ihn in dieser plausiblen Position nicht antizipieren kann, beschließt er, ihn zu absorbieren, indem er Gladstones Rede aus dem hohen Stil in den platten übersetzt. Der Umstand, daß er nicht mehr, wie Palmerston, im Ministerium und noch nicht, wie Gladstone, in der Opposition ist, <483> verspricht das Plagiat gewinnbringend zu machen. Russell erhob sich daher gestern abend und begann mit der Versicherung: "er wolle die Verantwortlichkeit des Ministeriums weder vermindern noch erschweren". Groß aber sei diese Verantwortlichkeit. Dieses Jahr allein seien 45.000.000 Pfd.St. für den Krieg votiert worden, und die Zeit der Rechenschaftsablegung über diese enorme Summe nahe heran. In der Ostsee habe die Flotte nichts getan und werde wahrscheinlich noch weniger tun. In dem Schwarzen Meer seien die Aussichten nicht versprechender. Österreichs veränderte Politik gestatte Rußland, seine Heere von Polen usw. nach der Krim zu wälzen. Auf der asiatischen Küste ständen der türkischen Armee Katastrophen bevor. Die Aussicht, eine Fremdenlegion von 20.000-30.000 Mann dahin zum Ersatz zu senden, sei verschwunden. Er bedaure, daß seine Wiener Depeschen dem Parlament nicht vorgelegt wurden. Der türkische Gesandte habe ganz mit ihm übereingestimmt über die Zulässigkeit eines Friedens auf Grundlage der letzten österreichischen Vorlagen. Führe man den Krieg weiter gegen den Willen der Türkei, so handle es sich künftig nicht mehr um Garantien von Anleihen, sondern um Subsidien. Piemont habe sich den Westmächten angeschlossen, aber es verlange dafür auch mit Recht eine Änderung in den Zuständen Italiens. Rom sei von den Franzosen, der Kirchenstaat von den Österreichern besetzt, eine Besetzung, die die Despotie hier und in beiden Sizilien aufrechthalte und das italienische Volk hindere, dem Beispiele Spaniens zu folgen. Rußlands Besetzung der Donaufürstentümer sei Vorwand des jetzigen Krieges. Wie damit zu reimen die französisch-österreichische Besetzung Italiens? Die Unabhängigkeit des Papstes und damit das europäische Gleichgewicht sei gefährdet. Könne man sich nicht mit Österreich und Frankreich über Änderungen in der päpstlichen Regierungsform verständigen, die die Räumung des Kirchenstaates ermöglichen würden? Schließlich der gemeinplätzliche Rat: die Minister sollen keinen unehrenvollen Frieden schließen, aber auch keine Gelegenheit zu Friedensverhandlungen entschlüpfen lassen.

Palmerston antwortete, "er sei nicht wie andere Leute, die die große Verantwortlichkeit übernähmen, einen Krieg zu erklären, und dann vor der Verantwortlichkeit zurückbebten, ihn zu führen. Solch ein Mann sei er nicht." (Er weiß in der Tat, was es mit der "Verantwortlichkeit" auf sich hat.) Die Friedensbedingungen hingen von Kriegsresultaten und die Kriegsresultate von allerlei Umständen, d.h. vom Zufall ab. (Der Zufall also ist verantwortlich für die Kriegsresultate, und die Kriegsresultate sind verantwortlich für die Friedensbedingungen.) Soviel er (Palmerston) wisse, stimme die Türkei ganz mit den Ansichten Frankreichs und Englands überein. Sei dem aber auch nicht so, so sei die Türkei bloß Mittel, nicht Zweck in dem Kampfe gegen <484> Rußland. Die "erleuchteten" Westmächte müßten besser wissen, was fromme, als die verfallende Ostmacht. (Ein trefflicher Kommentar dies zu der Kriegserklärung gegen Rußland, worin der Krieg als bloßer "Defensivkrieg" für die Türkei bezeichnet wird; zu der berüchtigten Wiener Note, die die "erleuchteten" Westmächte der Türkei aufdringen wollten usw.) Was Italien betreffe, so sei das ein delikater Punkt. In Neapel herrsche ein scheußlicher Zustand, aber warum? Weil es der Alliierte Rußlands sei, eines despotischen Staats. Was den Zustand des von Österreich und Frankreich (nicht despotischen Staaten?) besetzten Italiens betreffe, so "stimme die dortige Regierung zwar nicht mit den Gefühlen des Volkes überein", aber die Besatzung sei nötig, um "Ordnung" zu erhalten. Übrigens habe Frankreich die Truppenzahl in Rom vermindert und Österreich Toskana ganz geräumt. Schließlich gratulierte Palmerston zur Allianz mit Frankreich, die nun so innig sei, daß diesseits und jenseits des Kanals eigentlich nur "ein Kabinett" regiere. Und eben hatte er noch Neapel denunziert wegen seiner Allianz mit einem despotischen Staat! Und nun gratuliert er England dazu! Der Witz in Palmerstons Rede war, daß er mit Kriegstiraden eine Sitzung zu schließen verstand, die er von Kriegstaten so frei zu halten wußte.

Russell kam es natürlich nicht darauf an, jetzt Italien zum falschen Vorwand des Friedens zu machen, wie er nach seiner Rückkehr von Wien Polen und Ungarn zum falschen Vorwand des Kriegs gemacht hatte. Er genierte sich nicht, zu vergessen, daß er als Premier 1847-1852 dem Palmerston erlaubt hatte, erst Italien durch falsche Versprechen aufrütteln zu helfen, um es dann an Bonaparte und König Ferdinand, an den Papst und den Kaiser zu überlassen. Das kümmerte ihn nicht. Was ihn kümmerte, war, den "italienischen Vorwand" dem Gladstone zu entreißen und sich anzueignen.