Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 503-508
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Österreich und der Krieg

Geschrieben Ende August 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4493 vom 13. September 1855, Leitartikel]

<503> Wir bringen auf einer anderen Seite unseren Lesern den Bericht eines österreichischen Offiziers über eine Inspektionsreise Kaiser Franz Josephs zur galizischen Armee. Die vom Verfasser erzählten Begebenheiten dieser Reise und seine Bemerkungen über die Standorte der kaiserlichen Streitkräfte bestätigen unsere bei früheren Gelegenheiten dargelegte Meinung, daß Österreich, als es im vergangenen Jahr Kriegsvorbereitungen traf, keineswegs eine Komödie aufgeführt hat zur Täuschung der Westmächte. Es konnte sicherlich nicht auf ein solches Opfer eingehen, nur um der Welt Sand in die Augen zu streuen.

Es ist wahr, daß Österreich nur durch die äußerste Notwendigkeit dazu gebracht wurde, sich gegen Rußland zu bewaffnen; und tatsächlich klammerte sich Österreich, solange ein Aufschub möglich war, an den Spinnfaden eines in Aussicht gestellten Friedens, den die russische Diplomatie als Köder hinhielt. Schließlich war seine Geduld jedoch erschöpft, und St. Petersburg erfuhr überrascht und nicht ohne Schrecken, daß an der galizischen Grenze österreichische Kolonnen aufgestellt wurden. Das geschah zu einer Zeit, als die Russen nicht einmal die bloße Möglichkeit einer solchen Kriegsrüstung gelten ließen und es völlig außer Frage stand, eine Armee von gleicher Stärke auf russischer Seite in ebenso kurzer Zeit zu konzentrieren. Deshalb mußte wieder zur Kunst der Diplomatie gegriffen werden. Es braucht nicht wiederholt zu werden, auf welche Weise und mit welchem Erfolg das unternommen wurde. Die ganze gewaltige Armee, die noch unlängst an den galizischen Grenzen zusammengezogen worden war, wurde sofort aufgelöst und damit die Befürchtungen Rußlands für diesen Raum teilweise zerstreut. Wir sagen teilweise, weil mit dieser Armee zwei wichtige Elemente in Erscheinung <504> getreten sind, die mit der Auflösung der Armee nicht verschwinden. Das sind die Befestigungen und Eisenbahnen, die während des Aufenthalts der Armee in Galizien errichtet, erneuert oder vervollständigt wurden.

Während in allen anderen Teilen des Reiches die Regierung sich von dem Prinzip leiten ließ, Eisenbahnunternehmen privaten Spekulanten zu überlassen, während die Westeisenbahn, die Wien mit München verbinden sollte, sogar auffallend vernachlässigt wurde, beschäftigte Baron Heß, der Oberkommandierende in Galizien, tausende Soldaten bei dem Bau einer Linie, die, wie groß auch immer ihr strategischer Wert sein mag, wenigstens gegenwärtig von zweifelhaftem kommerziellen Nutzen ist. Das Projekt zum Bau dieser Linie hätte unter anderen Umständen auch noch in den nächsten dreißig Jahren in den Schreibtischen privater Ingenieure verbleiben können. Für Rußland konnte nichts unangenehmer sein als der Bau dieser Schienenwege, durch die Österreich jetzt in der Lage ist, die gerade aufgelöste Armee in nicht einmal dem fünften Teil der Zeit wieder zu sammeln, die Rußland brauchen würde, um eine ähnliche Armee aufzustellen. Wer immer sich die Mühe machen will, die Statistiken des österreichischen Eisenbahnunternehmens zu durchforschen, und das, was zu rein politischen Zwecken im Osten getan wurde, vergleicht mit der geringen Aufmerksamkeit, die den Handelsinteressen im Westen gezollt wird, kann nicht daran glauben, daß der Bau dieser galizischen Schienenwege so beschleunigt wurde, um lediglich die Welt irrezuführen. Es ist in der Tat klar, daß eine schnelle Vollendung der westlichen Linien, die Österreich mit Bayern verbinden, einem solchen Zweck weit besser entsprochen hätte.

Unsere Meinung bestätigt sich in noch höherem Maße durch die kürzlich vorgenommenen ausgedehnten Verbesserungen und die Vermehrung der Befestigungen in den östlichen Provinzen Österreichs. Wenn der Bau von Eisenbahnen erklärt werden kann aus strategischen oder aus anderen Erwägungen, so erlauben die Errichtung und Vollendung eines Befestigungssystems und die durch solche Werke entstehenden unproduktiven Ausgaben gewiß keine Erklärung, die über das unmittelbare Bedürfnis derselben hinausgeht. Was wir über die verhältnismäßige Ausdehnung der Eisenbahnbauten im Osten und Westen Österreichs gesagt haben, trifft in einem noch viel höheren Maße auf diese Befestigungen zu. Von den sechsunddreißig Festungen des österreichischen Imperiums gehören sieben direkt und neun indirekt zu der östlichen Verteidigungslinie, wovon die meisten erst kürzlich zu einer hohen Vollkommenheit entwickelt wurden, wie zum Beispiel Krakau, Przemysl und Zaleszczyki. Die beiden ersteren beherrschen gemeinsam mit Lemberg, das wegen seiner Lage nicht stärker befestigt werden kann, die <505> Straße nach Warschau; letztere liegt am östlichsten Ende Galiziens gegenüber der wichtigen russischen Festung Chotin. Krakau ist zu einer Festung erster Ordnung gemacht worden, und alle seine Werke, ebenso wie die der anderen galizischen Festungen, sind in völlige Kriegsbereitschaft versetzt worden. Es war einmal in der österreichischen Armee Brauch, das Kommando der Festungen alten ausgedienten Generalen zu übertragen, als eine Art ehrenhafter Ruhestellung, und solche Plätze wurden als eine Art Exil für Offiziere angesehen, die beim Hof in Ungnade gefallen sind; doch jetzt finden wir im ganzen Osten und Nordosten wirklich fähige Männer, verdienstvolle Generale und hervorragende Stabsoffiziere beim Kommando der Festungen. Krakau wird von Feldmarschall Wolter kommandiert, Przemysl von Generalmajor Ebner, Zaleszczyki von Generalmajor Gläser, Karlsburg in Transsylvanien von General Sedlmayer und Olmütz, an der nordwestlichen Flanke, von General von Böhm. In derselben Zeit ist es im Westen gerade umgekehrt - dort sind Männer und Dinge nahezu Ruinen, die ruhig weiterem Verfall überlassen werden. Wie aber würde sich das Bild dort verändern, würden die Westmächte sich herausnehmen, Österreichs Politik als zweideutig zu bezeichnen! Wie würde sich die österreichische Obrigkeit beeilen, Linz mit seinen vierzig Maximilian-Türmen, das jetzt kaum als Festung betrachtet wird, und Salzburg, einst eine Feste erster Ordnung, wiederherzustellen! Was sehen wir statt dessen? Völlige Tatenlosigkeit und völliges Fehlen irgendwelcher Kriegsvorbereitungen. Sogar die Soldaten, die vom Osten zurückkehren, wo sie erhofften, Lorbeeren zu ernten, verlieren ihren Kampfgeist, sobald sie sich der bayrischen Grenze nähern.

Da das Tatsachen sind, die für sich selbst sprechen, bleibt nur noch eine Frage, die geklärt werden muß, nämlich: durch wessen Schuld wurde die österreichische Politik vereitelt und diesem Land eine gewaltige zusätzliche Schuld auferlegt, ohne unmittelbaren Vorteil für es selbst oder für seine offensichtlichen Alliierten? Wir wissen, daß in Wien die Meinung verbreitet ist und überall in Deutschland wiederholt wird, nach der Österreich zurückgewichen ist aus Furcht, in Preußen einen zweiten Gegner zu finden, und weil ein ohne die Hilfe Deutschlands unternommener Krieg keine Garantie für seine schnelle Beendigung geben würde, wie es die außergewöhnliche Lage des Reiches erheischt. Wir müssen jedoch auf der gegenteiligen Ansicht bestehen. Wir meinen, hätte Österreich die russische Armee kühn angegriffen, dann wäre Preußen und das übrige Deutschland, mehr oder weniger langsam oder zögernd, gezwungen gewesen, seinen Spuren zu folgen.

Wer muß also für die gegenwärtige österreichische Politik verantwortlich gemacht werden? England unter der Führung jenes glänzenden Zauderers <506> und redseligen Aufschneiders Lord Palmerston. Um diese Behauptung zu beweisen, muß man das militärische Lager verlassen und sich in das diplomatische Labyrinth begeben. Am 23. Juli fragte Herr Disraeli den Lord John Russell nach der Autorität seiner Erklärung, daß "eine der Hauptursachen der Krimexpedition Österreichs Weigerung war, den Pruth zu überschreiten". Lord John konnte sich nicht erinnern, das heißt, er sagte, seine "Autorität sei eine Erinnerung im allgemeinen". Herr Disraeli richtete dann dieselbe Frage an Lord Palmerston, der

"keine derartigen Fragen beantworten wollte, die bruchstückweise aus einer langen Reibe von Verhandlungen zwischen Ihrer Majestät Regierung und der Regierung eines der Souveräne, der zu einem gewissen Grade ein Alliierter Ihrer Majestät sei, herausgerissen wären. Alles, was er in bezug auf sich selbst sagen könne, war, daß er immer der Ansicht gewesen sei, daß die Krim der Ort wäre, wo der wirksamste Schlag gegen das Übergewicht Rußlands auf dem Schwarzen Meer geführt werden könne; und wenn es keinen andern Grund geben sollte, so wäre das nach seiner Meinung für einen Feldzug völlig ausreichend." "Meine Meinung", erklärte er, "war, daß die Krimexpedition der beste Schritt war, der unternommen werden konnte."

So erfahren wir durch Lord Palmerston, daß der Krimfeldzug nicht durch Österreich, nicht durch Bonaparte, sondern durch ihn selbst begonnen habe. Am 26. Juni erklärte Lord Lyndhurst, als er einen heftigen Angriff gegen Österreich führte, daß Österreich

"zu Beginn des Juni sich entschlossen hätte, Rußland zur Räumung der Fürstentümer aufzufordern. Die Aufforderung sei in sehr harten Ausdrücken erfolgt, die eine Art von Drohung einschlossen, zur Waffengewalt zu greifen, wenn der Forderung keine Genüge geschehe."

Nach einigen historischen Bemerkungen fuhr der gelehrte Lord fort:

"Setzte Österreich unmittelbar irgendeinen Angriff auf Rußland ins Werk? Versuchte es, in die Fürstentümer einzurücken? Weit entfernt! Es enthielt sich jeder Handlung mehrere Wochen lang, bis die Belagerung von Silistria aufgehoben und die russische Armee im Rückzug begriffen war, und nachdem Rußland selbst erklärt hatte, es werde innerhalb einer bestimmten Zeit die Fürstentümer räumen und sich hinter den Pruth zurückziehen."

Damit wirft Lord Lyndhurst Österreich vor, eine Sache zu sagen und eine andere zu tun. Ihm folgte Lord Clarendon in der Debatte, und von ihm können wir einen Begriff von dem Genius bekommen, der das Österreich von Mai und Juni in das Österreich von Juli und August verwandelte. Er sagt,

"als Österreich seine sukzessiven Verpflichtungen gegen England und Frankreich übernahm und seine ausgedehnten und kostspieligen Kriegsvorbereitungen traf - als es <507> ferner vorschlug, daß Militärkommissionen von Frankreich und England in das Hauptquartier des Generals Heß gesandt würden, beabsichtigte und erwartete es ohne Zweifel den Krieg. Aber es erwartete ebenfalls, daß, lange bevor die Jahreszeit für den Beginn von Kriegsoperationen eingetroffen, die alliierten Armeen entscheidende Siege in der Krim erfochten haben, daß sie frei und fähig sein würden, andere Operationen im Bunde mit seinen eigenen Streitkräften zu unternehmen. Das war unglücklicherweise nicht der Fall, und hätte Österreich auf unsere Einladung den Krieg erklärt, so würde es ihn aller Wahrscheinlichkeit nach allein zu führen gehabt haben."

Damit steht die Erklärung Lord John Russells im direkten Gegensatz zu der Darlegung Lord Clarendons. Lord John erklärt, daß die Krimexpedition in See ging, weil Österreich sich weigerte, den Pruth zu überschreiten - das heißt, an dem Krieg gegen Rußland teilzunehmen. Lord Clarendon sagt uns, daß Österreich an dem Krieg gegen Rußland nicht teilnehmen konnte wegen der Krimexpedition.

Als nächstes können wir mit Nutzen eine unwiderlegte Erklärung Lord Ellenboroughs in Erwägung ziehen:

"Bevor die Krimexpedition abgesandt wurde, machte Österreich den Vorschlag, mit den alliierten Mächten über zukünftige Kriegsoperationen Verbindung aufzunehmen; die Alliierten jedoch, nach vorgefaßten Meinungen handelnd, entsandten jene Expedition, und nun erklärte Österreich sofort, es könne isoliert die Russen nicht angreifen, und die Krimexpedition zwinge es, eine andere Verfahrungsart einzuschlagen. In einer späteren Periode, gerade beim Beginn der Wiener Konferenzen, als es von der höchsten Wichtigkeit war, daß Österreich mit uns handeln sollte - zu dieser Zeit, stets noch ausschließlich beschäftigt mit dem Erfolg Ihrer Operationen in der Krim, zogen Sie aus der unmittelbaren Nachbarschaft Österreichs 50.000 gute türkische Truppen zurück und beraubten es so des einzigen Beistandes, worauf es im Falle einer Kriegsexpedition gegen Rußland rechnen konnte. Es ist daher klar, meine Herren Lords, wie auch aus den Erklärungen des edlen Grafen folgt, daß es unsere übelberatene Krimexpedition war, die Österreichs Politik lähmte und die es in eine solch schwierige Position drängte, daß es sofort daran gehindert wurde, einen Kurs zu verfolgen, der seiner Ehre, seiner Würde und seinen Interessen gemäß wäre. Ehe diese Expedition nach der Krim segelte, wagte ich es der Regierung anzuzeigen, welches seine notwendigen Folgen sein würden. Ich wies auf die Wirkung hin, die diese Expedition auf Österreichs Politik hervorbringen würde."

Der Rat Lord Ellenboroughs wurde nicht befolgt. Palmerston entsandte die Krimexpedition in dem gleichen Augenblick, als deren Abreise am besten geeignet war, Österreichs Feindseligkeiten gegen Rußland zu verhindern und zu verhüten. Es sieht beinahe so aus, als ob er beabsichtigt hätte, dem großen Feinde Englands Hilfe zu leisten, und als ob er absichtlich Österreich in seine <508> gegenwärtige zweideutige Lage in den Fürstentümern gebracht habe, um es der russischen Diplomatie auszuliefern und es noch näher an den Rand des Abgrundes zu drängen, in den es schließlich sinken muß. In dieser Angelegenheit, wie in so vielen anderen während seiner langen und unrühmlichen Laufbahn, hat Palmerston glänzende Erfolge gehabt in der Verteidigung der Interessen Rußlands, was auch immer sein wirklicher Vorsatz gewesen ist.