Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 519-524
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Eine neue Enthüllung in England

Geschrieben um den 8. September 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4502 vom 24. September 1855]

<519> Seit der Veröffentlichung der nachgelassenen Papiere von Sir A[lexander] Burnes, die sein Vater publizierte, um das Andenken des Sohnes von der von Lord Palmerston erhobenen falschen Anschuldigung zu reinigen, er sei der Initiator des unglückseligen und schmachvollen afghanischen Krieges gewesen, und um den unwiderleglichen Beweis zu liefern, daß die sog. Depeschen von Sir A. Burnes, wie Palmerston sie dem Parlament vorlegte, nicht nur bis zur gänzlichen Verdrehung ihres ursprünglichen Sinns verstümmelt, sondern tatsächlich, und zwar durch Einschiebungen, gefälscht waren, die eigens zu dem Zweck der Irreführung der öffentlichen Meinung fabriziert waren - seit dieser Veröffentlichung ist vielleicht niemals eine Reihe von Dokumenten erschienen, die das Ansehen der britischen Regierung und der Kaste, die sich des erblichen Besitzes der Ämter dieses Landes erfreut, mehr schädigt als die Korrespondenz zwischen Sir James Graham und Sir Charles Napier, die der alte Admiral eben jetzt in der Absicht veröffentlicht, seinen guten Ruf zu verteidigen.

In dieser Kontroverse hat Sir James Graham gegenüber seinem Gegner einen großen Vorteil - keine wie immer geartete Enthüllung ist geeignet, seinen Charakter in dem Urteil der Welt herabzusetzen. Der Mann, der sich laut rühmte, ein Mitschuldiger an der Ermordung der beiden Brüder Bandiera gewesen zu sein; den man überführt hat, auf dem Londoner Postamt Privatbriefe regelmäßig geöffnet und mißbraucht zu haben, nur um der Heiligen Allianz zu dienen; der wie ein unterwürfiger Hund dem Kaiser Nikolaus die Hände leckte, als dieser an der Küste Englands landete; der sogar die abscheuliche Grausamkeit der neuen englischen Armengesetze noch verschärfte durch seine eigentümliche Art, sie anzuwenden; und der noch vor einigen Monaten vor dem vollen Hause vergeblich versucht hat, das <520> Odium der Beschimpfungen, die er selbst dem unglücklichen Kapitän Christie zugefügt hatte, auf Herrn Layard zu wälzen - solch ein Mann kann wirklich als Charakter gelten, dem niemand etwas anhaben kann. Seine politische Laufbahn hat etwas Geheimnisvolles. Weder besitzt er Palmerstons ungewöhnliche Talente, die diesem erlauben, gar keiner Partei anzugehören, noch Russells ererbten Einfluß auf eine Partei, der ihm erlaubt, auf ungewöhnliche Talente zu verzichten, und dennoch hat er es fertiggebracht, unter den britischen Staatsmännern eine hervorragende Rolle zu spielen. Den Schlüssel zu diesem Rätsel finden wir nicht in den Annalen der Weltgeschichte, sondern in denen des "Punch". Jahr für Jahr erscheint in dieser lehrreichen Zeitschrift ein nach dem Leben gezeichnetes Bild mit der lakonischen Inschrift: "Sir Robert Peels schmutziger Junge." Sir Robert Peel war ein ehrenhafter, wenn auch kein großer Mann; vor allem aber war er ein britischer Staatsmann, ein Parteiführer, der eben durch die Erfordernisse seiner Stellung gezwungen war, viel schmutzige Arbeit zu verrichten, die zu tun ihm recht zuwider war. Da erwies sich denn Sir James als eine wahre Gottesgabe, und so geschah es, daß Sir James ein unentbehrlicher Mann und damit auch ein großer Mann wurde.

Sir Charles Napier gehört einer Familie an, die sich ebenso durch ihre Begabung wie durch ihre Exzentrizitäten auszeichnet. Inmitten der heutigen friedlichen Menschheit machen die Napiers den Eindruck irgendeines primitiven Stammes, der wohl die natürliche Begabung besitzt, sich die Errungenschaften der Zivilisation anzueignen, der sich aber nicht ihren Konventionalitäten beugen, nicht ihre Etikette respektieren oder sich ihrer Disziplin unterwerfen will. Haben die Napiers auch dem englischen Volk stets gute Dienste erwiesen, so haben sie doch ständig mit ihrer Regierung gestritten und sich gegen sie aufgelehnt. Und besitzen sie das Selbstbewußtsein der homerischen Helden, so ist ihnen auch etwas von deren prahlerischem Wesen gegeben.

Der verstorbene General Charles Napier zum Beispiel - unzweifelhaft der begabteste Soldat, den England seit den Zeiten Marlboroughs besessen hat - war nicht weniger bekannt durch seine Eroberung von Sind als durch seine Zänkereien mit der Ostindischen Kompanie, die von seiner Familie noch übers Grab hinaus fortgeführt wurden. Oder der General Sir W[illiam] Napier, bekannt als der beste Militärschriftsteller Englands, nicht weniger bekannt aber durch seine ewigen Zwistigkeiten mit dem britischen Kriegsministerium, der die engherzigen Vorurteile seiner Landsleute so wenig scheute, daß die britischen Buchbesprechungen seine berühmte Geschichte des Krieges auf der Pyrenäenhalbinsel zuerst einstimmig bezeich- <521> neten "als die beste französische Schilderung, die je von diesem Krieg erschienen sei". Und auch der Gegner des Sir James Graham, der alte Admiral Napier, hat sich einen Namen dadurch gemacht, daß er die Befehle seiner Vorgesetzten zunichte machte. Diesen letzten kräftigen Schößling der Napiers glaubte nun Sir James Graham in der eisernen Umklammerung einer Boa constrictor eingepreßt zu haben, aber schließlich entpuppt sie sich nur als bloßes konventionelles Spinngewebe.

Sir James Graham, Erster Lord der Admiralität, entsetzte Charles Napier bei seiner Rückkehr nach England seines Kommandos; im Unterbaus bezeichnete er ihn als den verantwortlichen Urheber des baltischen Fehlschlags und zitierte zum Beweis dafür einige Stellen aus Napiers Privatbriefen; er klagte ihn an, nicht den Mut gehabt zu haben, die kühnen Befehle der Admiralität auszuführen; er sprach die Hoffnung aus, daß in Zukunft kein Lord der Admiralität je mehr so unvorsichtig sein werde, Sir Charles Napiers Flagge zu hissen; und er machte sich in den ihm zu Gebote stehenden Blättern über ihn lustig und bezeichnete ihn als den "kämpfenden Charly", der gleich dem mythologischen König von Frankreich "mit zwanzigtausend Mann den Hügel hinauf- und dann wieder heruntermarschiert sei". Sir Charles Napier - wir zitieren dessen eigene Worte -

"verlangte eine Untersuchung seines Verhaltens, sie wurde ihm verweigert; er appellierte an das Kabinett bekam aber keine Antwort; endlich wandte er sich an das Unterhaus. Die Akten wurden ihm unter dem Vorwand verweigert, daß Ihrer Majestät Dienst dadurch geschädigt würde."

Nach dem Bombardement von Sweaborg war dieser Vorwand natürlich hinfällig.

Sir James glaubte seiner Sache um so sicherer zu sein, als er die Vorsicht gebraucht hatte, alle jene Briefe als "private" zu bezeichnen, die geeignet waren, ihn bloßzustellen und sein auserkorenes Opfer zu rechtfertigen. Über die Bedeutung des sakramentalen Wortes "privat" äußerte Sir James selbst, als er vor der Sewastopol-Kommission seine Aussage machte: Ein britischer Erster Lord der Admiralität sei gewöhnt, öffentliche Instruktionen als "private" zu bezeichnen, wenn er seine guten Gründe habe, sie nicht nur dem Publikum, sondern sogar dem Parlament vorzuenthalten. Ein Mann wie Sir James, der sich berechtigt glaubt, private Briefe in öffentliche zu verwandeln, findet es ganz natürlich, öffentliche Dokumente zum Privatbesitz zu erklären. Aber dieses Mal hat er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Sir Charles <522> Napier hat sich vielleicht, als er kühn die Fesseln "der privaten Instruktion" sprengte, der Gefahr ausgesetzt, aus der Liste der englischen Kriegsflotte gestrichen zu werden, und sich wahrscheinlich des Rechtes begeben, je noch seine Flagge zu hissen; gleichzeitig hat er aber nicht nur Sir James den Weg in die Admiralität verrammelt, sondern auch dem englischen Volk gezeigt, daß seine Flotte ebenso korrumpiert ist wie seine Armee. Als der Feldzug auf der Krim die britische Armee ihres altehrwürdigen Ruhms beraubte, plädierten die Verteidiger des Ancien régime auf ein Nichtschuldig mit der plausiblen Begründung, England habe nie beansprucht, eine erstklassige Militärmacht zu sein. Daß aber Großbritannien nicht beansprucht habe, die erste Seemacht der Welt zu sein, wagen sie jedoch nicht zu behaupten. Das ist die erhebende Seite des Kriegs: er stellt eine Nation auf die Probe. Wie Mumien augenblicklich zerfallen, wenn man sie der atmosphärischen Luft aussetzt, so fällt auch der Krieg sein Todesurteil über alle sozialen Einrichtungen, die keine Lebenskraft mehr besitzen.

Die Korrespondenz zwischen Sir James Graham und Admiral Napier, die in die Zeit vom 24. Februar bis zum 6. November 1854 fällt und ihres großen Umfangs wegen nicht vollinhaltlich in den Spalten unserer Zeitung wiedergegeben werden kann, läßt sich ganz kurz zusammenfassen. Bis Ende August, wo - wie allgemein bekannt ist - die Schiffahrtssaison auf der Ostsee ihrem Ende entgegengeht, ging alles ganz glatt - wenn auch Sir Charles Napier gleich beim Beginn der Expedition Sir James seine Meinung darüber gesagt hatte, daß

"die Mittel, die die Admiralität zur Ausrüstung und Bemannung der Nordseeflotte ausgeworfen habe, für diesen Anlaß ungenügend wären und nicht erlauben würden, den Russen unter annehmbaren Bedingungen entgegenzutreten".

Während dieser ganzen Zeit hat Sir James in seinen Briefen nur ein freundliches Lächeln für seinen "lieben Sir Charles". Am 12. März "beglückwünscht" er ihn, weil die Flotte in so schöner "Ordnung" die englische Küste verlassen habe; am 5. April ist er "zufrieden mit ihrer Vorwärtsbewegung"; am 10. April ist er "vollkommen zufrieden mit seinem Vorgehen"; am 20. Juni nennt er ihn einen "vollendeten Oberbefehlshaber"; am 4. Juli ist er "sicher, daß Sir Charles tun wird, was immer ein Mensch tun kann"; am 22. August beglückwünscht er ihn "aufrichtig zu dem Erfolg seiner Operationen vor Bomarsund"; und am 25. August wird er gar von einer Art poetischen Überschwangs ergriffen und ruft aus:

"Ich bin mehr als zufrieden mit Ihrem Vorgehen, ich bin begeistert von der Klugheit und dem gesunden Menschenverstand, die Sie an den Tag gelegt haben."

<523> Während der ganzen Zeit ist Sir James nur besorgt, daß Sir Charles

"in dem eifrigen Wunsch, eine große Heldentat zu vollbringen und die ungestümen Forderungen einer ungeduldigen Menge zu befriedigen, etwa einem raschen Impulse folgen und die Erfüllung der höchsten Pflicht versäumen könnte, das ist, den moralischen Mut zu haben, das zu tun, was man für richtig hält, auch wenn man dabei den Vorwurf riskiert, falsch gehandelt zu haben".

Noch am 1. Mai 1854 sagt er zu Sir Charles:

"Ich glaube, sowohl Sweaborg als auch Kronstadt sind kaum von der See aus zu nehmen, ganz besonders Sweaborg, und nur eine ganz große Armee könnte zu Land erfolgreich operieren angesichts einer solchen Streitmacht, wie sie Rußland mit Leichtigkeit an den unmittelbaren Zugängen zu seiner Hauptstadt konzentrieren könnte."

Als ihm Sir Charles am 12. Juni sagt,

"er sei, unterstützt von Admiral Chads, nach reiflicher Überlegung zu der Einsicht gekommen, die einzige erfolgreiche Art, Sweaborg anzugreifen, sei die Ausrüstung einer großen Zahl von Kanonenbooten",

antwortet ihm Sir James am 11. Juli:

"Mit 50.000 Mann und 200 Kanonenbooten könnten Sie vor Ende September doch noch etwas Großes und Entscheidendes tun."

Aber kaum hatte der Winter eingesetzt, kaum waren die französische Armee und Flotte abgefahren, kaum begannen die schweren Äquinoktialstürme die Wogen der Ostsee aufzuwühlen, und kaum hatte Sir Charles berichtet:

"Die Ankertaue unserer Schiffe haben schon zu zerreißen begonnen, dem 'Dragon' ist nur ein Anker geblieben, die 'Impérieuse' und der 'Basilisk' haben letzte Nacht je einen Anker verloren, die 'Magicienne' war gezwungen, im Nebel die Anker zuwerfen, und mußte, als sie sie des Nachts bei Nargen lichtete, sich auf der Höhe des Rönnskär-Leuchtturms erneut verankern, da sie zwischen Klippen abgetrieben war; und der 'Euryalus' lief auf Klippen, und es ist ein wahres Wunder, daß er nicht verloren ist" -

als Sir James ganz plötzlich entdeckte, "man führe nicht Krieg ohne Risiko und Gefahr" und Sweaborg müsse daher ohne einen einzigen Soldaten, ein einziges Kanonen- oder Mörserboot genommen werden. In der Tat, wir können nur die Worte des alten Admirals wiederholen: "Wäre der Kaiser von Rußland Erster Lord der Admiralität, er würde auch keine anderen Briefe geschrieben haben!"

In der Admiralität herrscht also, wie aus dieser Korrespondenz ersichtlich ist, dieselbe Anarchie wie im Kriegministerium. Sir James billigt die Qpera- <524> tionen Napiers innerhalb des Belts, während die Admiralität sie verwarf. Im August schreibt ihm Sir James, er solle sich auf einen zeitigen Rückzug aus der Ostsee vorbereiten, während die Admiralität ihm Telegramme entgegengesetzten Inhalts schickt. Sir James hat diese Ansicht von dem Bericht des Generals Niel, die Admiralität eine entgegengesetzte. Das Interessanteste aber an dieser Korrespondenz sind vielleicht die neuen Aufschlüsse, die sie uns über die englisch-französische Allianz gibt. Der französische Admiral zeigte Sir Charles seine Rückberufungsorder am 13. August. Die französische Armee segelte am 4. September und der Rest der französischen Flotte fuhr am 19. September ab; Sir James Graham aber unterrichtet Sir Charles, daß er erst am 25. September von dieser Zurückziehung erfahren habe. Sir James nahm daher irrtümlich an, "die Entscheidungen seien an Ort und Stelle mit Napiers Einwilligung getroffen worden", aber, wie er nachdrücklich hinzufügt, "ohne daß sie irgendwie der englischen Regierung unterbreitet worden wären". Andererseits scheint es, als hätte Niel, der französische General der Genietruppen und Louis Bonapartes Intimus, den Rat gegeben, "Sweaborg in zwei Stunden durch Linienschiffe zu zerstören". Daraus scheint klar hervorzugehen, daß er die englische Flotte zu einer verzweifelten Attacke drängen wollte, bei der die Engländer sich nutzlos an den blinden Klippen und an den Forts der russischen Verteidigung die Köpfe eingerannt hätten.