Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 530-535
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Aussichten auf der Krim

Geschrieben um den 14. September 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4508 vom 1. Oktober 1855, Leitartikel]

<530> Außer einer unvollständigen Liste der gefallenen und verwundeten britischen Offiziere fügen die von dem Dampfer "America" zugestellten Zeitungen - und wir haben sie sorgfältig durchgesehen - kaum etwas dem hinzu, was wir bereits von den Umständen wissen, unter denen die Eroberung der Südseite Sewastopols vor sich gegangen ist. Es stimmt, daß sowohl über die Gründe als auch über die Folgen von Gortschakows plötzlicher Aufgabe eines so lange und so verzweifelt verteidigten Platzes viel orakelt wird; und unter diesen Betrachtungen verdienen die unserer Korrespondenten in London und Paris besondere Beachtung. Es gibt aber einige Gesichtspunkte und einige Erwägungen, mit denen sich keiner dieser Berichterstatter - so sehr sich auch ihre Ansichten widersprechen - sorgfältig genug beschäftigt oder denen er die entsprechende Bedeutung beigemessen zu haben scheint.

Was für eine Wendung die Dinge auf der Krim jetzt nehmen werden, hängt gerade zu einem großen Teil von den Gründen ab, die die Russen veranlaßt haben, die Südseite aufzugeben. Es ist offensichtlich, daß keineswegs rein taktische und strategische Motive diesem plötzlichen Entschluß zugrunde lagen. Wäre Gortschakow der Meinung gewesen, daß nach dem Fall des Malachow die Südseite und sogar die Karabelnaja nicht mehr zu halten sei, so hätte er in dieser Vorstadt nicht so viele innere Befestigungswerke errichten lassen. Obwohl der schließliche Erfolg der Belagerung durch die Einnahme jenes dominierenden Punktes als gesichert angesehen werden könnte, so hätte doch durch eine hartnäckige Verteidigung, zuerst der inneren Befestigungswerke der Vorstadt und dann der Stadt selbst, eine Atempause von vier bis sechs Wochen gewonnen werden können. Den besten Landkarten, Plänen und Schemas nach zu urteilen, war es von rein taktischem und strategischem <531> Gesichtspunkt aus nicht nötig, das mit solcher Überstürzung aufzugeben, was bislang mit solcher Hartnäckigkeit verteidigt worden war. Mit Kriegswissenschaft allein läßt sich ein derartiger Schritt nicht erklären, der doch wohl kaum der Verwirrung und Furcht zugeschrieben werden kann, die durch eine unerwartete und entscheidende Niederlage verursacht wurde. Beweggründe anderer Art müssen Gortschakow zu einem Schritt gezwungen haben, der seine militärische Position und Karriere so ernsthaft kompromittiert, wie dieser es tut.

Es gibt nur zwei mögliche Erklärungen. Entweder war die morale der russischen Soldaten so sehr zerrüttet, daß es unmöglich gewesen wäre, sie hinter der inneren Verteidigungslinie einigermaßen geordnet wieder zu sammeln, um den Kampf weiterzuführen, oder der Mangel an Proviant begann nicht nur in Sewastopol, sondern auch draußen im Lager sich empfindlich bemerkbar zu machen. Die fast ununterbrochene Reihe von Niederlagen, die der russischen Armee beigebracht wurden - von Oltenitza und Cetate bis zur Schlacht an der Tschornaja und dem Sturm vom 8. September -, muß sicherlich den Mut der Verteidiger von Sewastopol völlig gebrochen haben, um so mehr, da sich diese hauptsächlich aus den gleichen Truppen zusammensetzten, die an der Donau und später bei Inkerman geschlagen worden waren. Die Russen haben ein ziemlich träges Empfinden im Ertragen von Widerwärtigkeiten und Gefahren und können länger als die meisten anderen Truppen Niederlagen ertragen; aber keine Armee in der Welt kann bis in die Ewigkeit zusammenhalten, wenn sie von jedem Feind, auf den sie stößt, geschlagen wird, und wenn sie einer langen Kette von Niederlagen nichts anderes entgegenzustellen hat als die negative Genugtuung ihres hartnäckigen und langen Widerstandes und ein einziges Beispiel erfolgreicher, aktiver Verteidigung wie die vom 18. Juni. Aber ein solcher Widerstand in einer belagerten Festung hat auf die Dauer schon von selbst eine demoralisierende Wirkung. Er schließt ein schwere Härten, Mangel an Schlaf, Krankheit und das Vorhandensein nicht jener akuten Gefahr, die den Geist in Spannung hält, sondern der chronischen Gefahr, die auf die Dauer den Geist abstumpft. Die rasch aufeinanderfolgenden Niederlagen an der Tschornaja und am Malachow müssen den Prozeß der Demoralisierung vollständig gemacht haben, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß die Truppen Gortschakows, die sich in der Stadt befanden, nicht länger tauglich waren, gegen den Feind geführt zu werden. Und da der Malachow die Brücke beherrschte, die auf die andere Seite führte und die französischen Kanonen sie jeden Tag hätten zerstören können, wurde ein Entsatz unmöglich, während der Rückzug wenigstens die Truppen retten konnte. Es nimmt nicht wunder, daß diese <532> Demoralisierung schließlich doch die Garnison befiel; es ist vielmehr erstaunlich, daß das nicht schon viel früher geschehen ist.

Es sind auch einige sehr schwerwiegende Anzeichen vorhanden, daß Mangel an Proviant für die Armee im allgemeinen ein gut Teil mit Fürst Gortschakows plötzlichem Rückzug zu tun hatte. Die Unterbrechung der russischen Schiffahrt auf dem Asowschen Meer mußte - obgleich sie sich nicht so unmittelbar auswirkte, wie das sich die britische und französische Presse erhofft hatte, die damals einer Erfolgsmeldung bedurfte - auf die Dauer dennoch den Russen hinderlich werden, da sie dadurch auf eine einzige Operationslinie beschränkt und ihre Zufuhr eingeschränkt wurde. Die ungeheuren Schwierigkeiten des Transportes von Lebensmitteln, Munition und Fourage von Cherson durch ein dünn besiedeltes Steppengebiet müssen noch größer geworden sein, als dieser Weg der einzige wurde, über den die Armee versorgt werden konnte. Die Transportmittel, durch Requisition zusammengebracht von der Ukraine und den Donprovinzen, müssen schließlich unbrauchbar geworden sein; Pferde und Zugochsen müssen in großen Mengen sowohl der Überanstrengung als auch der Futterknappheit zum Opfer gefallen sein; und als die nächstliegenden Provinzen erst einmal erschöpft waren, wurde es immer schwieriger, den nötigen Vorrat herbeizuschaffen. Dieser Mangel an Zufuhr sollte sich zunächst nicht so sehr in Sewastopol zeigen (wo Vorratslager für den Fall angelegt sein mußten, daß der Ort auch von der Nordseite her eingeschlossen würde), als vielmehr im Lager oberhalb von Inkerman, bei Bachtschissarai und auf dem Marschwege der Verstärkungen. Die Befehlshaber der Alliierten haben mehr als einmal in ihren Berichten erwähnt, daß dies der Fall gewesen sei, aber auch andere Umstände weisen darauf hin, daß dem so gewesen sein muß. Dieses Unvermögen, nicht einmal die Truppen zu versorgen, die jetzt in der Krim sind, erklärt allein, warum die beiden Grenadierdivisionen, die so lange auf dem Marsch sind und, wie es heißt, jetzt Perekop erreicht haben, nicht vorrücken und an der Schlacht an der Tschornaja teilnehmen durften; damit erklärt sich auch, daß, obgleich der größere Teil der Truppen, die vorrücken sollten, um Sewastopol Hilfe zu geben, nicht ankam, die Schlacht dennoch gewagt wurde, wenn auch mit Streitkräften, die im Verhältnis zu der von ihnen zu lösenden Aufgabe lächerlich klein waren.

Alle Anzeichen deuten also darauf hin, daß sowohl die Demoralisierung des größten Teils der russischen Truppen als auch der Mangel an Zufuhr für die im Felde stehende Armee Gortschakow veranlaßt haben, nicht zu viel aufs Spiel zu setzen durch ein kurzfristiges Hinausschieben des Falls einer Festung, die nicht mehr zu halten war. Er nutzte die letzte Möglichkeit, die <533> Garnison zu retten, und er scheint richtig gehandelt zu haben. Nach allem zu urteilen, hätte er sie sonst ihrem Schicksal überlassen, seine Feldarmee sammeln und sich ins Innere der Krim, wenn nicht bis Perekop, zurückziehen müssen. In diesem Falle wäre die Garnison der Südseite sehr bald gezwungen gewesen, entweder sich heimlich zur Nordseite durchzuschlagen oder zu kapitulieren; und die Nordseite, jeder Aussicht beraubt, jemals abgelöst zu werden, und von demoralisierten Truppen besetzt, wäre bald durch Hunger zur Unterwerfung gezwungen worden.

Solange die Russen eine Chance hatten, ihre Armee nicht nur in einer Stärke auf der Krim zu halten, die etwa der der Alliierten gleichkam, sondern sogar Verstärkungen erwarten konnten, die sie ihren Gegnern bei weitem überlegen machen würden, stellte die Nordseite Sewastopols eine Position von immenser Wichtigkeit dar. Die Nordseite mit den Kräften einer Garnison zu halten, während die Feldarmee jene Position einnahm, wo sie sich den neuesten, uns zugegangenen Nachrichten zufolge befand, bedeutete, die alliierte Armee auf das Plateau des Herakleatischen Chersones zu bringen. Das bedeutete auch, ihre Schiffe von der Bucht von Sewastopol fernzuhalten und sie einer geeigneten Operationsbasis der Flotte zu berauben, die näher als der Bosporus lag, denn weder Kamysh noch Balaklawa konnten dafür in Frage kommen. Solange die Russen in der Lage waren, das Kampffeld auf der Krim zu behaupten war die Nordseite ebenso der Schlüssel zur ganzen Krim und zu dem, was dem ganzen Land überhaupt militärische oder maritime Bedeutung gibt, wie es der Malachow für die Südseite war. Aber mit dem Augenblick, da die Russen das Kampffeld nicht länger behaupten können, hat die Nordseite schon keine besondere Bedeutung mehr. Sie ist eine ziemlich stark befestigte Position, die aber - wenn sie mit zureichenden Kräften belagert wird - verurteilt ist, zu fallen, weil sie von nirgends Hilfe erwarten kann,

Dies mag verwunderlich erscheinen nach der der Nordseite zu Recht zugeschriebenen großen Bedeutung. Und dennoch ist das durchaus richtig. Dieser ganze Krieg war dem Anschein nach ein Befestigungs- und Belagerungskrieg gewesen und hat in den Augen oberflächlicher Beobachter den Fortschritt, der durch Napoleons schnelles Manöver erzielt worden war, völlig zunichte gemacht und so die Kriegskunst in die Zeit des Siebenjährigen Krieges zurückgeführt. In Wirklichkeit aber entspricht genau das Gegenteil den Tatsachen. Heutzutage haben Festungen und Befestigungsgruppen keine andere Bedeutung als die fester Punkte, auf die sich eine im Feld stehende Armee bei ihren Bewegungen stützt. So war das Lager bei Kalafat ein Brückenkopf, der es Omer Pascha erlaubte, die Russen in der Flanke zu bedrohen; so waren Silistria, <534> Rustschuk, Varna und Schumla sozusagen die vier vorspringenden Winkel eines großen befestigten Lagers, in das sich Omer Pascha zurückziehen und wo er nicht verfolgt werden konnte, ehe nicht wenigstens zwei jener vorspringenden Winkel eingenommen oder neutralisiert worden waren. So bildete Sewastopol den Pivot der russischen Armee auf der Krim, und immer wenn diese Armee zahlenmäßig unterlegen war oder sonstwie in Schach gehalten wurde, gab ihr Sewastopol eine Atempause, bis neue Verstärkungen eingetroffen waren. Für die Alliierten war Sewastopol ein russischer Kriegshafen, der zerstört werden mußte, und eine Operationsbasis für die Flotte, die zu gewinnen war; für die Russen bedeutete es den Besitz der Krim, weil es die einzige Position war, die bis zum Entsatz gegen eine große, zahlenmäßige Übermacht gehalten werden mußte. So lag die letzte Entscheidung immer bei den im Felde stehenden Armeen, und die Bedeutung von Festungen hing nicht von ihrer natürlichen oder künstlichen Stärke oder ihrem eigentlichen Werk ab, sondern von dem Schutz und der Unterstützung (appui), die sie der Feldarmee gewähren konnten. Ihr Wert ist relativ geworden. Sie sind nicht mehr unabhängige Faktoren im Kriegsspiel, sondern nur wertvolle Positionen, die zuweilen mit allen Mitteln und bis aufs äußerste zu verteidigen ratsam sein kann, und zuweilen auch nicht. Das beweist die Sewastopol-Affäre mehr als jedes frühere Ereignis. Sewastopol hat, wie alle wirklich modernen Festungen, die Rolle eines ständig befestigten Lagers ausgeübt. Solange die zur Verfügung stehenden Kräfte ausreichen, um dieses Lager zu verteidigen, solange Vorräte in Fülle vorhanden, die Kommunikationen mit der Hauptoperationsbasis gesichert sind, solange vor allen Dingen dieses Lager von einer starken Armee gehalten wird und den Feind daran hindert, an ihm vorbeizuziehen, ohne seine eigene Sicherheit aufs Spiel zu setzen - solange ist das Lager von erstrangiger Bedeutung und kann einem Feind während eines ganzen Feldzuges die Pläne durchkreuzen. Aber wenn das nicht länger der Fall ist, wenn die Verteidigungskräfte eine Schlappe nach der anderen erleiden, die Vorräte knapp werden und die Gefahr besteht, daß ihnen ihre Kommunikationen abgeschnitten werden und sie selbst dem gleichen Schicksal wie die Österreicher bei Ulm im Jahre 1805 ausgesetzt sind - dann ist es höchste Zeit, die Wohlfahrt der Armee dem abstrakten Wert der Position vorzuziehen und sich sofort an einen anderen Ort zurückzuziehen, der größere Vorteile bietet.

Dies scheint jetzt die Situation der Russen zu sein. Der größere Teil ihrer ursprünglichen aktiven Armee - vierzehn Divisionen von vierundzwanzig - ist engagiert und zum Teil auf der Krim vernichtet worden, und was an Reserven und Opoltschenzen oder anderen neuen Formationen da ist, kann <535> einem Vergleich mit den Truppen, die sie verloren haben, nicht standhalten. Sie werden gewiß gut daran tun, keine weiteren Soldaten auf diese gefährliche Halbinsel zu schicken und sie lieber so schnell wie möglich aufzugeben. Die Alliierten sind ihnen zahlenmäßig und besonders auch an Mut weit überlegen. Mit Gortschakows augenblicklicher Armee auf dem Feld eine Schlacht zu wagen, würde bedeuten, eine Niederlage zu suchen. Gortschakow kann entweder von der Südküste und von dem Tal des Salgir her oder bei Eupatoria umgangen werden. Beide Operationen würden ihn zwingen, seine Kommunikation mit der Nordseite aufzugeben, ohne sie je wiederzuerlangen, weil die zahlenmäßige Überlegenheit der Alliierten von Tag zu Tag zunimmt. Es scheint so, als wäre es das beste, was Gortschakow jetzt tun könnte, so kühn wie möglich eine Front zu halten, während er alles vorbereitet, um die Nordforts in die Luft zu sprengen und seinen Gegnern durch ein oder zwei Märsche zu entwischen. Je schneller er nach Perekop kommt, desto besser. Das trifft besonders dann zu, wenn der Bericht, den wir aus Paris erhalten haben, wahr ist, daß die Alliierten unmittelbar, nachdem sie von Sewastopol Besitz ergriffen hatten, begonnen haben, eine Armee nach Eupatoria zu schicken. Wenn sie mit Energie handeln - entweder in dieser Richtung oder die Südküste und die Pässe von Tschatyr-Dag entlang -, muß die Kampagne schnell zu einem Ende kommen und die Alliierten im Besitz der Krim lassen. Soweit wir es übersehen können, sind die einzigen jetzt von ihnen zu machenden Fehler eine ernste Frontalattacke auf die russische Position oberhalb von Inkerman oder eine Woche lang Untätigkeit. Der nächste Dampfer, der morgen abend hier ankommen muß, wird sicher Antwort auf die Frage geben, was sie zu tun gedenken.