Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 542-543
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Die Widerstandskraft Rußlands

Geschrieben am 25. September 1855.


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 455 vom 29. September 1855]

<542> Die Reise des Kaisers von Rußland nach Odessa; die Übersiedelung seiner Gemahlin von Petersburg nach dem Herzen des heiligen Rußland, nach Moskau; die Zurücklassung Konstantins, des kriegerischsten seiner Brüder, am Sitz der Regierung; alle die Umstände gelten als so viel Beweise, daß Rußland zum äußersten Widerstand entschlossen ist. Nikolajew und Cherson, die zwei meist befestigten Punkte Südrußlands, bilden jetzt das Zentrum einer Reservearmee, die in diesem Augenblicke in den Gouvernements von Taurien und Cherson zusammengezogen wird. Neben den Armeereserven (Mannschaften, den 5., 6., 7. und 8. Bataillons angehörig), deren Anzahl unbestimmbar, sollen 40.000 Milizen in Nikolajew konzentriert sein, während sich zu Odessa ungefähr 25.000 Mann befinden. Es ist unmöglich, die Richtigkeit dieser Angaben zu prüfen. Soviel ist sicher: beträchtliche Streitkräfte konzentrieren sich in Südrußland.

Der strategische Plan Rußlands zieht nicht nur den Verlust der Krim in Erwägung, sondern selbst einen feindlichen Einfall in Südrußland. Darum ist die Dneprlinie als Hauptverteidigungslinie gewählt mit Cherson und Nikolajew als den ersten und Jekaterinoslaw als der nächsten Operationsbasis. Da Cherson und Nikolajew im Wirkungskreis nicht nur von Kanonenbooten, sondern selbst von Kriegsschaluppen liegen, ist eine dem innern Lande angehörige Basis nötig. Diese bietet Jekaterinoslaw. Gelegen an einem Punkte, wo der Dnepr, durch eine Biegung in seinem Laufe, einen Winkel von ungefähr 75 Graden bildet, ist es ein vorzügliches Zentrum für eine nach dem Innern retirierende Armee, die sich erst hinter dem südlichen (NO nach SW) und dann hinter dem mittleren Laufe (NW nach SO) dieses Flusses zu decken gedenkt. Eine von Perekop ins Innere von Rußland vorrückende Armee hätte erst den Dnepr bei Cherson zu forcieren und dann gegen Jekaterinoslaw zu avancieren, um dort denselben Fluß von neuem zu überschreiten. Jedes Detachement, das auf dem linken Ufer des Dnepr avancierte, wäre leicht aufzuhalten einige Meilen südlich von Jekaterinoslaw, an der Linie der Woltschja, wo sich dieser Fluß in den Hauptstrom ergießt. Zu diesen Vor- <543> teilen kommt hinzu, daß das ganze Land südlich von Jekaterinoslaw eine weite Steppe ist, 200 Meilen in der Ausdehnung, wo es ebenso schwer ist, eine Armee hindurchzuführen, als sie zu nähren, während die Stadt selbst, gelegen am nördlichen Auslauf der Steppe und dicht an den reichen, verhältnismäßig dichtbevölkerten Provinzen von Kiew und Poltawa, jeden erforderlichen Betrag von Provisionen ohne Schwierigkeit beziehen kann. Endlich hält Jekaterinoslaw die Kommunikation mit der Armee des Zentrums bei Kiew aufrecht und deckt den Weg nach Moskau. Jekaterinoslaw wird daher befestigt und mit allem Nötigen zur Proviantierung der Südarmee versehen. Nahrungsmagazine, Equipierungen, Munitionen werden hier angehäuft. Wenn dies nun einerseits für den strategischen Scharfblick der Russen spricht - und der alte General und Deserteur Jomini hat sie sicher nicht umsonst solange eingeschult -, so beweist es andererseits ebensosehr, daß sie für bedeutende Zeit nicht an Erfolge glauben. Rückten die Alliierten ins Innere von Rußland ein (von Perekop), so müßten sie allerdings Jekaterinoslaw forcieren. Darum kann es sich aber nicht in diesem Feldzuge und kaum in dem Feldzuge von 1856 handeln. Erst müßte Rußland die Krim geräumt haben, ganz Transkaukasien, den Kaukasus bis zum Terek und Kuban, Odessa ein Raub der Flammen geworden, der Hafen bei Nikolajew zerstört und die Donau bis nach Galatz hin gesäubert sein - alle diese seine äußeren Extremitäten müssen erst amputiert sein, bevor die Alliierten auch nur auf den Einfall geraten könnten, einen Feldzug ins Innere Rußlands zu unternehmen. Der weit vorsehende strategische Plan der Russen scheint daher de mauvais augure <von schlechter Vorbedeutung>.

Die alliierten Truppen bewegen sich nach dem Tal der oberen Tschornaja, um den äußersten rechten Flügel zu umgehen, bei Aitodor oder dem oberen Belbek. So berichten gleichmäßig die Depeschen Gortschakows und Pélissiers. Uns scheint dieses Manöver der Alliierten zu ostensibel ausgeführt zu werden, um wirklich in dieser Art bezweckt zu sein.

Die Aufgabe der Alliierten besteht jetzt offenbar darin, die Russen von der verschanzten Position auf den Mackenzie-Höhen zu vertreiben. Gelingt ihnen dies, so müssen die Russen das Nordfort räumen und damit die Krim. Zwischen den Mackenzie-Höhen und Simferopol gibt es nämlich keine umgehbare Position, und jenseits Simferopols hinaus bietet die Steppe, unhaltbar für große Armeen, gar keine Position dar. Ob die Russen die Krim behaupten werden, hängt daher von ihrer Fähigkeit ab, ihre jetzige Position speziell auf den Mackenzie-Höhen zu behaupten.