Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 573-576
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Traditionelle englische Politik

Geschrieben um den 28. Dezember 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4597 vom 12. Januar 1856, Leitartikel]

<573> Hinsichtlich der Außenpolitik der englischen Whigs ist eine höchst irrige Meinung verbreitet; es wird angenommen, daß sie seit eh und je die geschworenen Feinde Rußlands seien. Die Geschichte beweist jedoch klar das Gegenteil. Im Tagebuch und im Briefwechsel von James Harris, dem ersten Earl von Malmesbury - der mehrere Jahre hindurch sowohl unter Regierungen der Whigs als auch der Tories englischer Botschafter am Hofe von St. Petersburg war - und in den von Lord John Russell herausgegebenen Memoiren und Briefwechsel von Charles James Fox finden wir erstaunliche Enthüllungen einer Whig-Politik, wie sie von Fox inspiriert und eingeleitet wurde, der immer noch der politische Oberpriester der Whigs ist und von ihnen ebensosehr verehrt wird wie Mohammed von den Osmanen. Um nun zu verstehen, wie es kam, daß sich England Rußland gegenüber geradezu sklavisch benommen hat, wollen wir uns für einen Augenblick Dingen zuwenden, die sich vor Fox' Eintritt ins Kabinett zutrugen.

Aus dem Tagebuch des Earl von Malmesbury ersehen wir die begierige, ungeduldige Hast, mit der England bestrebt war, während unseres Unabhängigkeitskrieges auf Rußland einen diplomatischen Druck auszuüben. Sein Botschafter war instruiert worden, mit allen Mitteln eine Offensiv- und Defensivallianz zu schließen. Die Zarin gab beim ersten Mal eine ausweichende Antwort; schon das Wort "offensiv" war Katharina verhaßt; und es war notwendig, zunächst den Lauf der Dinge abzuwarten. Schließlich erkannte der englische Diplomat, daß das Hindernis in Rußlands Wunsch nach englischer Unterstützung bei seiner Türkenpolitik bestand. Harris machte seiner Regierung klar, daß es erforderlich sei, den russischen Appetit zu <574> ermuntern, wolle man sich seine Hilfe gegen die amerikanischen Kolonien sichern.

Im folgenden Jahr nimmt der Vorschlag von Sir James Harris eine mildere Form an; er bittet nicht um eine Allianz. Ein russischer, von der Kriegsflotte unterstützter Protest, um Frankreich und Spanien in Schach zu hatten, wird für England annehmbar sein. Die Kaiserin erwidert, daß sie keinerlei Veranlassung zu einer solchen Maßnahme sehen könne. Der Botschafter hält ihr mit kriecherischer Schmeichelei entgegen, daß

"ein russischer Herrscher des 17. Jahrhunderts wohl derartiges geäußert haben könnte, aber seit jener Zeit sei Rußland eine tonangebende Macht in Europa geworden, und die Angelegenheiten Europas seien auch die Angelegenheiten Rußlands. Wenn Peter der Große die russische Flotte mit der Englands verbündet sehen könnte, würde er gestehen, nicht länger der erste der russischen Herrscher gewesen zu sein"

und so weiter in dieser Tonart.

Die Kaiserin akzeptierte diese Schmeichelei, verwarf aber die Vorschläge des Botschafters. Zwei Monate später, am 5. November 1779, schrieb König Georg seiner "Lady Schwester", der Zarin, in altmodischem Französisch einen eigenhändigen Brief. Er bestünde nicht länger auf einen formalen Protest, sondern wäre mit einer einfachen Demonstration zufrieden.

"Das bloße Erscheinen eines Teils der kaiserlichen Flotte" - so lauteten seine königlichen Worte - "wird genügen, um den Frieden Europas wiederherzustellen und zu bestätigen, und die gegen England verbündete Liga wird sofort verschwinden."

Hat je eine andere Großmacht mit solch erniedrigender Demut um Hilfe gebeten?

Aber diese ganze Scharwenzelei Englands verfehlte ihren Zweck und im Jahre 1780 wurde die bewaffnete Neutralität verkündet. England schluckte geduldig die Pille. Um die Dosis schmackhafter zu machen, hatte die Regierung vorher verkündet, daß die Handelsschiffe Rußlands nicht von englischen Kreuzern angehalten oder behindert werden sollten. So verzichtete England damals ohne jeden Zwang auf das Recht der Durchsuchung fremder Schiffe. Bald danach versicherte der englische Diplomat dem Kabinett zu St. Petersburg, daß britische Kriegsschiffe die Untertanen der Kaiserin bei ihren Handelsgeschäften nicht belästigen würden, und 1781 bezeichnete es Sir James Harris als ein Verdienst der englischen Admiralität, daß sie die zahlreichen Fälle übersähe, in denen russische Schiffe den Feinden Englands Schiffsvorräte brächten, und daß die Admiralität, wo auch immer solche Schiffe irrtümlicherweise festgehalten oder behindert worden seien, großzügig Schaden- <575> ersatz für das Anhalten geleistet habe. Jedes nur denkbare Mittel wurde von dem englischen Kabinett angewandt, um Rußland zu überreden, auf die Neutralität zu verzichten. Lord Stormont schreibt daher an den Botschafter in St. Petersburg:

"Gibt es denn gar kein wertvolles Objekt, mit dem man den Ehrgeiz der Kaiserin herausfordern könnte, keine ihrer Flotte und ihrem Handel vorteilhafte Konzession, die sie bewegen könnte, uns gegen unsere rebellischen Kolonien zu helfen?"

Harris erwidert, daß ein solcher Köder die Abtretung von Minorca sein könnte. 1781 wurde Minorca Katharina angeboten - aber nicht angenommen.

Im März 1782 trat Fox ins Kabinett ein, und sogleich wurde dem russischen Botschafter in London mitgeteilt, daß England bereit sei, mit Holland zu verhandeln, dem das vorhergehende Ministerium den Krieg erklärt hatte auf Grund des Vertrages von 1674, in dem zugestanden war, daß freie Schiffe auch die Waren frei machen, und daß es umgehend einen Waffenstillstand herbeiführen würde. Harris wird von Fox angewiesen, diesen Schritt als einen Beweis der Ehrerbietung darzustellen, welche der König den Wünschen und Meinungen der Kaiserin zu bezeigen wünscht. Fox aber begnügt sich nicht damit. In einer Kabinettssitzung wird dem König nahegelegt, den russischen Botschafter, der in der Nähe des Hofes residiert, wissen zu lassen, daß Seine Majestät die Ansichten der Kaiserin zu teilen und die engsten Beziehungen zum Hofe von St. Petersburg herzustellen und die Neutralitätserklärung zur Grundlage von Abkommen zwischen beiden Ländern zu machen wünscht.

Bald danach trat Fox zurück. Sein Nachfolger, Lord Grantham, bestätigte, daß die ziemlich wohlwollende Haltung St. Petersburgs gegenüber London die Frucht der Politik von Fox sei; und als Fox wieder ins Kabinett eintrat, äußerte er die Meinung, daß eine Allianz mit den Mächten des Nordens die von einem aufgeklärten Engländer zu verfolgende Politik wäre und es für immer bleiben sollte. In einem seiner Briefe an Harris erinnert er ihn daran, daß die Freundschaft mit dem Hof von St. Petersburg für Großbritannien von größter Wichtigkeit ist, und versichert, daß es das stolzeste Ziel seiner ersten kurzen Regierungszeit war, der Kaiserin zu zeigen, wie aufrichtig das englische Ministerium bestrebt war, ihrem Rat zu folgen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Fox hegte eine außerordentliche Vorliebe für eine Allianz mit Rußland. Er riet dem König, an die Kaiserin zu schreiben und sie zu er suchen, den Angelegenheiten Englands ihre gnädige Aufmerksamkeit zu schenken.

<576> 1791 sagte Fox, der sich damals in der Opposition befand, im Parlament, daß

"es einem britischen Haus durchaus neu sei, die wachsende Bedeutung Rußlands als einen besorgniserregenden Umstand dargestellt zu hören. Zwanzig Jahre zuvor hatte England russische Schiffe ins Mittelmeer geführt. Er" (Fox) "habe dem König geraten, Rußland bei der Annektierung der Krim nicht im Wege zu sein. England bestärkte Rußland in dem Bestreben, seine eigene Vergrößerung auf den Ruinen der Türkei zu begründen. Es wäre Narrheit, auf Rußlands größer gewordene Macht im Schwarzen Meer eifersüchtig zu sein."

Im Verlaufe der gleichen Debatte bemerkte Burke, der damals zu den Whigs gehörte:

"Es ist durchaus neu, das Türkische Reich als einen Teil des europäischen Gleichgewichts zu betrachten";

und diese Ansichten vertrat Burke, den jede Partei in England für das Musterbild des britischen Staatsmannes hält, in weit schärferen Worten immer wieder bis ans Ende seiner politischen Laufbahn, und sie wurden von dem großen Führer der Whigs, der dann die Leitung jener Partei übernahm, aufgegriffen.

Während Lord Greys Regierung in den Jahren 1831 und 1832 nahm dieser Gelegenheit, in einer Debatte zur Außenpolitik seiner Überzeugung Ausdruck zu geben, daß es der Türkei selbst und dem Glück Europas zum Vorteil gereiche, wenn diese Macht in dem Russischen Reich aufginge. War denn damals Rußland weniger barbarisch, als es jetzt dargestellt wird? War es damals in einem geringeren Ausmaße ein Land jenes abscheulichen Despotismus, den die heutigen Whigs jetzt in so schrecklichen Farben ausmalen. Und dennoch begehrte man in kriecherischer Unterwürfigkeit nicht allein eine Allianz mit Rußland, sondern englische liberale Staatsmänner unterstützten diese gleiche Absicht, für die man sie jetzt so heftig brandmarkt,