Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12. Berlin/DDR 1961. S. 137-142.

Karl Marx

Parlamentsdebatten über die Feindseligkeiten in China

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4962 vom 16. März 1857]

<137> London, 27. Februar 1857

Die Resolution des Earls of Derby und die des Herrn Cobden, in denen die Feindseligkeiten in China verurteilt werden, sind laut Meldungen im Parlament eingebracht worden, und zwar die eine am 24. Februar im Oberhaus und die andere am 27 Februar im Unterhaus. Die Debatte im Oberhaus wurde an dem Tage beendet, an dem die im Unterhaus begann. Aus jener ging das Kabinett Palmerston mit der verhältnismäßig schwachen Majorität von 36 Stimmen hervor, was dem Kabinett einen empfindlichen Schlag versetzte. Die Debatte im Unterhaus kann zu seinem Sturz führen. Aber welches Interesse man der Diskussion im Unterhaus auch immer entgegenbringen mag, die Debatte im Oberhaus hat den polemischen Teil der Kontroverse erschöpft, wobei Lord Derby und Lord Lyndhurst mit ihren meisterhaften Reden die Beredsamkeit Herrn Cobdens, Sir E. Bulwers, Lord John Russells und tutti quanti <ihresgleichen> schon vorweggenommen haben.

Die einzige Autorität in Rechtsfragen auf seiten der Regierung, der Lordkanzler <Cranworth>, bemerkte:

"Wenn England keine gesetzlichen Grundlagen bezüglich der 'Arrow' vorzuweisen hat, sind alle Maßnahmen von Anfang bis Ende unberechtigt."

Derby und Lyndhurst bewiesen einwandfrei, daß England in Sachen dieser Lorcha überhaupt keine Rechtsgrundlage hatte. Die Linie ihrer Polemik deckt sich so sehr mit der in den Spalten der "Tribune" nach der ersten Veröffentlichung der englischen Depeschen, daß ich sie hier auf einen sehr kleinen Raum zusammendrängen kann.

<138> Worin besteht denn nun die Beschuldigung gegen die chinesische Regierung, die den Vorwand für das Blutbad in Kanton abgeben soll? In der Verletzung des Artikels 9 des Zusatzvertrages von 1843. Dieser Artikel schreibt vor, daß jeder beliebige chinesische Rechtsbrecher, der sich in der Kolonie Hongkong oder an Bord eines britischen Kriegsschiffs oder eines britischen Handelsschiffs befindet, nicht von den chinesischen Behörden selbst verhaftet werden darf, sondern vom britischen Konsul angefordert und von ihm den einheimischen Behörden ausgeliefert werden muß. Chinesische Piraten wurden im Kanton-Fluß an Bord der Lorcha "Arrow" von chinesischen Offizieren ohne Intervention des britischen Konsuls festgenommen. Er erhebt sich nun die Frage: War die "Arrow" überhaupt ein britisches Schiff? Sie war, wie Lord Derby beweist,

"von Chinesen gebaut, von Chinesen gekapert, von Chinesen verkauft, von Chinesen gekauft und bemannt und in chinesischem Besitz".

Wie wurde nun das chinesische Fahrzeug in ein britisches Handelsschiff verwandelt? Indem man in Hongkong einen britischen Registerbrief oder eine Segellizenz erwarb. Die Rechtsgültigkeit dieses Registerbriefs stützt sich auf eine im März 1855 erlassene Verfügung der örtlichen Gesetzgebung von Hongkong. Diese Verfügung verletzte nicht nur den zwischen England und China bestehenden Vertrag, sondern hob sogar das englische Recht auf. Sie war daher null und nichtig. Einen gewissen Anstrich englischen Rechts hätte sie höchstens durch die Handelsschiffahrtsakte erhalten können, die jedoch erst zwei Monate nach Erlaß der Verfügung angenommen wurde. Und selbst mit den gesetzlichen Bestimmungen dieser Akte war sie niemals in Einklang gebracht worden. Die Verfügung, auf Grund deren die Lorcha "Arrow" ihren Registerbrief erhalten hatte, war also lediglich ein Fetzen Papier. Doch selbst diesem wertlosen Stück Papier zufolge hatte die "Arrow" diesen Schutz verwirkt, weil sie die vorgeschriebenen Bestimmungen verletzt hatte und die Lizenz abgelaufen war. Dieser Punkt wird sogar von Sir J. Bowring <1> zugegeben. Aber - so wird behauptet - ganz gleich, ob die "Arrow" ein englisches Schiff war oder nicht, auf jeden Fall habe sie die englische Flagge gehißt, und diese Flagge sei beleidigt worden. Erstens <2>, wenn die Flagge gehißt war, so war das ungesetzlich. Aber war sie überhaupt gehißt? In diesem Punkt weichen die englischen und chinesischen Erklärungen stark voneinander ab.

<139> Die Erklärungen der Chinesen sind jedoch durch beglaubigte Aussagen des Kapitäns und der Mannschaft der portugiesischen Lorcha Nr. 83, die von den Konsuln beigebracht wurden, bestätigt worden. Mit Bezug auf diese Aussagen stellt "The Friend of China" vom 13. November fest:

"In Kanton ist es jetzt stadtbekannt, daß die britische Flagge sechs Tage vor der Festnahme an Bord der Lorcha nicht gehißt war."

Damit wird außer dem Rechtsgrund nun auch der Ehrenpunkt hinfällig.<3>

Lord Derby war so taktvoll, sich in seiner Rede der gewohnten Witzelei völlig zu enthalten und so seiner Beweisführung einen streng juristischen Charakter zu gehen. Er brauchte sich jedoch durchaus nicht anzustrengen, um seine Rede mit tiefer Ironie zu erfüllen. Der Earl of Derby, das Haupt des englischen Erbadels, plädiert gegen den ehemaligen Doktor und jetzigen Sir John Bowring, den Lieblingsjünger Benthams; er plädiert für Menschlichkeit gegen den professionellen Menschenfreund; er verteidigt die wahren Interessen der Nationen gegen den geschworenen Utilitarier, der auf dem I-Tüpfelchen diplomatischer Etikette besteht; er appelliert an die "vox populi vox dei" <"Volkes Stimme [als] Gottes Stimme"> gegen den Mann der Theorie vom "größten Nutzen für die größte Zahl"; der Nachfahre der Eroberer predigt Frieden, wo ein Mitglied der Friedensgesellschaft "Feuer und Tod" predigt; ein Derby brandmarkt die Taten der britischen Flotte als "erbärmliches Vorgehen" und als "unrühmliche Operationen", wo ein Bowring ihr gratuliert zu den feigen Gewalttätigkeiten, die auf keinerlei Widerstand stießen, zu "ihren glänzenden Errungenschaften. zu ihrem unvergleichlichen Heldentum und ihrer hervorragenden Verbindung von militärischem Können und Tapferkeit".

Diese Kontraste wirkten um so stärker satirisch, je weniger der Earl of Derby sich ihrer bewußt zu sein schien. Er hatte jene große historische Ironie auf seiner Seite, die nicht dem Witz einzelner, sondern der Komik geschichtlicher Situationen entspringt. In seiner ganzen Geschichte hat das englische Parlament wohl noch niemals einen derartigen intellektuellen Sieg eines Aristokraten über einen Parvenü zu verzeichnen gehabt.

Lord Derby erklärte zu Beginn, daß er "sich auf Angaben und Dokumente stützen müsse, die ausschließlich von jener Seite stammten, deren Verhalten er gerade einer Kritik unterziehen wolle", und daß er willens sei, "seine Anklage auf diesen Dokumenten aufzubauen". Nun ist mit Recht bemerkt worden, daß die Dokumente, die der Öffentlichkeit von der Regierung vorgelegt worden sind, es dieser gestattet hätten, die ganze Verantwortung auf <140> ihre Untergebenen zu schieben. Dies trifft in solchem Maße zu, daß die Angriffe der parlamentarischen Gegner der Regierung ausschließlich gegen Bowring und Konsorten gerichtet waren und sogar von der englischen Regierung hätten gebilligt werden können, ohne deren Position im geringsten zu gefährden. Ich zitiere Lord Derby:

"Ich möchte über Dr. Bowring nichts Unehrerbietiges sagen. Er mag ein Mann von hoher Bildung sein; doch was die Erlaubnis zum Betreten von Kanton betrifft, so scheint er mir förmlich von einer fixen Idee besessen." ("Hört, hört!" und Lachen.) "Ich glaube, er träumt sogar von seinem Einzug in Kanton. Ich glaube, daran denkt er als erstes am Morgen, als letztes am Abend und, wenn er gerade wach ist, auch mitten in der Nacht." (Lachen.) "Ich glaube, ihm wäre kein Opfer zu groß, jede Unterbrechung des Handels würde er verschmerzen, kein Blutvergießen würde er bedauern, wenn dem die gewaltigen Vorteile entgegenstünden, die dem Ereignis entwachsen würden, daß es Sir J. Bowring gelänge, offiziell im Yamun <Amtssitz> von Kanton empfangen zu werden." (Gelächter.)

Als nächster sprach Lord Lyndhurst:

"Sir J. Bowring, der ein hervorragender Philanthrop und dazu Gesandter ist" (Gelächter), "gibt selbst zu, daß der Registerbrief ungültig ist und daß die Lorcha nicht berechtigt war, die englische Flagge zu hissen. Beachten Sie, was er dazu sagt: 'Das Schiff hatte keinen rechtlichen Schutz, aber das wissen die Chinesen nicht. Um Gottes willen, verraten Sie es ihnen nicht.'" ("Hört, hört!") "Er beharrt auch darauf, denn sinngemäß sagt er: Wir wissen, daß die Chinesen sich keiner Vertragsverletzung schuldig gemacht haben; aber wir werden es ihnen nicht sagen. Wir werden auf Entschädigung und auf Rückgabe der Leute, die sie festgenommen haben, unter Einhaltung einer bestimmten Form bestehen. Zu welchem Mittel soll man greifen, wenn die Leute nicht dieser Form entsprechend zurückgegeben werden? Ganz einfach: man kapert eine Dschunke, eine Kriegsdschunke. Und wenn das nicht genügt, dann werden mehr gekapert, bis wir sie auf die Knie gezwungen haben, obwohl wir wissen, daß das Recht auf ihrer Seite und die Gerechtigkeit nicht auf unserer Seite ist." ("Hört, hört!") ... "Hat es je ein abscheulicheres, schamloseres Verhalten gegeben, hat je ein Staatsmann im Dienste der britischen Regierung - ich sage nicht betrügerischere, aber was dem in unserem Lande gleichkommt - lügenhaftere Vorwände vorgebracht?" ("Hört, hört!") ... "Es ist höchst merkwürdig, daß Sir J. Bowring sich einbildete, er hätte das Recht, Krieg zu erklären. Ich kann verstehen, daß ein Mann in einer solchen Position die Macht haben muß, defensive Operationen durchzuführen, aber offensive Operationen aus einem solchen Grunde - unter solchen Vorwänden - durchzuführen, gehört zu den ungewöhnlichsten Vorfällen, die die Weltgeschichte aufzuweisen hat ... Aus den Dokumenten, die uns gestern vorgelegt worden sind, geht ganz klar hervor, daß Sir J. Bowring von dem Augenblick an, da er auf den Posten berufen wurde, den er jetzt innehat, <141> seinen Ehrgeiz darein setzte, das zuwege zu bringen, was seinen Vorgängern gänzlich mißlungen war, nämlich seinen Einzug in den Mauern Kantons zu halten ... Nur auf die Ausführung seines Plans bedacht, sich Einlaß in Kanton zu verschaffen, hat er das Land ohne jeden triftigen Grund in den Krieg gestürzt; und mit welchem Ergebnis? Eigentum britischer Staatsangehöriger, das sich auf die riesige Summe von 1.500.000 Dollar beläuft, ist jetzt in der Stadt Kanton konfisziert; darüber hinaus sind unsere Faktoreien bis auf den Grund niedergebrannt. und alles das dank der verderblichen Politik eines der verderbtesten aller Männer.

'Doch der Mensch, der stolze Mensch,
In kleine, kurze Majestät gekleidet,
Vergessend, was am mind'sten zu bezweifeln,
Sein gläsern Wesen - gleich dem zorn'gen Affen,
Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,
Daß Engel weinen.'
<Shakespeare, "Maß für Maß", II. Aufzug, 2. Szene>"

Und schließlich Lord Grey:

"Wenn Ihre Lordschaften die Dokumente einsehen wollen, so werden Sie feststellen, daß der Gouverneur Yeh, als Sir John Bowring um eine Unterredung mit ihm nachsuchte, bereit war, sich mit ihm zu treffen; daß er aber zu diesem Zweck das Haus des Kaufmanns Houqua, außerhalb der Stadt bestimmte ... Sir John Bowrings Würde verlangte, daß er den Bevollmächtigten an keinem andren Ort als in seiner offiziellen Residenz aufsuchte ... Ich erwarte, wenn schon nichts anderes, so zumindest ein positives Resultat von der Annahme der Resolution, nämlich die sofortige Abberufung Sir J. Bowrings."

Eine ähnliche Behandlung wurde Sir J. Bowring im Unterhaus zuteil, und Cobden eröffnete seine Rede sogar mit einer feierlichen Absage an seine "zwanzigjährige Freundschaft" mit Sir J . Bowring.

Die wörtlichen Auszüge aus den Reden der Lords Derby, Lyndhurst und Grey beweisen, daß Lord Palmerstons Regierung, um den Angriff zu parieren, Sir J. Bowring nur fallenzulassen brauchte, anstatt sich mit diesem "hervorragenden Philanthropen" zu identifizieren. Daß sie so glimpflich davongekommen war, verdankte sie weder der Nachsicht noch der Taktik ihrer Gegner, sondern ausschließlich den Dokumenten, die dem Parlament vorlagen. Das wird augenscheinlich sowohl bei flüchtiger Durchsicht der Dokumente selbst als auch aus den Debatten, denen sie als Grundlage dienten.

Kann es irgendeinen Zweifel an Sir J.Bowrings "fixer Idee" in bezug auf seinen Einzug in Kanton geben? Ist es nicht bewiesen, daß dieses Individuum, wie die Londoner "Times" sich ausdrückt,

"einen Kurs gänzlich nach eigenem Ermessen eingeschlagen hat, ohne den Rat seiner Vorgesetzten in der Heimat einzuholen und ohne sich nach deren Politik zu richten"?

<142> Warum sollte nun Lord Palmerston zu einem Zeitpunkt, wo seine Regierung wankt, wo ihm alle möglichen Schwierigkeiten im Wege stehen - Finanzschwierigkeiten, Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem persischen Krieg, Schwierigkeiten wegen der Geheimverträge, der Wahlreform, der Koalition -, wo er sich darüber im klaren ist, daß die Augen des Hauses "ernster, doch weniger bewundernd denn je auf ihn gerichtet sind", warum sollte er ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählen, um zum ersten Mal in seinem politischen Leben einem anderen Menschen und noch dazu einem Untergebenen unwandelbare Treue zu bezeugen, auf die Gefahr hin, seine eigene Position nicht nur zu verschlechtern, sondern sie völlig zu untergraben? Warum sollte er seinen nagelneuen Enthusiasmus so weit treiben, daß er sich selbst als Sühneopfer für die Sünden eines Dr. Bowring darbringt? Selbstverständlich hält kein vernünftiger Mensch den edlen Viscount solcher romantischen Abirrungen für fähig. Die politische Linie, die er in diesem chinesischen Konflikt bezogen hat, liefert den schlüssigen Beweis für die Unzulänglichkeit der Dokumente, die er dem Parlament vorgelegt hat. Neben den veröffentlichten Dokumenten müssen noch Geheimdokumente und geheime Instruktionen vorhanden sein, die beweisen dürften, daß, wenn Dr. Bowring tatsächlich von der "fixen Idee" besessen war, in Kanton einzuziehen, hinter ihm das kühl berechnende Oberhaupt von Whitehall stand, das dessen fixe Idee schürte und sie für seine eigenen Zwecke aus dein Zustand latenter Wärme in den verzehrenden Feuers verwandelte.


Textvarianten

<1> In der Handschrift folgt hier: der dem Konsul Parkes geschrieben hat, daß die "Arrow" keinen rechtlichen Anspruch auf britischen Schutz hatte <=

<2> In der Handschrift: Aber erstens hatte sie kein Recht, die englische Flagge zu hissen, wie Sir J. Bowring selbst in seinem Brief an Konsul Parkes, mit dem Datum Hongkong, 11. Oktober, zugegeben hat. <=

<3> Hier endet das handschriftliche Fragment des Marxschen Rohentwurfs <=