Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 143-148.

Karl Marx

Eine Niederlage des Kabinetts Palmerston

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4970 vom 25. März 1857]

<143> London, 6. März 1857

Die Debatte über China, die vier Nächte hindurch getobt hatte, fand schließlich ihren Niederschlag in einem Mißtrauensvotum des Unterhauses gegen das Kabinett Palmerston. Palmerston beantwortet das Mißtrauen mit einer "Strafauflösung". Er bestraft die Abgeordneten, indem er sie nach Hause schickt.

Die ungeheure Erregung, die in der letzten Nacht der Debatte sowohl innerhalb des Parlamentsgebäudes herrschte als auch unter den Massen, die sich in den anliegenden Straßen versammelt hatten, war nicht nur darauf zurückzuführen, daß hier schwerwiegende Interessen auf dem Spiel standen, sondern mehr noch auf den Charakter der Partei, über die hier Gericht gehalten wurde. Palmerstons Regierungsweise war nicht die eines gewöhnlichen Kabinetts. Sie entsprach einer Diktatur. Seit Beginn des Krieges mit Rußland hatte das Parlament seine konstitutionellen Funktionen fast aufgegeben; und auch nach Friedensschluß hatte es nie gewagt, sie wieder geltend zu machen. Durch einen allmählichen und kaum wahrnehmbaren Niedergang war es auf die Position eines Corps législatif abgesunken, das sich von der echten, bonapartistischen Ausgabe nur durch Vorspiegelung falscher Tatsachen und hochtrabende Ansprüche unterschied. Schon die Bildung des Koalitionskabinetts war ein Ausdruck der Tatsache, daß die alten Parteien, von deren Reibungen das Funktionieren der Parlamentsmaschinerie abhängt, nicht mehr vorhanden waren. Der Krieg trug dazu bei, daß diese Ohnmacht der Parteien, wie sie zuerst mit dem Koalitionskabinett zum Ausdruck kam, sich in der Allmacht eines einzelnen Mannes verkörperte, der während eines halben Jahrhunderts politischer Tätigkeit nie einer Partei angehört, aber sich immer aller Parteien bedient hatte. Wäre der Krieg mit <144> Rußland nicht dazwischengekommen, so hätte schon allein der Verfall der alten offiziellen Parteien zu einer Umbildung geführt. Durch die Gewährung politischer Rechte zumindest für einen kleinen Teil jener Volksmassen, die noch immer kein Wahlrecht und keine politische Vertretung besitzen, wäre frisches Blut und damit neues Laben in das Parlament gekommen. Der Krieg setzte diesem natürlichen Prozeß ein jähes Ende. Der Krieg bewirkte, daß die Neutralisierung der alten parlamentarischen Widersprüche nicht den Massen zugute kam, sondern ausschließlich einem einzelnen Manne Vorteil brachte. An Stelle der politischen Emanzipation des britischen Volkes bekamen wir die Diktatur Palmerstons. Der Krieg war die mächtige Triebkraft, die dieses Resultat hervorbrachte, und Krieg war das einzige Mittel, es zu festigen. Der Krieg war daher zu einer unerläßlichen Voraussetzung der Diktatur Palmerstons geworden. Der Krieg mit Rußland war im britischen Volk populärer als der Pariser Friede. Warum nutzte dann aber der britische Achilles, unter dessen Auspizien sich die schmähliche Niederlage am Redan und die Übergabe von Kars ereigneten, diese Gelegenheit nicht aus? Offensichtlich, weil eine andere Möglichkeit nicht in seiner Macht lag. Daher sein Pariser Vertrag, den er unter Hinweis auf die Unstimmigkeiten mit den Vereinigten Staaten verteidigte, daher seine Expedition nach Neapel, seine scheinbaren Zänkereien mit Bonaparte, sein Einfall in Persien und seine Metzeleien in China.

Durch die Annahme eines Mißtrauensvotums gegen Palmerston entzog ihm das Unterhaus die Mittel zur Aufrechterhaltung seiner usurpierten Macht. Diese Abstimmung war daher nicht irgendeine parlamentarische Abstimmung, sondern eine Rebellion, ein gewaltsamer Versuch zur Wiedererlangung der verfassungsmäßigen Rechte des Parlaments. Dieses Gefühl beherrschte das Haus, und welche besonderen Gründe die verschiedenen Fraktionen der heterogenen Mehrheit, die aus Anhängern Derbys, Peels, Russells, aus Manchester-Leuten und aus sogenannten Unabhängigen bestand, auch bewegt haben mögen - alle versicherten aus ehrlicher Überzeugung, daß keine gewöhnliche Verschwörung gegen das Kabinett sie in der gleichen Lobby vereinigt hat. Darin aber bestand die Quintessenz der Verteidigung Palmerstons. Die Schwäche seiner Position verdeckte er mit einem argumentum ad misericordiam <Apell an die Barmherzigkeit>, indem er sich als Opfer einer prinzipienlosen Verschwörung hinstellte.

Diese Verteidigung, die typisch für Old-Bailey-Sträflinge ist, hätte kaum treffender zurückgewiesen werden können als durch die Rede Disraelis:

<145> "Wenn es einen Menschen gibt", sagte er, "der keine Koalition ertragen kann, so ist es der Premierminister. Und doch ist gerade er der Prototyp politischer Koalitionen ohne ausgesprochene Prinzipien. Sehen Sie sich doch an, wie seine Regierung zusammengesetzt ist! Erst im vergangenen Jahr unterstützten alle Mitglieder seines Kabinetts in diesem Hause eine Gesetzesvorlage, die, glaube ich, von einem ehemaligen Kollegen eingebracht worden war. Sie wurde im anderen Hause von einem Mitglied der Regierung abgelehnt, das zur Entschuldigung seiner augenscheinlichen Inkonsequenz kühn erklärte, der Premierminister habe von ihm bei seinem Amtsantritt keinerlei bindende Stellungnahme zu irgendeinem Problem verlangt." (Gelächter.) "Der edle Lord aber ist in Unruhe versetzt und empört über diese prinzipienlose Vereinigung! Der edle Lord kann Koalitionen nicht ertragen! Der edle Lord hat nur mit jenen zusammengewirkt, in deren Kreis er politisch groß gezogen worden ist." (Beifallsrufe und Gelächter.) "Dieser kleine Herkules" (zeigt auf Lord Palmerston) "hat bei den Whigs in der Wiege gelegen, und wie folgerichtig ist doch sein politisches Leben gewesen!" (Erneutes Gelächter.) "Rückblickend auf das letzte halbe Jahrhundert, in dessen Verlauf er sich zu nahezu jedem Grundsatz bekannte und sich mit nahezu jeder Partei liierte, hat der edle Lord heute abend seine warnende Stimme gegen Koalitionen erhoben, da er fürchtet, eine Mehrheit des Unterhauses, darunter einige der hervorragendsten Mitglieder des Hauses - ehemalige Kollegen des edlen Lords -, könnte eine Politik gegenüber China mißbilligen, die mit Gewalttätigkeit begonnen hat und, wenn fortgesetzt, im Verderben enden wird. Dies, Sir, ist die Position des edlen Lords. Und was hat der edle Lord uns zur Verteidigung dieser Politik zu sagen gehabt? Hat er auch nur einen einzigen Grundsatz aufgestellt, nach dem sich unsere Beziehungen mit China richten sollten? Hat er auch nur eine einzige politische Maxime geprägt, die uns in dieser Zeit der Gefahr und Verwirrung leiten könnte? Im Gegenteil, er hat die Schwäche und Haltlosigkeit seiner Position dadurch bemäntelt, daß er sagte - man höre -, er sei das Opfer einer Verschwörung. Er brachte es nicht fertig, sein Verhalten in standhafter, eines Staatsmannes würdiger Weise zu verteidigen. Er wiederholte kleinliche Bemerkungen aus dem Verlauf der Debatte, die ich wahrlich schon für erledigt und abgetan gehalten hatte, und dann stellte er sich plötzlich hin und sagte, das Ganze wäre eine Verschwörung! An Mehrheiten gewöhnt, die ohne die Verkündung eines einzigen Grundsatzes zustande kamen, die vielmehr das Ergebnis einer zufälligen Lage waren und der Tatsache entstammten, daß der edle Lord seinen Platz auf der Regierungsbank hat, ohne zu irgendeiner außen- oder innenpolitischen Frage Stellung nehmen zu müssen, die dem Lande am Herzen liegen oder die öffentliche Meinung der Nation beeinflussen könnte, wird der edle Lord schließlich feststellen müssen, daß die Zeit gekommen ist, wo er, um ein Staatsmann zu sein, eine Politik haben müßte; und daß es nicht angeht, sich in dem gleichen Augenblick bei dem Lande zu beklagen, er sei das Opfer einer Verschwörung, wo die ständigen Mißgriffe seines Kabinetts aufgedeckt werden und alle, die gewöhnt sind, die Meinung des Hauses zu beeinflussen, das Kabinett gemeinsam verurteilen."

Es wäre jedoch völlig falsch, anzunehmen, die Debatten wären interessant <146> gewesen, weil solche brennenden Interessen damit verknüpft waren. Nacht für Nacht wurde debattiert, und noch immer war keine Abstimmung erfolgt. Die Stimmen der Gladiatoren gingen während der Schlacht größtenteils im Gemurmel und Getöse der privaten Konversation unter. Nacht für Nacht redeten die placemen die Zeit tot, um weitere vierundzwanzig Stunden für Intrigen und Wühlarbeit zu gewinnen. In der ersten Nacht hielt Cobden eine kluge Rede. Dasselbe taten Bulwer und Lord John Russell; aber der Attorney-General <Kronanwalt (Bethell, Staatsanwalt für Schottland)> hatte sicherlich recht, als er ihnen sagte,

"er könne auch nicht für einen Augenblick ihre Überlegungen oder ihre Argumente zu diesem Thema mit den Argumenten vergleichen, die an anderer Stelle vorgebracht worden wären".

Die zweite Nacht wurde durch die gewichtigen Plädoyers der Rechtsvertreter beider Seiten, des Lord-Advokaten <Moncreiff>, des Herrn Whiteside, und des Attorney-General, in Anspruch genommen. Zwar machte Sir James Graham den Versuch, die Debatte zu beleben, es gelang ihm aber nicht. Als dieser Mann, der im Grunde genommen die Ermordung der Bandieras verschuldet hat, scheinheilig ausrief, "er habe mit dem unschuldig vergossenen Blut nichts zu tun", war ein halbunterdrücktes, ironisches Lachen das Echo auf sein Pathos. Die dritte Nacht war noch langweiliger. Da redete zunächst Sir F. Thesiger, der Attorney-General in spe, er antwortete dem Attorney-General in re <im Amt>, dann redete Serjeant <hoher Anwalt des gemeinen Rechts> Shee; er versuchte Sir F. Thesiger eine Antwort zu gehen. Dem folgte die bäurische Beredsamkeit des Sir John Pakington. Dann sprach der von Kars her bekannte General Williams, den das Haus nur wenige Minuten schweigend anhörte, um ihn nach diesen wenigen Minuten spontan fallenzulassen in der klaren Erkenntnis, daß er nicht der Mann war, für den es ihn gehalten hatte. Schließlich sprach Sir Sidney Herbert. Dieser elegante Zögling Peelscher Staatskunst hielt eine Rede, die wirklich ausgefeilt, pointiert und voller Antithesen war, aber eher die Argumente der placemen verhöhnte, als neue, eigne Argumente vorzubringen. In der letzten Nacht aber erhob sich die Debatte auf eine Höhe, die dem Unterhause angemessen ist. Roebuck, Gladstone, Palmerston und Disraeli waren, jeder auf seine Weise, großartig.

Die Schwierigkeit bestand darin, von dem nur vorgeschobenen Gegenstand der Debatte, Sir J. Bowring, wegzukommen und die Anklage gegen Lord Palmerston selbst zu richten, indem man ihn persönlich für das "Blutbad unter den Unschuldigen" verantwortlich macht. Das wurde schließlich <147> erreicht. Da die bevorstehenden Parlamentswahlen in England sich hauptsächlich um diesen Punkt drehen werden, dürfte es nicht schaden, wenn die Ergebnisse der Diskussion auf einen möglichst kleinen Raum zusammengedrängt werden. Einen Tag nach der Niederlage des Kabinetts und einen Tag, bevor es die Auflösung des Unterhauses bekanntgab, verstieg sich die Londoner "Times" zu folgenden Behauptungen:

"Die Nation wird wohl kaum wissen, welche Frage nun eigentlich beantwortet werden soll. Hat das Kabinett des Lords Palmerston das Vertrauen des Volkes infolge verschiedener Maßnahmen eingebüßt, die am anderen Ende der Welt durchgeführt wurden, sechs Wochen, bevor man hier überhaupt etwas darüber erfuhr, und zwar von Staatsbeamten, die von einer früheren Regierung eingesetzt worden waren? Erst zu Weihnachten erfuhren die Minister von der Angelegenheit, bis dahin wußten sie darüber genausowenig wie jeder andere. Wahrlich, hätte sich die Geschichte auf dem Monde abgespielt, oder wäre sie ein Märchen aus 'Tausendundeiner Nacht' gewesen, so könnte das jetzige Kabinett nicht weniger damit zu tun haben ... Soll die Regierung des Lords Palmerston verurteilt und abgesetzt werden wegen einer Tat, die sie niemals begangen hat und auch nicht begehen konnte, wegen einer Tat, von der sie nicht eher erfuhr als alle anderen und die noch dazu von Leuten begangen worden war, die sie nicht ernannt und mit denen sie bis jetzt keinerlei Verbindung aufnehmen konnte?"

Dieser unverschämten Rodomontade einer Zeitung, die das Blutbad von Kanton unentwegt als eine hervorragende Leistung der Palmerstonschen Diplomatie gerechtfertigt hat, können wir einige Tatsachen entgegenhalten, die während einer ausgedehnten Debatte mühsam ans Licht gezogen und nicht ein einziges Mal von Palmerston oder seinen Untergebenen widerlegt worden sind. Als Lord Palmerston 1847 an der Spitze des Ministerium des Auswärtigen stand, war seine erste Depesche über den Zutritt in Kanton, der den britischen Hongkong-Behörden zu gewähren sei, in drohendem Ton gehalten. Sein Übereifer wurde jedoch von seinem Kollegen Earl Grey, dem damaligen Kolonialminister, gedämpft, der ein kategorisches Verbot an die Flottenkommandeure sowohl in Hongkong als auch in Ceylon erließ, worin er ihnen befahl, unter keinen Umständen offensive Handlungen gegen die Chinesen ohne ausdrückliche Ermächtigung aus England zuzulassen. Am 18. August 1849, kurz vor seiner Entlassung aus dem Kabinett Russell, sandte Lord Palmerston jedoch folgende Depesche an den britischen Bevollmächtigten in Hongkong:

"Die hohen Beamten in Kanton und die Regierung in Peking sollten sich keiner Täuschung hingeben ... Die Nachsicht, die die britische Regierung bisher geübt hat, entspringt nicht dem Gefühl der Schwäche, sondern dem Bewußtsein überlegener Stärke ... Die britische Regierung weiß sehr gut, daß die britischen Streitkräfte, falls es die Situation erfordern sollte, imstande wären, die Stadt Kanton zu zerstören, ohne einen <148> Stein auf dem anderen zu lassen, und damit den Einwohnern dieser Stadt eine exemplarische Bestrafung aufzuerlegen."

So kündigte sich das Bombardement von Kanton, das 1856 unter Lord Palmerston als Premierminister erfolgte, schon 1849 in dem letzten Schreiben an, das Lord Palmerston als Außenminister des Kabinetts Russell nach Hongkong gesandt hatte. In der dazwischenliegenden Zeit hatten es alle Regierungen abgelehnt, eine Lockerung des Verbots zu gestatten, wonach es den britischen Vertretern in Hongkong untersagt war, auf ihre Zulassung in Kanton zu dringen. So tat es Earl of Granville im Kabinett Russell, so Earl of Malmesbury im Kabinett Derby und so der Duke of Newcastle im Kabinett Aberdeen. Schließlich wurde 1852 Dr. Bowring, der bis dahin Konsul in Hongkong war, zum Bevollmächtigten ernannt. Seine Ernennung erfolgte, wie Herr Gladstone erklärt, durch Lord Clarendon, ein Werkzeug Palmerstons, ohne Kenntnis oder Zustimmung des Kabinetts Aberdeen. Als Bowring zum ersten Mal die Frage aufwarf, die jetzt zur Debatte steht, erklärte ihm Clarendon in einer Depesche vom 5. Juli 1854, er wäre zwar im Recht, sollte aber warten, bis Seestreitkräfte für sein Vorhaben verfügbar wären. England befand sich damals im Krieg mit Rußland. Als sich die Angelegenheit mit der "Arrow" ereignete, hatte Bowring gerade vom Friedensschluß gehört, und tatsächlich wurden Seestreitkräfte zu ihm entsandt. Daraufhin wurde der Streit mit Yeh vom Zaune gebrochen. Nachdem Clarendon einen Bericht über die Ereignisse empfangen hatte, teilte er Bowring am 10. Januar mit:

"Die Regierung Ihrer Majestät ist völlig mit der Handlungsweise einverstanden, zu der Sir M. Seymour und Sie sich entschlossen haben."

Die in diesen wenigen Worten enthaltene Billigung war von keinerlei weiteren Instruktion begleitet. Im Gegenteil, Herr Hammond, der an den Sekretär der Admiralität schrieb, war von Lord Clarendon beauftragt, Admiral Seymour die Bewunderung der Regierung auszusprechen über

"die Mäßigung, mit der er vorgegangen war, und über die Achtung, die er dem Leben und Eigentum der Chinesen gezollt hatte".

Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß das Blutbad in China von Lord Palmerston selbst geplant war. Unter welcher Flagge er jetzt die Wähler des Vereinigten Königreiches um sich zu sammeln hofft, ist eine Frage, die ich vielleicht in einer weiteren Korrespondenz beantworten darf, da diese bereits das übliche Maß überschritten hat.