Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 162-165.

Karl Marx

[Englische Greueltaten in China]

Geschrieben um den 22. März 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4984 vom 10. April 1857, Leitartikel]

<162> Als vor einigen Jahren im Parlament das entsetzliche Foltersystem in Indien aufgedeckt wurde, stellte Sir James Hogg, einer der Direktoren der Höchst Ehrenwerten Ostindischen Kompanie, die kühne Behauptung auf, daß die vorgebrachten Anschuldigungen unbegründet seien. Spätere Untersuchungen bewiesen jedoch, daß sie auf Tatsachen beruhen, die den Direktoren hätten wohlbekannt sein müssen, und Sir James blieb nichts anderes übrig, als entweder "vorsätzliche Unkenntnis" oder "strafbare Kenntnis" hinsichtlich der furchtbaren Anklage gegen die Kompanie zuzugeben. Lord Palmerston, der jetzige englische Premierminister, und Earl of Clarendon, der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, scheinen sich gerade jetzt in einer ähnlichen, wenig beneidenswerten Lage zu befinden. Auf dem kürzlich stattgefundenen Bankett des Oberbürgermeisters von London machte der Premierminister in seiner Rede den Versuch, die an den Chinesen begangenen Greueltaten zu rechtfertigen:

"Hätte die Regierung in diesem Falle ein Vorgehen gebilligt, das nicht zu rechtfertigen war, würde sie unzweifelhaft einen Weg beschritten haben, der die Mißbilligung des Parlaments und des Landes verdient hätte. Wir aber waren, umgekehrt, davon überzeugt, daß dieses Vorgehen notwendig und unvermeidlich war. Uns dünkte, daß unserem Lande ein großes Unrecht zugefügt worden war. Uns dünkte, daß unsere Landsleute auf einem weit entfernten Teil des Erdballs einer Folge von Beleidigungen, Gewalttätigkeiten und Greueltaten ausgesetzt gewesen waren, die nicht mit Stillschweigen übergangen werden konnten." (Beifallsrufe.) "Uns dünkte, daß die vertraglichen Rechte unseres Landes verletzt worden waren und daß die mit der Verteidigung unserer Interessen in jenem Teil der Welt beauftragten Männer nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet waren, diese Gewalttätigkeiten zu ahnden, soweit die Macht, die sie in Händen hielten, sie dazu in den Stand setzte. Uns dünkte, wir würden das <163> Vertrauen, das die Bürger unseres Landes in uns gesetzt hatten, enttäuscht haben, hätten wir das Vorgehen nicht gebilligt, das wir für richtig hielten und das unter den gleichen Umständen zu wiederholen wir für unsere Pflicht halten würden." (Beifallsrufe.)

Mögen sich auch das englische Volk und die weite Welt von solchen gefälligen Erklärungen noch so sehr täuschen lassen, seine Lordschaft selbst hält sie sicherlich nicht für wahr, und tut er es dennoch, so offenbart er damit eine vorsätzliche Unkenntnis, die fast ebenso unentschuldbar ist wie "strafbare Kenntnis". Seit der erste Bericht über englische Feindseligkeiten in China hier eintraf, haben die englischen Regierungsblätter und ein Teil der amerikanischen Presse die Chinesen fortgesetzt mit unzähligen Beschuldigungen überhäuft: summarische Anklagen wegen Verletzung von Vertragsverpflichtungen, Beleidigungen der englischen Flagge, Demütigung der in ihrem Lande lebenden Ausländer und dergleichen. Jedoch ist weder eine einzige klar umrissene Anklage vorgebracht, noch eine einzige Tatsache zur Bekräftigung dieser Beschuldigungen angeführt worden, mit Ausnahme des Falles der Lorcha "Arrow", und in diesem Falle hat man den Sachverhalt durch parlamentarische Redekunst so falsch dargestellt und beschönigt, daß jeder irregeführt werden muß, der sich ernsthaft bemüht, das Für und Wider dieser Frage zu begreifen.

Die Lorcha "Arrow" war ein kleines chinesisches Schiff mit chinesischer Besatzung, das aber im Dienste einiger Engländer stand. Die Lorcha hatte eine befristete Lizenz erhalten, die englische Flagge zu führen, eine Lizenz, die noch vor der angeblichen "Beleidigung" erloschen war. Das Schiff soll zum Salzschmuggel verwendet worden sein. An Bord befanden sich einige recht üble Gestalten - chinesische Piraten und Schmuggler -, die als alte Verbrecher von den Behörden schon lange gesucht wurden. Während das Schiff mit beschlagenen Segeln bei Kanton vor Anker lag, ohne irgendeine Flagge zu führen, erfuhr die Polizei von der Anwesenheit dieser Verbrecher an Bord und verhaftete sie; genau das gleiche hätte sich hier ereignet, wenn unserer Hafenpolizei bekannt geworden wäre, daß sich Flußdiebe und Schmuggler auf einem einheimischen oder ausländischen Fahrzeug in der Nähe verborgen hielten. Da aber diese Verhaftung die Geschäfte der Eigentümer störte, ging der Kapitän zum britischen Konsul und beschwerte sich. Der junge, erst kürzlich ernannte Konsul, der, wie wir erfahren, ein Mensch von aufbrausender und reizbarer Gemütsart ist, stürzt in propria persona <in eigener Person> an Bord, gerät in einen aufgeregten Wortwechsel mit den Polizisten, die ledig- <164> lich ihrer Pflicht nachgekommen sind, und erreicht folglich gar nichts. Von dort stürzt er zurück zum Konsulat, verlangt in einem Schreiben an den Generalgouverneur der Provinz Kwangtung kategorisch Wiedergutmachung und Entschuldigung und schickt eine Mitteilung an Sir John Bowring und Admiral Seymour in Hongkong, worin er darlegt, daß er und die Flagge seines Landes in unerträglicher Weise beleidigt worden seien, und in recht eindeutigen Worten zu verstehen gibt, daß nun der so lange erwartete Augenblick für eine militärische Demonstration gegen Kanton gekommen sei.

Gouverneur Yeh antwortet höflich und ruhig auf die anmaßenden Forderungen des aufgeregten jungen britischen Konsuls. Er teilt den Grund für die Verhaftung mit und bedauert, wenn es in dieser Angelegenheit zu Mißverständnissen gekommen sein sollte. Gleichzeitig bestreitet er entschieden die leiseste Absicht, die britische Flagge zu beleidigen, und schickt die Leute zurück, die er, obwohl rechtmäßig verhaftet, nicht um den Preis eines so ernsten Mißverständnisses weiter in Haft behalten wolle. Aber das genügt Herrn Konsul Parkes nicht: Entweder erhalte er eine offizielle Entschuldigung und eine Wiedergutmachung in aller Form, oder Gouverneur Yeh müsse die Folgen tragen. Alsdann erscheint Admiral Seymour mit der britischen Flotte, und nun beginnt eine andere Korrespondenz: rechthaberisch und drohend von seiten des Admirals, kühl, ruhig und höflich von seiten des chinesischen Beamten. Admiral Seymour verlangt eine persönliche Unterredung in der Stadt Kanton. Gouverneur Yeh erklärt, dies stehe im Widerspruch zu allen bisherigen Gepflogenheiten, und Sir George Bonham hätte eingewilligt, daß eine solche Forderung nicht erhoben werden sollte. Notfalls würde er bereitwillig einer Unterredung zustimmen, die, wie üblich, außerhalb der Stadtmauern stattfinden oder den Wünschen des Admirals in jeder anderen Weise entsprechen sollte, sofern sie nicht chinesischen Gepflogenheiten und althergebrachter Etikette zuwiderliefen. Dies aber paßt dem kriegslüsternen Repräsentanten der britischen Macht im Osten nicht.

Aus den hier kurz angeführten Gründen ist dieser in höchstem Grade ungerechte Krieg angezettelt worden; diese Feststellung wird durch die offiziellen Berichte, die jetzt dem englischen Volk vorliegen, vollauf bestätigt. Die harmlosen, friedlich ihrer Beschäftigung nachgehenden Bürger Kantons wurden niedergemetzelt, ihre Wohnstätten dem Erdboden gleichgemacht und die Gebote der Menschlichkeit mit Füßen getreten unter dem fadenscheinigen Vorwand, daß "Leben und Eigentum englischer Bürger durch das aggressive Vorgehen der Chinesen gefährdet sind"! Die britische Regierung und das britische Volk, zumindest der Teil, der sich veranlaßt gefühlt hat, sich mit der Frage zu beschäftigen, wissen, wie falsch und hohl <165> solche Beschuldigungen sind. Ein Versuch ist gemacht worden, die Untersuchung von der Hauptfrage abzulenken und im Volk die Vorstellung zu erwecken, eine lange Folge von Beleidigungen vor dem Zwischenfall mit der Lorcha "Arrow" bilde allein schon einen ausreichenden casus belli <Kriegsgrund>. Aber diese summarischen Behauptungen entbehren jeder Grundlage. Jedem Übergriff, über den sich die Engländer beschweren, halten die Chinesen mindestens neunundneunzig Übergriffe entgegen, über die sie Klage zu führen haben.

Wie still ist doch die englische Presse zu den schändlichen Vertragsbrüchen, täglich von Ausländern begangen werden, die unter britischem Schutz in China leben. Wir hören nichts über den ungesetzlichen Opiumhandel, der Jahr für Jahr auf Kosten von Menschenleben und Moral die Kassen des britischen Schatzamtes füllt. Wir hören nichts über die ständigen Bestechungen untergeordneter Beamter, wodurch die chinesische Regierung um ihre rechtmäßigen Einkünfte aus der Wareneinfuhr und -ausfuhr betrogen wird. Wir hören nichts über die oft genug mit dem Tode endenden Quälereien, begangen an den irregeleiteten und versklavten Auswanderern, die in die schlimmste Sklaverei an den Küsten von Peru und in kubanische Knechtschaft verkauft werden. Wir hören nichts über die Einschüchterungsmethoden, die oft gegen die schüchternen Chinesen angewandt, oder über die Laster, die von Ausländern über die offenen Häfen eingeschleppt werden. Wir hören von alledem und vielen anderen Dingen nichts, weil erstens die meisten Menschen außerhalb Chinas sich wenig um die sozialen und moralischen Verhältnisse jenes Landes kümmern und weil zweitens Politik und Klugheit gebieten, keine Fragen aufzuwerfen, wenn keine finanziellen Vorteile dabei herausspringen. So schluckt das englische Volk, dessen Horizont nicht weiter reicht als bis zum Krämerladen, wo es seinen Tee kauft, bereitwillig alle Verdrehungen, die das Kabinett und die Presse ihm vorzusetzen belieben.

Inzwischen ist in China der schwelende Haß, der sich während des Opiumkrieges gegen die Engländer entzündete, zu einer solchen Flamme der Feindseligkeit emporgelodert, daß höchstwahrscheinlich keinerlei Friedens- und Freundschaftserklärungen ihn löschen können.