Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 194-197.

Friedrich Engels

Die Reformen in der russischen Armee

Geschrieben am 16. April 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5006 vom 6. Mai 1857, Leitartikel]

<194> Als der jüngst vergangene Krieg in Europa ausbrach, wiesen eine große Anzahl von Militärs nicht ohne ein gewisses Gefühl der Ehrfurcht auf die wunderbare Organisation der russischen Armee hin. Während man in Frankreich und England Brigaden, Divisionen und Armeekorps aus Elementen formieren mußte, die bis dahin ohne jede Verbindung untereinander gewesen, während Kommandeure für die Führung von Truppenteilen ernannt werden mußten, welche sie vorher nie gesehen hatten, und Stäbe aus Offizieren zu bilden waren, die aus allen Ecken des Landes kamen - war in Rußland die riesige Kriegsmaschine in all ihren Untergliederungen schon jahrelang zuvor vollkommen fertig aufgestellt worden; jedes Regiment hatte seinen unveränderlichen Platz in der Organisation des Ganzen; jeder Truppenteil, von der Kompanie bis zum Armeekorps, hatte seinen festen Kommandeur und jede Division von einiger Bedeutung ihren regulären Stab. Es hieß, daß die Maschine tatsächlich in funktionsfähigem Zustand sei; sie warte nur auf das Kommandowort, auf das Anlassen des Dampfes, um sich mit größter Leichtigkeit zu bewegen; jeder Zahn, jedes Rad, jede Schraube, jede Riemenscheibe, jeder Riemen, jedes Ventil und jeder Hebel befinde sich an seinem Platz, tue seine Arbeit und nichts weiter. Das jedenfalls, sagte man uns, würden wir sehen. Leider aber sahen wir etwas ganz anderes. Die Armeekorps waren kaum jemals vollständig, da ganze Divisionen und noch öfter Brigaden nach entfernten Kriegsschauplätzen detachiert waren, während die hauptsächlichen Korps zur Auffüllung mit anderen Truppen vermengt wurden. Es erwies sich, daß das Bemühen, soweit wie möglich die Elemente eines jeden Korps, einer jeden Division und Brigade zusammenzuhalten, die Bewegungen der Armee auf dem Marsch nicht weniger hemmte, als das strenge <195> Reglement, das für die Schlachtordnung festgelegt war; und schließlich waren da die peinlich genauen Unterteilungen im Kommando mit all den befehlshabenden Korps-, Divisions- und Brigadegeneralen und ihren entsprechenden Stäben, die alle ihren Truppen wohlvertraut, gut miteinander bekannt und in ihren eigenen Ämtern und Pflichten gut zu Hause waren - all dies stellte sich als eine einzige ungeheure Verschwörung heraus, um die Regierung um ihre Gelder und den Soldaten um seine Rationen, seine Kleidung und sein Wohlergehen zu beschwindeln.

Wenn diese Tatsachen noch einer offiziellen Bestätigung bedurften, so hat die russische Regierung sie eben gegeben. Die neue Organisation der russischen Armee ist in erster Linie und hauptsächlich auf die Zerstörung dieser Brutstätten der im großen betriebenen Unterschlagungen, der untergeordneten Stäbe und Hauptquartiere, gerichtet. Die Stäbe der Armeekorps wie der Brigaden werden abgeschafft. Ja, sogar die Bezeichnung Brigade verschwindet aus der russischen Armee. Alle sechs Linienkorps werden unter das Kommando eines einzigen Mannes gestellt, des Fürsten M. D. Gortschakow I., des ehemaligen Befehlshabers auf der Krim. Jedes Korps hat zwar einen kommandierenden General; aber da er keinen Stab hat - d.h. keine Mittel zur tatsächlichen Durchführung der Einzelheiten dieses Kommandos -, ist er im besten Falle nur der Inspekteur seines Korps, gleichsam eine Art Kontrolleur der fünf unter ihm stehenden Divisionsgenerale. In Wirklichkeit sind die Generale der dreißig Divisionen (achtzehn Infanterie-, sechs Kavallerie- und sechs Artilleriedivisionen), die die sogenannte "erste Armee" bilden, unmittelbar vom Oberbefehlshaber abhängig; und in jeder Division sind wieder die Obersten der vier Infanterie- oder Kavallerieregimenter und die Batteriechefs unmittelbar vom Divisionsgeneral abhängig. Die Brigadegenerale, durch diese neue Einteilung völlig überflüssig, sind dem Stab des Divisionsgenerals als seine Stellvertreter und Helfer im Kommando zugeteilt. Der Grund für dies alles ist deutlich genug.

Auf Fürst Gortschakow kann sich der Zar verlassen, und Gortschakow seinerseits kann sich bis zu einem gewissen Grade auf die Offiziere seines persönlichen Stabes verlassen. Bei der bürokratischen Genauigkeit und den hierarchischen Abstufungen des früheren Systems endete der direkte Einfluß des Oberbefehlshabers bei den Korpsführern. Diese und ihre Stäbe hatten die Befehle an die Divisionen zu übermitteln, deren Stäbe sie wiederum an die Brigaden übergaben, von deren Stäben sie die Regimentsobersten erreichten, die auf ihre tatsächliche Ausführung achteten. Dies war nichts anderes als ein gut organisiertes System für Betrug, Unterschleif und Diebstahl; und je besser der Armeedienst selbst organisiert war, um so organi- <196> sierter und erfolgreicher war die Plünderung der Staatskasse. Das zeigte sich während des Krieges beim Marsch des ersten, zweiten und dritten Armeekorps aus Polen nach dem Süden; und nur um diesem Übelstand abzuhelfen, hat die russische Regierung alle Korpskommandeure bloß dem Namen nach bestehen lassen und die Brigadekommandeure gänzlich abgeschafft. Es gibt jetzt nur noch zwei vermittelnde Rangstufen zwischen dem Oberbefehlshaber und den Kompanieoffizieren, nämlich den Divisionsgeneral und den Oberst; und es gibt nur noch einen Stab, den der Division, der zu Zwecken des Unterschleifs ausgenutzt werden kann. Wenn es der Regierung gelingen sollte, aus den Divisionsstäben die Gewohnheit des Plünderns auszumerzen, kann sie mit Recht erwarten, daß sie diese Gewohnheit nach und nach auch aus den Regimentsstäben verbannt.

So wird die gesamte Organisation der Armee umgestürzt, indem man aus der Kette zwei Glieder herausnimmt; die Notwendigkeit dessen wird sich gewiß in Kriegszeiten erweisen. Die russische Regierung erkennt allerdings, daß weder die Korpsführer noch die Brigadegenerale vollständig aus ihrer Militärhierarchie ausgeschlossen werden können. Der Korpsführer wird beibehalten, aber als eine reine Puppe, während der Brigadegeneral ganz von seinem Kommando abgelöst und zu einem bloßen Anhängsel des Divisionskommandeurs gemacht wird. Das bedeutet nichts anderes, als daß die Befehlsgewalt dieser Offiziere während des Friedens aufgehoben wird, während sie zur Verwendung bereitgehalten werden, sobald ein Krieg ausbricht. In der Tat sind in der einzigen Armee, die noch dem Feind gegenübersteht - in der kaukasischen -, die Brigaden bestehen geblieben. Bedarf es noch anderer Beweise, daß die Abschaffung der Brigaden im übrigen Teil der Armee nur ein Versuch ist, die Brigadeführer und ihre Stäbe unschädlich zu machen, solange der Frieden währt?

Eine andere wichtige Änderung ist die Auflösung des großen Dragonerkorps, das aus zehn Regimentern zu je acht Schwadronen bestand und sowohl für Infanterie- wie für Kavalleriedienst ausgebildet war. Diesem Korps war es zugedacht, eine hervorragende Rolle in allen großen Schlachten zu spielen. Wenn der entscheidende Augenblick gekommen war, sollte es mit der Schnelligkeit der Kavallerie auf eine wichtige Stellung in der Flanke oder in der Nachhut des Feindes stoßen, absitzen, sich in sechzehn Infanteriebataillone verwandeln und, unterstützt von ihrer schweren bespannten Artillerie, die Stellung halten. Während des ganzen letzten Krieges trat dieses Korps nicht in Erscheinung, und die totale Unfähigkeit dieser hybriden Truppen zur aktiven Kriegführung scheint allerorts erkannt worden zu sein. Die Folge ist die Umwandlung dieser ainphibienartigen, berittenen Fuß- <197> soldaten in reguläre Kavallerie und ihre Aufteilung, in zwölf Regimentern zu je acht Schwadronen, auf die sechs Armeekorps der "ersten Armee". Damit sind die beiden großen Schöpfungen, mit deren Hilfe Zar Nikolaus sich seinen Platz unter den größten Militärorganisatoren seiner Zeit zu verschaffen gehofft, innerhalb weniger Jahre nach seinem Tod verschwunden.

Neben anderen Veränderungen wollen wir die Aufstellung eines zweiten Schützenbataillons für jedes Armeekorps und die Bildung von zwei neuen Infanterieregimentern in der kaukasischen Armee erwähnen. Durch die erste Neuerung ist dem großen Mangel an leichter Kavallerie bis zu einem gewissen Grade abgeholfen Die zweite zeigt, daß Rußland entschlossen ist, den kaukasischen Konflikt so schnell wie möglich zu beenden. Aus demselben Grunde werden die Reservebrigaden der kaukasischen Korps noch zusammengehalten. Es ist daher wahrscheinlich, daß man jetzt bereits in jenem Gebiet einen Feldzug von einiger Wichtigkeit eröffnet hat.