Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 230-233.

Karl Marx

Der Aufstand in der indischen Armee

Geschrieben am 30. Juni 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5065 vom 15. Juli 1857, Leitartikel]

<230> Das römische divide et impera <teile und herrsche> war die Grundregel, mit der Großbritannien es ungefähr hundertundfünfzig Jahre lang zuwege brachte, die Macht über sein indisches Reich aufrechtzuerhalten. Die Feindschaft unter den verschiedenen Völkerschaften, Stämmen, Kasten, Bekenntnissen und Herrschaftsgebieten, deren Gesamtheit jene geographische Einheit bildet, die man Indien nennt, blieb stets die Existenzgrundlage der britischen Herrschaft. In späterer Zeit haben die Bedingungen dieser Herrschaft allerdings eine Änderung erfahren. Mit der Eroberung von Sind und des Pandschab hatte das englisch-indische Reich nicht nur seine natürlichen Grenzen erreicht, sondern es hatte auch die letzten Reste der unabhängigen indischen Staaten niedergetreten. Alle kriegerischen einheimischen Stämme waren unterworfen, alle ernsthaften inneren Konflikte waren beendet, und die kürzliche Einverleibung Audhs hat zur Genüge bewiesen, daß die Überbleibsel der sogenannten unabhängigen indischen Fürstentümer nur geduldet existieren. Hieraus ergab sich eine große Veränderung in der Position der Ostindischen Kompanie. Sie griff jetzt nicht mehr einen Teil Indiens mit Hilfe eines anderen Teils an, sondern stand an der Spitze des Landes, und ganz Indien lag zu ihren Füßen. Nicht länger erobernd, war sie der Eroberer geworden. Die ihr zur Verfügung stehenden Armeen sollten nicht mehr ihren Herrschaftsbereich ausdehnen, sondern nur behaupten. Aus Soldaten waren sie zu Polizisten geworden; 200.000.000 Eingeborene werden von einer Eingeborenenarmee von 200.000 Mann, deren Offiziere Engländer sind, gezügelt, während diese Eingeborenenarmee ihrerseits von einer englischen Armee in Schach gehalten wird, die nur 40.000 Mann zählt. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, daß der Gehorsam <231> des indischen Volkes auf der Treue der Eingeborenenarmee beruht, mit deren Aufstellung die britischen Machthaber gleichzeitig das erste allgemeine Widerstandszentrum schufen, ein Zentrum, wie es das indische Volk nie zuvor besessen hatte. Wie weit man sich auf diese Eingeborenenarmee verlassen kann, das beweisen ganz deutlich ihre kürzlichen Meutereien, die unmittelbar dann ausbrachen, als der Krieg gegen Persien die Präsidentschaft Bengalen fast völlig aller europäischen Soldaten entblößt hatte. Meutereien in der indischen Armee hatte es auch vorher gegeben, doch diese Revolte ist durch eigentümliche und verhängnisvolle Züge gekennzeichnet. Es ist das erste Mal, daß Sepoy-Regimenter ihre europäischen Offiziere umbrachten, daß Mohammedaner und Hindus ihre gegenseitigen Antipathien aufgaben und sich gegen ihre gemeinsamen Herren zusammenschlossen, daß "Unruhen, die bei den Hindus ausbrachen, tatsächlich damit endeten, daß in Delhi ein mohammedanischer Kaiser auf den Thron gesetzt wurde", daß die Meuterei nicht auf wenige Gebiete beschränkt blieb und daß zuguterletzt die Revolte in der englisch-indischen Armee zu einer Zeit ausbrach, als die großen asiatischen Völker von einer allgemeinen Unzufriedenheit mit der englischen Herrschaft erfaßt waren, denn der Aufstand der bengalischen Armee stand ohne Zweifel in engem Zusammenhang mit dem Krieg in Persien und China.

Der Grund für die Unzufriedenheit, die sich vor vier Monaten in der bengalischen Armee auszubreiten begann, soll die Befürchtung der Eingeborenen sein, daß sich die Regierung in ihre Religion einmischen wolle. Die Ausgabe von Patronen, deren Papphülsen, wie es hieß, mit Rindertalg und Schweinefett bestrichen waren, weshalb das obligatorische Einbeißen der Hülsen von den Eingeborenen als Verletzung ihrer religiösen Gebräuche angesehen wurde, gab das Signal zu den örtlichen Unruhen. Am 22. Januar brach infolge Brandstiftung ein Feuer in den Kantonnements unweit von Kalkutta aus. Am 25. Februar meuterte das 19. Eingeborenenregiment in Berhampur, wo die Soldaten die an sie ausgeteilten Patronen zurückwiesen. Am 31. März wurde dieses Regiment aufgelöst; Ende März ließ das in Barrackpur stationierte 34.Sepoy-Regiment zu, daß einer seiner Soldaten sich mit geladener Muskete auf dem Exerzierplatz vor der Front aufstellte, und, nachdem er seine Kameraden zur Meuterei aufgerufen hatte, wurde er nicht daran gehindert, den Adjutanten und den Feldwebel seines Regiments anzugreifen und zu verwunden. Während des Handgemenges, das nun folgte, sahen Hunderte von Sepoys untätig zu, während andere an dem Kampf teilnahmen und die Offiziere mit ihren Gewehrkolben angriffen. Darauf wurde dieses Regiment ebenfalls aufgelöst. Der Monat April war durch Brandstiftungen in mehreren Kantonnements der bengalischen Armee bei Allaha- <232> bad, Agra, Ambala, durch eine Meuterei des 3. leichten Kavallerieregiments in Mirat und durch ähnliche Ausbrüche der Unzufriedenheit in den Armeen von Madras und Bombay gekennzeichnet. Anfang Mai bereitete sich eine Emeute in Lakhnau, der Hauptstadt von Audh, vor, die jedoch durch das schnelle Eingreifen von Sir H. Lawrence verhindert wurde. Am 9. Mai wurden die Meuterer des 3. leichten Kavallerieregiments von Mirat abgeführt, um die verschieden langen Gefängnisstrafen anzutreten, zu denen sie verurteilt worden waren. Am Abend des folgenden Tages versammelten sich die Soldaten des 3. Kavallerieregiments zusammen mit den zwei Eingeborenenregimentern, dem 11. und dem 20., auf dem Exerzierplatz, töteten die Offiziere, die sich bemühten, sie zu beruhigen, setzten die Kantonnements in Brand und erschlugen alle Engländer, deren sie habhaft werden konnten. Obgleich die britischen Einheiten der Brigade ein Infanterie- und ein Kavallerieregiment und eine überlegene Abteilung reitender und Fußartillerie zusammenbrachten, war es den Engländern nicht möglich, sich vor Einbruch der Dunkelheit in Marsch zu setzen. Sie fügten den Meuterern nur wenig Schaden zu und ließen sie ins offene Feld entkommen und das etwa vierzig Meilen von Mirat entfernte Delhi besetzen. Dort stieß die Eingeborenengarnison zu ihnen, die aus dem 38., 54. und dem 74. Infanterieregiment und einer Kompanie der Eingeborenenartillerie bestand. Die britischen Offiziere wurden angegriffen, alle Engländer, die den Rebellen in die Hände fielen, ermordet und der Erbe des verstorbenen Moguls von Delhi zum König von Indien ausgerufen. Von den Truppen, die man zur Unterstützung nach Mirat sandte, wo die Ordnung wiederhergestellt worden war, ermordeten die am 15. Mai dort eingetroffenen sechs Kompanien eingeborener Sappeure und Minierer ihren Kommandeur, Major Frazer, und verließen sofort die Stadt, von Abteilungen der reitenden Artillerie und mehreren Abteilungen des 6. Dragoner-Garderegiments verfolgt. Fünfzig oder sechzig Meuterer wurden erschossen, den übrigen gelang es jedoch, nach Delhi zu entkommen. In Firospur im Pandschab meuterten das 57. und 45. Regiment der Eingeboreneninfanterie, die Meuterei wurde jedoch niedergeschlagen. Private Briefe aus Lahor berichten, daß sich alle Eingeborenentruppen in offenem Aufruhr befinden. Am 19. Mai unternahmen die in Kalkutta stationierten Sepoys den erfolglosen Versuch, Fort William in ihren Besitz zu bringen. Drei aus Buschir in Bombay eingetroffene Regimenter wurden unverzüglich nach Kalkutta in Marsch gesetzt.

Wenn man sich diese Ereignisse vor Augen hält, ist man bestürzt über das Verhalten des britischen Befehlshabers in Mirat: sein spätes Eintreffen auf dem Schlachtfeld ist noch nicht einmal so unbegreiflich wie die lässige <233> Art und Weise, in der er die Meuterer verfolgte. Da Delhi auf dem rechten und Mirat auf dem linken Ufer des Dschamna liegt - und die beiden Ufer bei Delhi nur durch eine einzige Brücke verbunden sind -, wäre nichts leichter gewesen, als den Fliehenden den Rückzug abzuschneiden.

Unterdessen ist in allen Bezirken, die vom Aufruhr erfaßt sind, das Kriegsrecht verkündet worden; Truppenverbände, die hauptsächlich aus Eingeborenen bestehen rücken konzentrisch vom Norden, Osten und Süden gegen Delhi vor; die benachbarten Fürsten sollen sich für die Engländer erklärt haben; Briefe sind nach Ceylon geschickt worden, um die auf dem Wege nach China befindlichen Truppen unter Lord Elgin und General Ashburnham aufzuhalten; und schließlich sollen in etwa vierzehn Tagen 14.000 britische Soldaten von England nach Indien entsandt werden. Welche Hindernisse das Klima Indiens zu dieser Jahreszeit und der völlige Mangel an Transportmitteln den Bewegungen der britischen Truppen auch immer entgegenstellen mögen, die Rebellen zu Delhi werden sehr wahrscheinlich ohne längeren Widerstand unterliegen. Doch selbst dann ist dies nur der Prolog zu einer höchst furchtbaren Tragödie, die sich noch abspielen wird.