Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 234-237.

Karl Marx

Die Lage in Europa
[Die Finanzlage Frankreichs]

Geschrieben am 10. Juli 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5075 vom 27. Juli 1857, Leitartikel]

<234> Die einschläfernde Trägheit, die seit der Beendigung des Orientalischen Krieges <Krimkrieges> die Physiognomie Europas bestimmt hatte, weicht jetzt sehr schnell einem lebhaften und sogar fieberhaften Aussehen. Da ist Großbritannien mit seiner sich in der Perspektive abzeichnenden Reformbewegung und seinen Schwierigkeiten in Indien. Die Londoner "Times" erzählt zwar der Welt, daß außer denen, die Freunde in Indien haben,

"die britische Öffentlichkeit im ganzen die Ankunft der nächsten Nachrichten aus Indien mit ebenso viel Interesse erwartet, wie wir einen überfälligen Dampfer aus Australien oder das Resultat eines Aufstands in Madrid erwarten würden".

Am selben Tag jedoch läßt dieselbe "Times" in ihrem Finanzartikel die Maske stolzer Gleichgültigkeit fallen und verrät die wirklichen Gefühle John Bulls in folgender Weise:

"Eine anhaltende Depression auf dem Aktienmarkt, wie die jetzt herrschende, ist angesichts der ununterbrochenen Zunahme der Edelmetallvorräte in den Banken und der Aussicht auf eine gute Ernte fast ohne Beispiel. Die Beunruhigung hinsichtlich Indiens überschattet alle anderen Betrachtungen, und wenn morgen irgendeine ernste Nachricht eintreffen sollte, würde sie höchstwahrscheinlich eine Panik hervorrufen."

Über den Ablauf der Ereignisse in Indien zu spekulieren, würde gerade jetzt nutzlos sein, wo man mit jeder Post authentische Nachrichten erwarten kann. Es ist aber offensichtlich, daß im Falle eines ernsthaften revolutionären Ausbruchs auf dem europäischen Kontinent England sich unfähig erweisen würde, die hochmütige Position wiedereinzunehmen, die es 1848 und 1849 <235> innehatte, da es durch den Krieg in China und die Revolten in Indien von seinen Soldaten und Schiffen entblößt ist. Andererseits kann England es sich nicht leisten, abseits zu bleiben, weil der Orientalische Krieg und das Bündnis mit Napoleon es jüngst an die kontinentale Politik geschmiedet haben, und das zur selben Zeit, da der völlige Zerfall seiner traditionellen politischen Parteien und der wachsende Antagonismus zwischen den Klassen des Landes, die ihm den Reichtum einbringen, sein soziales Gefüge mehr denn je krampfartigen Störungen aussetzen. Als 1848/1849 seine Macht wie ein Alpdruck auf der europäischen Revolution lastete, hatte England zuerst ein wenig Angst vor dieser Revolution, dann vertrieb es sich durch ihren Anblick seine angeborene Langeweile, dann verriet es sie ein wenig, dann kokettierte es ein wenig mit ihr, und schließlich machte es sich ernsthaft daran, Geld aus ihr zu schlagen. Man kann sogar sagen, daß sein industrielles Wohlergehen, das durch die Handelskrise von 1846/1847 recht derb angeschlagen worden war, bis zu einem gewissen Grade mit Hilfe der Revolution von 1848 wiederhergestellt wurde. Indessen wird die Revolution auf dem Kontinent für England weder ein Schauspiel sein, an dem es sich ergötzt, noch ein Unglück, mit dem es spekuliert, sondern eine ernsthafte Prüfung, die es bestehen muß.

Wenn wir den Ärmelkanal überqueren, sehen wir, daß die Oberfläche der Gesellschaft unter der Wirkung der unterirdischen Brände bebt und schwankt. Die Pariser Wahlen sind sogar weniger die Vorboten als der wirkliche Beginn einer neuen Revolution. Es entspricht völlig der historischen Vergangenheit Frankreichs, daß Cavaignac der Opposition gegen Napoleon Banner und Namen leihen mußte, so wie Odilon Barrot seinerzeit den Angriff gegen Louis-Philippe Banner eingeleitet hatte. Wie Odilon Barrot ist auch Cavaignac in den Augen des Volkes nur ein Vorwand, wenn auch beide für die Bourgeoisie ernsthafte Begriffe sind. Der Name, unter dem eine Revolution begonnen wird, ist niemals der, den das Banner am Tage des Triumphs trägt. Um überhaupt Aussichten auf Erfolg zu haben, müssen revolutionäre Bewegungen in der modernen Gesellschaft anfangs ihre Fahne von jenen Elementen des Volks ausleihen, die, obwohl in Opposition gegen die bestehende Regierung, sich völlig in Harmonie mit der bestehenden Gesellschaftsordnung befinden. Mit einem Wort, Revolutionen müssen ihre Eintrittskarten zur offiziellen Bühne von den herrschenden Klassen selbst empfangen.

Die Pariser Wahlen, die Pariser Verhaftungen und die Pariser Verfolgungen können in ihrem wahren Licht nur dann beurteilt werden, wenn man den Zustand der Pariser Börse berücksichtigt, deren heftige Bewegungen der Wahlagitation vorausgingen und sie auch überdauerten. Sogar während der letzten drei Monate des Jahres 1856, als ganz Europa in den Wehen einer <236> Finanzkrise lag, erlebte die Pariser Börse keine so gewaltige und anhaltende Entwertung aller Wertpapiere, wie dies während des ganzen vergangenen Juni und Anfang Juli der Fall war. Außerdem spielte sich der Vorgang jetzt nicht in sprunghaftem Fallen und Steigen ab, sondern alles fiel in einer ganz methodischen Weise und entsprach den üblichen Fallgesetzen erst in den letzten jähen Stürzen. Die Aktien des Crédit mobilier, die Anfang Juni auf etwa 1.300 frs. standen, waren am 26. auf 1.162 frs., am 3. Juli auf 1.095 frs., am 4. auf 975 frs. und am 7. auf 890 frs. gesunken. Die Aktien der Bank von Frankreich, die Anfang Juni mit über 4.000 frs. notiert wurden, waren trotz der neuen Monopolrechte und Privilegien, die der Bank verliehen worden waren, am 26. Juni auf 3.065 frs. und am 3. Juli auf 2.890 frs. gefallen, und am 9. Juli brachten sie nicht mehr als 2.900 frs. Die dreiprozentigen Renten, die Aktien der Haupt-Eisenbahnen, wie der Nord-, Lyon- und der Mittelmeerbahn, der Linien der Grande Fusion, und die Aktien aller anderen Aktiengesellschaften haben in entsprechendem Verhältnis an dieser langen Abwärtsbewegung teilgenommen.

Das neue Bankgesetz, das die verzweifelte Situation der bonapartistischen Staatskasse offenbart, hat zugleich das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Bankverwaltung selbst erschüttert. Während der letzte Bericht des Crédit mobilier die innere Hohlheit dieser Institution und die große Ausdehnung der mit ihr verknüpften Interessen enthüllte, informierte er auch die Öffentlichkeit darüber, daß sich zwischen ihren Direktoren und dem Kaiser ein Kampf abspielte und daß man einen finanziellen coup d'état erwog. Um seinen drückendsten Verpflichtungen nachzukommen, hat sich der Crédit mobilier tatsächlich genötigt gesehen, etwa zwanzig Millionen an Wertpapieren aus seinem Portefeuille auf den Markt zu werfen. Zur gleichen Zeit mußten die Eisenbahnen und andere Aktiengesellschaften, um ihre Dividenden zahlen zu können und um die Mittel für die Fortsetzung oder den Beginn der übernommenen Arbeiten zu bekommen, ebenfalls Wertpapiere verkaufen, neue Einzahlungen auf ihre alten Aktien fordern oder durch Herausgabe neuer Aktien Kapital beschaffen. Daher die langandauernde Depression auf dem französischen Aktienmarkt, die weit davon entfernt ist, das Ergebnis rein zufälliger Umstände zu sein, und die bei jedem folgenden Abrechnungstermin in verschlimmerter Form wiederkehren wird.

Die alarmierenden Symptome der gegenwärtigen Krankheit können aus der Tatsache abgeleitet werden, daß Emile Péreire, der große finanzielle Wunderdoktor des Zweiten Kaiserreichs, auf den Plan getreten ist und Louis- <237> Napoleon einen Bericht vorgelegt hat, in dem er als Motto die Worte anführt, die jener 1850 in einer Adresse an den Generalrat für Landwirtschaft und Handel aussprach:

"Vertrauenswilligkeit, vergessen wir das nie, ist die moralische Seite der materiellen Interessen - der Geist, der den Körper beseelt -; sie erhöht durch Vertrauen den Wert aller Erzeugnisse um das Zehnfache."

Herr Péreire fährt dann in einer unseren Lesern schon vertrauten Weise fort, das Absinken der Wertpapiere des Landes um 980.000.000 frs. innerhalb der letzten fünf Monate zu erklären. Er schließt seine Klagelieder mit den fatalen Worten: "Das Budget der Furcht gleicht nahezu dem Budget Frankreichs." Wenn Frankreich, wie Herr Péreire behauptet, außer den 200.000.000 Dollar, die es in Form von Steuern zur Stützung des Kaiserreichs zahlen muß, noch einmal so viel bezahlen muß aus Angst, es zu verlieren, dann sind die Tage dieser kostspieligen Institution, die seinerzeit unter dem ausschließlichen Gesichtspunkt akzeptiert wurde, Geld zu sparen, in der Tat gezählt. Wenn die finanziellen Störungen des Kaiserreichs seine politischen Schwierigkeiten heraufbeschworen haben, so werden die letzteren ihrerseits gewiß auf die ersteren zurückwirken. Eben dieser Zustand des französischen Kaiserreichs ist es, der den kürzlichen Ausbrüchen in Spanien und Italien, wie auch den schwebenden skandinavischen Verwicklungen ihre wahre Bedeutung verleiht.