Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 344-346.

Karl Marx

[Die Krise in Europa]

Geschrieben am 18. Dezember 1857.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5213 vom 5. Januar 1858, Leitartikel]

<344> Die Post der "Niagara" erreichte uns gestern, und eine sorgfältige Prüfung unserer Stöße britischer Zeitungen bestätigt nur die Ansichten, die wir kürzlich über den wahrscheinlichen Verlauf der Krise in England äußerten. Der Londoner Geldmarkt bessert sich entschieden, d.h. Gold häuft sich in den Kellergewölben der Bank von England, die Nachfrage nach Diskontierung von Wechseln nimmt an der Bank ab, erstklassige Wechsel können in der Lombard Street zu 91/2 bis 93/4 Prozent diskontiert werden, die Staatspapiere bleiben stabil, und der Aktienmarkt nimmt in gewissem Grad an dieser Bewegung teil. Dieser angenehme Aspekt der Dinge wird jedoch sehr getrübt durch große Bankrotte, die sich alle zwei oder drei Tage in London ereignen, durch tägliche Depeschen, Hiobsbotschaften über Katastrophen in der Provinz und durch den Donner der Londoner "Times", die mehr denn je gegen die allgemeine und hoffnungslose Korruption der britischen Handelskreise loswettert. Tatsächlich scheint die relative Leichtigkeit, mit der unanfechtbare Wechsel diskontiert werden, mehr als aufgewogen zu sein durch die wachsende Schwierigkeit, Wechsel zu finden, die als unanfechtbar gelten können. Demzufolge erfahren wir aus den neuesten Londoner Artikeln über Finanzfragen, daß die Aktivität in der Threadneedle Street außerordentlich begrenzt ist und daß in der Lombard Street nur wenig Geschäfte getätigt werden. Da jedoch das Angebot seitens der Bank von England und der Diskontohäuser zunimmt, während der Druck auf dieselben, die Nachfrage seitens ihrer Kunden, abnimmt, muß man sagen, daß der Geldmarkt verhältnismäßig ruhig ist. Nichtsdestoweniger haben die Direktoren der Bank <345> von England noch nicht gewagt, den Diskontosatz zu senken, allem Anschein nach davon überzeugt, daß die Wiederauflebung der Geldkrise keine Frage der Zeit ist, sondern des Prozentsatzes und daß folglich die Geldkrise, sobald der Diskontosatz sinkt, sich sicherlich wieder verschärfen wird.

Während der Londoner Geldmarkt also auf die eine oder andere Weise ruhiger geworden ist, verschärft sich fühlbar die gespannte Lage auf dem englischen Warenmarkt, da ein ständiges Sinken der Preise nicht imstande ist, die wachsende Zurückhaltung der Käufer zu überwinden. Sogar solche Artikel wie z.B. Talg, die vorher eine Ausnahme der allgemeinen Regel bildeten, mußten jetzt, infolge der Zwangsverkäufe, billiger werden. Wenn man die Preisliste der Woche, die am 18. Dezember endete, mit den wöchentlichen Preislisten vom November vergleicht, so sieht man, daß der äußerste Tiefpunkt der Preise, der im letztgenannten Monat bestimmend war, wieder erreicht worden ist, diesmal jedoch nicht in Gestalt einer Panik, sondern in der methodischen Form einer gleitenden Skala. Was die Fertigwarenmärkte anbetrifft, so erhielt man einen Vorgeschmack der von uns vorausgesagten industriellen Krise mit den Bankrotten eines halben Dutzend Spinnereien und Webereien in Lancashire, drei führender Fabriken der Wollindustrie in West Riding und einer bedeutenden Firma des Teppichgewerbes von Worcester.

Da die Erscheinungen dieser doppelten Krise auf dem Warenmarkt und innerhalb der Fabrikantenkreise nach und nach spürbarer werden, begnügen wir uns gegenwärtig damit, folgenden Auszug aus einem unserer Zeitung zugeleiteten Privatbrief aus Manchester zu zitieren:

"Von dem stetigen Druck auf den Markt und seinen furchtbaren Auswirkungen können Sie sich kaum eine Vorstellung machen. Kein Mensch kann verkaufen. Jeden Tag hört man von niedrigeren Preisnotierungen. Es ist so weit gekommen, daß respektable Leute es vorziehen, ihre Waren gar nicht mehr anzubieten. Spinner und Weber werden von völliger Verzweiflung erdrückt. Kein Garnhändler verkauft an die Weber Garn, außer gegen Bargeld oder doppelte Sicherheit. Dieser Zustand der Dinge kann nicht fortdauern, ohne in einem furchtbaren Zusammenbruch zu enden."

Die Hamburger Krise hat kaum nachgelassen. Sie bietet das beste und klassischste Beispiel einer Geldkrise, die es je gegeben hat. Alles außer Silber und Gold ist wertlos geworden. Alte Firmen haben falliert, weil sie nicht in der Lage waren, auch nur einen einzigen fälligen Wechsel bar zu bezahlen, obwohl in ihren Pulten Wechsel auf den hundertfachen Wert liegen, die <346> jedoch momentan wertlos waren, nicht weil sie nicht honoriert wurden, sondern weil sie nicht diskontiert werden konnten. So erfahren wir, daß vor dem Bankrott der alten und reichen Firma Ch. M. Schröder der Bruder in London, L. H. Schröder, zwei Millionen in Silber angeboten hatte, doch jener telegraphierte zurück: "Drei Millionen oder nichts." Die drei Millionen kamen nicht, und Ch. M. Schröder machte Bankrott. Ein anderes Beispiel ist das von Ulberg & Co, einer Firma, von der in der europäischen Presse viel gesprochen wird; sie hatte Verbindlichkeiten von 12.000.000 Mark Banko einschließlich Wechsel auf 7.000.000 Mark und besaß, wie es sich herausstellte, ein Kapital von nur 300.000 Mark Banko als Grundlage solch enormer Transaktionen.

In Schweden und besonders in Dänemark hat die Krise an Heftigkeit ziemlich zugenommen. Das Wiederaufleben des Übels, nachdem es schon vorüber zu sein schien, ist aus den Terminen zu erklären, zu denen die großen Forderungen an Hamburg, Stockholm und Kopenhagen fällig werden. Im Dezember z.B. gingen für neun Millionen fällige Wechsel, die von Kaffeefirmen aus Rio de Janeiro auf Hamburg gezogen waren, zu Protest, und diese Menge Proteste schuf eine neue Panik. Im Januar werden die Wechsel für die Zuckerfrachten aus Bahia und Pernambuco wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal erleiden und eine ähnliche Wiederbelebung der Krise verursachen.