Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 434-438.

Karl Marx

[Die Finanzlage Frankreichs]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5312 vom 30. April]

<434> Paris, 13. April 1858

Schon allein durch die Gewalt der Umstände sieht sich das restaurierte Kaiserreich immer mehr gezwungen, seine zufälligen Reize aufzugeben und seine wahren Züge in ihrer angeborenen Scheußlichkeit zu zeigen. Die Stunde der Geständnisse ist unerwartet über das Kaiserreich hereingebrochen. Es hatte bereits jeden Anspruch darauf, eine reguläre Regierung, d.h. der Sproß des "suffrage universel" <"allgemeinen Wahlrechts"> zu sein, fallengelassen und sich als das Regime des Emporkömmlings, des Denunzianten und des 12pfünders proklamiert. Jetzt geht es einen Schritt weiter und bekennt, das Regime eines Schwindlers zu sein. Der "Moniteur" vom 11. April enthält eine Notiz, die besagt, daß gewisse Zeitungen voreilig die Festsetzung der Dividende auf Aktien gewisser Eisenbahn-Kompanien und anderer industrieller Gesellschaften angekündigt und die Ziffer dieser Dividende niedriger angegeben haben, als sie von den Verwaltungsräten beschlossen worden ist.

"Dies sind Manöver, gegen die man die Industrie und das Kapital des Landes schützen muß. Die Herausgeber der erwähnten Zeitungen sind vor den Procurateur impérial <kaiserlichen Staatsanwalt>geladen worden, und man warnte sie, daß in Zukunft solche Dinge vors Gericht kommen würden, da die Verbreitung falscher Ansichten ein Vergehen darstelle. Die Pflicht der Presse besteht darin, die Öffentlichkeit aufzuklären, und nicht, sie zu betrügen."

Mit anderen Worten, es ist die Pflicht der Presseleute, bei Strafe einer Deportierung nach Cayenne, den Crédit mobilier zu unterstützen, anstatt die Öffentlichkeit vor dem drohenden Zusammenbruch dieses Riesenbetrugs zu warnen, wie sie es kürzlich getan haben, wenn auch in sehr schüchternem <435> und kleinlautem Ton. Der Crédit mobilier soll seine Jahreshauptversammlung am 29. April durchführen und seine Dividende für das verflossene Jahr bekanntgeben. Während seine Direktoren sich in ein undurchdringliches Geheimnis hüllten, wurden die unheilvollsten Gerüchte darüber verbreitet, wie die erwartete Dividende "gebraut" werden soll, und eine Zeitung wagte die Tatsache anzudeuten, daß auf der vor einiger Zeit stattgefundenen Versammlung einer mit dem Crédit mobilier verbundenen Gesellschaft der Direktor kaltblütig ankündigte, daß, obgleich er nur eine Dividende von 8 Prozent auswerfen könne, die Gesellschaft sich doch in einer weit besseren Lage befände, als im Vorjahre, als er 25 Prozent gab. Der Artikelschreiber wagte es, seinen Verdacht auszusprechen, daß vielleicht manche Dividende dieser "und anderer" Gesellschaften aus dem Kapital und nicht aus den erzielten Profiten gezahlt würde. Daher der Zorn des "Moniteur". Die Aktien des Crédit mobilier, die am 10. Februar mit 957 bis 960 frs. und am 10. März mit 820 bis 860 frs. notiert wurden, waren am 10. April auf 715 bis 720 frs. gefallen, und sogar diese letzte Notierung war nur nominell. Es gab kein Mittel zur Verheimlichung der üblen Tatsache, daß sich die österreichischen und preußischen Aktienbesitzer entschlossen hatten, nicht weniger als 6.000 Aktien zu verkaufen, und daß die Compagnie générale Maritime <Allgemeine Seegesellschaft>, eine der phantastischen Schöpfungen der Péreires, in articulo mortis <den letzten Zügen> lag, da sie sich in Spekulationen eingelassen hatte, die alles andere als "maritime" waren. Es ist eine feine Idee, würdig eines politischen Ökonomen vom Format eines Generals Espinasse, sich vorzustellen, daß Drohungen im "Moniteur" sowohl Kredit als auch Schweigen erzwingen würden. Die Warnung wird wirken, aber in einer ganz entgegengesetzten Richtung, um so mehr, da sie von einer Regierung stammt, deren finanzielle Betrügereien Gegenstand aller Gespräche geworden sind. Bekanntlich sah das von Herrn Magne, dem Finanzminister, aufgestellte Budget einen Überschuß vor, aber durch die Indiskretion irgendeines Mitgliedes des Cour de Révision <Revisionshofs> sickerte durch, daß es in der Tat ein Defizit von etwa 100.000.000 Francs aufwies. Als Herr Magne vor den "Retter des Eigentums" zu einer Erklärung zitiert wurde, hatte er die Unverfrorenheit, seinem Herrn gelassen zu erklären, er kenne des Meisters Vorliebe für einen "Überschuß" und habe einen Haushaltsplan "gebraut", wie es die Minister des Louis-Philippe vor ihm getan hätten. Da ruhte die Angelegenheit, aber das öffentliche Interesse, das diesem Vorfall beigemessen wurde, trieb die Regierung zu einem Geständnis. Nachdem sie im "Moniteur" großartig verkündet hatte, im Monat Februar hätten sich die <436> Zolleinnahmen erhöht, wagte sie es nicht, zu ihrer eigenen Behauptung zu stehen. Die Ende März veröffentlichten monatlichen Zolleinnahmen zeigen, daß die Einfuhrzölle im letzten Februar, sogar in der offiziellen Version, nur 13.614.251 Francs betragen haben, während sie sich im entsprechenden Monat von 1857 auf 14.160.013 Francs beliefen, und daß sie in den Monaten Januar und Februar zusammen nur 25.842.256 Francs erreicht haben gegenüber 28.044.478 in den gleichen Monaten von 1857. Das ist also die offizielle Bedeutung der Worte von dem "Schutz der Industrie und des Kapitals des Landes gegen Manöver" und der "Aufklärung der Öffentlichkeit", anstatt "sie zu betrügen".

Die Neuinszenierung des coup d'état in vergrößertem Maßstab, die Massendeportationen, die Zerstückelung Frankreichs in prätorianische Lager, die Kriegsgerüchte, die Komplikationen außerhalb und die Konspirationen innerhalb - mit einem Wort: die krampfhaften Anstrengungen des kleineren Kaiserreiches seit dem Attentat vom 14. Januar haben die allgemeine Aufmerksamkeit von der finanziellen Lage Frankreichs etwas abgelenkt. Sonst wäre die Öffentlichkeit gewahr geworden, daß sich in diesem Zeitraum die künstliche Prosperität des bonapartistischen Regimes bereits in ihre elementaren Bestandteile aufgelöst hat: Unterschlagung und Spekulation. Zum Beweis dieser Behauptung will ich mich damit begnügen, solche Tatsachen aufzuführen, die von Zeit zu Zeit ihren Weg in die europäische Presse gefunden haben. Da ist zunächst Herr Prost, der Chef der Compagnie générale de Caisses d'Escompte <Allgemeine Diskontkassengesellschaft> die sich nicht nur in allerlei Arten von Börsenspekulation einließ, sondern es auch übernahm, Diskontobanken in ganz Frankreich einzurichten. Das Kapital betrug 6.000.000 Dollar bei 60.000 Aktien. Sie hatte eine Verschmelzung mit dem portugiesischen Crédit mobilier zustande gebracht und war magna pars <der große Teilhaber> des Crédit mobilier von Madrid. Das ganze Kapital ist hin, und die Verpflichtungen belaufen sich auf ungefähr 3.000.000 Dollar. Herr Damonieu von der Compagnie Parisienne des Equipages de grandes Remises <Pariser Mietwagengesellschaft> wurde vom tribunal de police correctionnelle <Zuchtpolizeigericht> verurteilt, weil er seine Aktionäre um 1.000.000 Dollar in bar und in Aktien betrogen, sie in Schulden bis zum Betrage von 400.000 Dollar gestürzt und das ganze Kapital von 1.600.000 Dollar vergeudet hatte. Der Geschäftsführer einer anderen Gesellschaft - der Lignéenne <Holzgesellschaft> -, der vorgab, Papier aus Holz herzustellen, ist auch wegen Veruntreuung des Kapitals von 800.000 Dollar verurteilt worden. Zwei weitere bonapartistische "Retter des <537> Eigentums" wurden verurteilt, weil sie mit einigen Bankiers eine Vereinbarung getroffen hatten, dem Publikum für 10.000.000 oder 15.000.000 Dollar einige Wälder und Bergwerke fern an den Ufern der Donau anzudrehen, die sie für 200.000 Dollar gekauft hatten. In einem anderen Fall erwies es sich, daß die Geschäftsführer einer Bergwerksgesellschaft bei Aachen ihren Aktienbesitzern für 500.000 Dollar Bergwerke verkauft hatten, von denen sie später zugeben mußten, daß sie nur 200.000 Dollar wert waren. Infolge dieser und anderer ähnlicher Enthüllungen fielen die Aktien der Messageries Générales <Allgemeine Paketfahrtlinien>, einst mit 1.510 Francs notiert, auf ungefähr 500 Francs. Die Aktien der Compagnie des Petites Voitures <Kleinwagengesellschaft>, die kurz nach ihrer Ausgabe auf 210 Francs hochgeschraubt wurden, sind auf 40 Francs gesunken. Die Aktien der Union-Gesellschaft sind von 500 auf 65 Francs zusammengeschrumpft. Die Aktien der Französisch-Amerikanischen Schiffahrtsgesellschaft, einst auf 750 Francs, kann man nun für 30 Francs erwerben. Die Aktien der Vereinigten Gasgesellschaft sind von 1.120 auf 620 Francs zurückgegangen. Den Aktienbesitzern der Caisse des Actionnaires <Kasse der Aktionäre> erzählte Herr Millaud, ihr Direktor, einer der neugebackenen Millionäre des kleineren Kaiserreiches, daß

"die Operationen des vergangenen Halbjahres keinerlei Profit gebracht hatten, so daß es nicht möglich sein würde, eine Dividende auszuwerfen, ja nicht einmal die gewöhnlichen Halbjahreszinsen auszuzahlen, daß er aber diese Zinsen aus seiner eigenen Tasche zahlen würde".

So platzten die sozialen Geschwüre des kleineren Kaiserreiches. Die lächerlichen Konferenzen des Louis Bonaparte mit den wichtigsten Börsenspekulanten über die für den französischen Handel und die Industrie anzuwendenden Hilfsmittel haben natürlich zu keinerlei Ergebnissen geführt. Die Bank von Frankreich befindet sich selbst in einer schlechten Lage, da sie außerstande ist, die Schuldverschreibungen der Eisenbahngesellschaften zu verkaufen, gegen deren Sicherheit sie die Gesellschaften mit dem Geld versorgen mußte, das diese zur Ausführung ihrer Arbeiten benötigt hatten. Niemand möchte diese Schuldverschreibungen in einem Moment kaufen, da alles Eisenbahnvermögen in Frankreich rasch an Wert verliert und die wöchentlichen Eisenbahnberichte ein ständiges Fallen ihrer Einnahmen aufweisen.

"Was den Stand des französischen Handels anbelangt", bemerkt der Pariser Korrespondent des Londoner "Economist", "so bleibt er wie er war, d.h., er zeigt eine Tendenz zur Verbesserung, aber er verbessert sich nicht."

<438> Unterdes hält Bonaparte an seiner alten Methode fest, Kapital in unproduktive Werke zu stecken, die aber, wie Herr Haussmann, der Präfekt des Seine-Departements, der Pariser Bevölkerung unverhohlen mitteilt, vom "strategischen Standpunkt aus" wichtig seien und darauf berechnet, vor "unvorhergesehenen Ereignissen, die immer eintreten und die Gesellschaft gefährden können", zu schützen. So ist Paris also verurteilt, neue Boulevards und Straßen zu errichten, deren Kosten auf 180.000.000 Francs geschätzt werden, um sich vor seinen eigenen Aufwallungen zu schützen. Die Einweihung des verlängerten Boulevards Sewastopol stand ganz im Einklang mit diesem "strategischen Standpunkt". Ursprünglich als rein zivile und städtische Zeremonie beabsichtigt, wurde sie plötzlich in eine militärische Demonstration verwandelt unter dem Vorwand, daß ein neues Komplott zur Ermordung Bonapartes entdeckt worden sei. Um dieses quid pro quo <Mißverständnis> zu beseitigen, erklärt der "Moniteur":

"Es war völlig richtig, die Einweihung einer solchen Schlagader der Hauptstadt durch eine Truppenparade auszuzeichnen, und daß unsere Soldaten nach dem Kaiser die ersten waren, die einen Boden betraten, der den Namen eines so glorreichen Sieges trägt."