Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 439-444.

Friedrich Engels

Die Einnahme von Lakhnau

Geschrieben am 15. April 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5312 vom 30. April 1858, Leitartikel]

<439> Die zweite kritische Periode des indischen Aufstandes ist zum Abschluß gebracht worden. Die erste sah ihren Mittelpunkt in Delhi und ging mit der Erstürmung dieser Stadt zu Ende; die zweite hatte in Lakhnau ihr Zentrum, und diese Stadt ist nun auch gefallen. Falls nicht neue Aufstände an bisher ruhigen Orten ausbrechen, muß die Revolte nun allmählich in ihre abschließende, chronische Periode absinken, in der die Aufständischen schließlich die Lebensweise von dacoits oder Räubern annehmen, denen die Einwohner des Landes wie ihren Feinden begegnen werden, so, als seien diese die Briten selbst.

Die Einzelheiten über die Erstürmung Lakhnaus liegen noch nicht vor, doch die einleitenden Operationen und die Umrisse der abschließenden Kämpfe sind bekannt. Unsere Leser erinnern sich, daß General Campbell nach dem Entsatz der Residenz von Lakhnau diese Stellung in die Luft sprengte, jedoch General Outram mit etwa 5.000 Mann im Alam Bagh, einer befestigten Position einige Meilen von der Stadt entfernt, zurückließ. Er selbst marschierte mit dem Rest seiner Truppen nach Khanpur zurück, wo General Windham durch einen Rebellenhaufen eine Niederlage erlitten hatte; er schlug die Rebellen vollständig und trieb sie bei Kalpi über die Dschamna. Er wartete dann in Khanpur auf das Eintreffen von Verstärkungen und der schweren Geschütze, entwarf seine Angriffspläne, gab Befehle zur Konzentration der verschiedenen Kolonnen, die zum Vormarsch nach Audh bestimmt waren, und vor allem verwandelte er Khanpur in ein befestigtes Lager von einer Stärke und von Ausmaßen, wie sie für die unmittelbare und hauptsächliche Operationsbasis gegen Lakhnau nötig waren. Als dies alles geschehen war, hatte er noch eine andere Aufgabe zu erfüllen, bevor er es für <440> richtig hielt, den Marsch zu beginnen - eine Aufgabe, deren Inangriffnahme ihn mit einem Schlag vor fast allen früheren Kommandeuren in Indien auszeichnet. Er wollte keine Frauen im Lager herumlungern sehen. Er hatte mehr als genug von den "Heldinnen" in Lakhnau und auf dem Marsch nach Khanpur; sie hatten es für völlig natürlich angesehen, daß die Bewegungen der Armee, wie es in Indien stets der Fall gewesen war, ihren Launen und ihrer Bequemlichkeit untergeordnet sein sollten. Kaum war Campbell in Khanpur eingetroffen, als er sich die ganze interessante und lästige Gesellschaft vom Halse schaffte und nach Allahabad schickte; und sofort sandte er nach dem zweiten Schub Damen, der zur Zeit in Agra war. Nicht eher, bis sie in Khanpur eingetroffen waren, und nicht eher, bis er sie sicher auf dem Wege nach Allahabad wußte, folgte er seinen auf Lakhnau vorrückenden Truppen.

Die Vorbereitungen, die für diesen Feldzug in Audh getroffen wurden, hatten ein in Indien bisher noch nicht dagewesenes Ausmaß. Bei der größten Expedition, die dort jemals von den Briten unternommen worden war, dem Einfall in Afghanistan, war die Zahl der gleichzeitig verwendeten Truppen nie mehr als 20.000 Mann, und von diesen waren die meisten Eingeborene. In diesem Feldzug nach Audh übertraf allein die Anzahl der Europäer die aller nach Afghanistan geschickten Truppen. Die von Sir Colin Campbell persönlich geführte Hauptarmee bestand aus drei Divisionen Infanterie, einer Kavallerie- und einer Artilleriedivision und Pionieren. Die erste Infanteriedivision unter Outram hielt den Alam Bagh. Sie bestand aus fünf europäischen Regimentern und einem Eingeborenen-Regiment. Die zweite (vier europäische Regimenter und ein Eingeborenen-Regiment) und die dritte (fünf europäische Regimenter und ein Eingeborenen-Regiment), die Kavalleriedivision unter Sir Hope Grant (drei europäische und vier oder fünf Eingeborenen-Regimenter) und die Masse der Artillerie (achtundvierzig Feldgeschütze, ein Belagerungsgeschützpark und Pioniere) bildeten Campbells kampffähige Truppe, mit der er auf der Straße von Khanpur vorrückte. Eine unter Brigadegeneral Franks bei Dschaunpur und Aramgarh zwischen dem Gumti und dem Ganges zusammengezogene Brigade sollte den Lauf des erstgenannten Flusses entlang auf Lakhnau vorgehen. Diese Brigade bestand aus drei europäischen Regimentern und zwei Batterien außer Eingeborenentruppen und sollte Campbells rechten Flügel bilden. Diese mit eingeschlossen, belief sich Campbells Truppe insgesamt auf

Infanterie

Kavallerie

Artillerie und Pioniere

Insgesamt

Europäer

15.000

2.000

3.000

20.000

Eingeborene

5.000

3.000

2.000

10.000

<441> oder zusammen 30.000 Mann, zu denen noch die 10.000 Gurkha aus Nepal gezählt werden müssen, die unter Dschang Bahadur von Gorakhpur auf Sultanpur vorrückten und die gesamte Angriffsarmee auf 40.000 Mann brachten, fast alles reguläre Truppen. Aber das ist noch nicht alles. Südlich Khanpur rückte Sir H. Rose mit einer starken Kolonne von Saugor auf Kalpi und der unteren Dschamna vor, um dort allen Flüchtlingen, die zwischen den zwei Kolonnen von Franks und Campbell entkommen könnten, den Weg abzuschneiden. Im Nordwesten überschritt Ende Februar Brigadegeneral Chamberlain den oberen Ganges, drang in das nordwestlich von Audh gelegene Rohilkand ein, das, wie richtig vorausgesehen wurde, der Hauptpunkt für den Rückzug der Armee der Aufständischen war. Die Garnisonen der Städte, die Audh umgeben, müssen ebenfalls in die Streitmacht einbezogen werden, die direkt oder indirekt gegen jenes Königreich eingesetzt wird, so daß diese ganze Streitmacht sicherlich 70.000 bis 80.000 Krieger zählt, von denen nach den offiziellen Meldungen wenigstens 28.000 Briten sind. Hierin ist nicht die Masse von Sir John Lawrences Truppe eingeschlossen, die in Delhi eine Art Flankenstellung einnimmt und aus 5.500 Europäern in Mirat und Delhi und etwa 20.000 oder 30.000 Eingeborenen aus dem Pandschab besteht.

Die Konzentrierung dieser gewaltigen Streitmacht ist teils das Ergebnis des Planes General Campbells und teils auch das Resultat der Unterdrückung des Aufstandes in verschiedenen Teilen Hindustans, weswegen die Truppen sich natürlich nahe dem Ort der Handlung konzentrieren. Zweifellos hätte Campbell auch mit einer kleineren Truppe zu handeln gewagt; doch während er darauf wartete, wurden ihm durch die Umstände neue Hilfsquellen in die Hand gegeben; und er war nicht der Mann, sich deren Verwendung zu versagen, selbst gegen einen, wie er wußte, so verächtlichen Feind, auf den er in Lakhnau stoßen würde. Doch es darf nicht vergessen werden, daß diese Zahlen, so beeindruckend sie auch aussehen, über ein Gebiet von der Größe Frankreichs verteilt waren und daß Campbell an dem entscheidenden Punkt in Lakhnau nur mit etwa 20.000 Europäern, 10.000 Hindus und 10.000 Gurkha erscheinen konnte - wobei der Wert der Gurkha unter Führung von Eingeborenen zumindest zweifelhaft war. Mit ihren europäischen Bestandteilen allein war diese Truppe sicher mehr als ausreichend, um einen schnellen Sieg zu garantieren, trotzdem war ihre Stärke ihrer Aufgabe nur angemessen; und sehr wahrscheinlich wollte Campbell den Bewohnern von Audh einmal eine solche überwältigende Armee weißer Gesichter zeigen wie sie nie zuvor irgendein Volk in Indien gesehen hatte, als eine Antwort auf einen Aufstand, der dank der kleinen Zahl und der weiten Verstreutheit der Europäer über das Land möglich geworden war.

<442> Die Streitmacht in Audh bestand aus den Resten der meisten der meuternden Regimenter Bengalens und aus in der Gegend selbst ausgehobenen Eingeborenen. Von jenen können nicht mehr als höchstens 35.000 oder 40.000 dagewesen sein. Das Schwert, Fahnenflucht und Demoralisierung müssen diese Truppe, ursprünglich 80.000 Mann stark, wenigstens auf die Hälfte vermindert haben; und was übriggeblieben, war desorganisiert, entmutigt, schlecht ausgerüstet und völlig ungeeignet, im Felde zu bestehen. Die neuen Aushebungen werden unterschiedlich mit 100.000 bis zu 150.000 Mann angegeben; doch es ist unwichtig, wieviel es gewesen sein mögen. Ihre Waffen bestanden nur zum Teil aus Feuerwaffen von minderwertiger Konstruktion; die meisten führten nur Waffen für den Nahkampf mit sich, die Kampfart, deren Anwendung am wenigsten wahrscheinlich war. Der größere Teil dieser Streitmacht befand sich in Lakhnau, um Sir James Outrams Truppen zu binden; nur zwei Kolonnen führten Bewegungen in Richtung Allahabad und Dschaunpur durch.

Das konzentrische Vorgehen auf Lakhnau begann etwa Mitte Februar. Vom 15. bis 26. marschierten die Hauptarmee und ihr gewaltiger Troß (allein 60.000 Mann Lagergefolge) von Khanpur zur Hauptstadt von Audh, ohne auf Widerstand zu stoßen. In der Zwischenzeit griff der Feind am 21. und 24. Februar Outrams Stellung ohne Aussicht auf Erfolg an. Am 19. rückte Franks auf Sultanpur vor, schlug an einem Tage beide Kolonnen der Aufständischen und verfolgte sie, so gut es der Mangel an Kavallerie zuließ. Nachdem sich die beiden geschlagenen Kolonnen vereinigt hatten, schlug er sie erneut am 23., wobei sie 20 Kanonen, ihre ganze Lagereinrichtung und die Bagage verloren. General Hope Grant, der die Vorhut der Hauptarmee kommandierte, hatte sich während ihres Eilmarsches ebenfalls von dieser gelöst und nach einer Linksschwenkung am 23. und 24. zwei Forts an der Straße von Lakhnau nach Rohilkand zerstört.

Am 2. März war die Hauptarmee vor der Südseite Lakhnaus konzentriert. Diese Seite ist durch den Kanal geschützt, den Campbell bei seinem ersten Angriff auf die Stadt überschreiten mußte; hinter dem Kanal waren starke Verschanzungen aufgeworfen worden. Am 3. besetzten die Briten den Dilkuscha-Park, mit dessen Erstürmung der erste Angriff ebenfalls begonnen hatte. Am 4. stieß Brigadegeneral Franks zur Hauptarmee und bildete nun ihre rechte Flanke, während seine rechte Flanke durch den Gumti-Fluß gesichert war. Inzwischen wurden Batterien gegenüber den feindlichen Verschanzungen aufgebaut und zwei Schiffsbrücken unterhalb der Stadt über den Gumti-Fluß geschlagen; und sobald diese fertig waren, zog Sir James Outram mit seiner Infanteriedivision, 1.400 Berittenen und 30 Kanonen hinüber, um <443> am linken oder nordöstlichen Ufer Stellung zu beziehen. Von hier aus konnte er einen großen Teil der feindlichen Linie längs des Kanals und viele der befestigten Paläste in ihrem Rücken bestreichen; er schnitt auch die Verbindungslinien des Feindes mit dem ganzen nordöstlichen Teil von Audh ab. Am 6. und 7. stieß er auf beträchtlichen Widerstand, trieb jedoch den Feind vor sich her. Am 8. wurde er wieder angegriffen, doch mit nicht besserem Erfolg. Inzwischen hatten die Batterien am rechten Ufer des Feuer eröffnet; Outrams Batterien längs des Flußufers faßten die Stellung der Aufständischen in der Flanke und im Rücken, und am 9. stürmte die 2. Division unter Sir Edward Lugard die Martinière, eine Schule und ein Park, der, wie unsere Leser sich erinnern mögen, an der Nordseite des Kanals bei seiner Vereinigung mit der Gumti und gegenüber dem Dilkuscha gelegen ist. Am 10. wurde eine Bresche in das Bankgebäude geschossen und dieses erstürmt, Outram rückte den Fluß hinauf vor und bestrich mit seinen Kanonen alle folgenden Stellungen der Aufständischen. Am 11. stürmten zwei schottische Regimenter (das 42. und das 93.) den Palast der Königin, und Outram griff die Steinbrücken, die vom linken Ufer des Flusses in die Stadt führen, an und nahm sie. Er ließ dann seine Truppen hinüberrücken und schloß sich dem Angriff gegen das nächste davorliegende Gebäude an. Am 13. März wurde ein weiteres befestigtes Gebäude, der Imambara, angegriffen, nachdem ein Laufgraben angelegt worden war, um die Batterien unter Deckung in Stellung zu bringen; am folgenden Tage wurde dieses Gebäude gestürmt, nachdem die Bresche erweitert worden war. Der Feind, der zum Kaisar Bagh oder Königspalast floh, wurde so stürmisch verfolgt, daß die Briten den Ort auf den Fersen der Flüchtenden betraten. Es folgte ein heftiger Kampf, aber gegen 3 Uhr nachmittags war der Palast im Besitz der Briten. Anscheinend führte dies die Dinge zu einer Krise; wenigstens schien jeder Widerstandsgeist erloschen zu sein, und Campbell traf sofort Maßnahmen zur Verfolgung der Fliehenden, um ihnen den Weg zu verlegen. Brigadegeneral Campbell wurde mit einer Brigade Kavallerie und einigen Artilleristen zu Pferde abgeschickt, um sie zu verfolgen, während Grant die andere Brigade nach Sitapur auf der Straße von Lakhnau nach Rohilkand herumführte, um sie abzuschneiden. Während so der Teil der Garnison, der die Flucht ergriff, bedacht wurde, drangen Infanterie und Artillerie weiter in die Stadt vor, um sie von denen, die noch aushielten, zu säubern. Vom 15. bis zum 19. muß sich der Kampf vor allem in den engen Straßen der Stadt abgespielt haben, da die Reihe der Paläste und Parks am Fluß schon vorher genommen worden war; aber am <444> 19. war die gesamte Stadt in Campbells Hand. Etwa 50.000 Aufständische sollen geflohen sein, teils nach Rohilkand, teils zum Doab und nach Bandelkand. In der letztgenannten Richtung hatten sie eine Möglichkeit zu entkommen, da General Rose mit seiner Kolonne noch mindestens sechzig Meilen von der Dschamna entfernt war und 30.000 Aufständische vor sich gehabt haben soll. In Richtung auf Rohilkand gab es auch eine Möglichkeit, daß sie sich wieder konzentrierten; Campbell dürfte nicht in der Lage sein, ihnen sehr schnell zu folgen, während wir über die Position Chamberlains nichts wissen, und die Provinz ist außerdem groß genug, ihnen für kurze Zeit Schutz zu bieten. Die nächste Phase des Aufstandes wird deshalb höchst wahrscheinlich durch die Bildung zweier Armeen der Aufständischen in Bandelkand und Rohilkand gekennzeichnet sein, von denen die letztere jedoch durch konzentrische Marschbewegungen der Armeen von Lakhnau und Delhi bald vernichtet sein dürfte.

Soweit wir im Augenblick urteilen können, waren die Operationen Sir C. Campbells in diesem Feldzug durch seine übliche Klugheit und Energie charakterisiert. Die Maßnahmen zu seinem konzentrischen Marsch auf Lakhnau waren ausgezeichnet, und die Vorbereitungen zum Angriff scheinen jeden Umstand berücksichtigt zu haben. Auf der anderen Seite war das Verhalten der Aufständischen genauso erbärmlich, wenn nicht schlimmer als vorher. Der Anblick der Rotröcke versetzte sie überall in Panik. Franks' Kolonne schlug eine zwanzigfache Überzahl fast ohne einen Mann Verlust; und obwohl die Telegramme wie gewöhnlich von "hartnäckigem Widerstand" und "schwerem Kampf" sprechen, sind die Verluste der Briten, wo sie angegeben werden, offenbar so lächerlich gering, daß wir befürchten, es war diesmal in Lakhnau ebensowenig Heldenmut nötig, und es gab ebensowenig Lorbeeren zu ernten wie damals, als die Briten sich dort vorstellten.