Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 445-449.

Karl Marx

Das Budget des Herrn Disraeli

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5318 vom 7. Mai 1858]

<445> London, 20. April 1858

Die Rede über das Budget, die Herr Disraeli am 19. April im Unterhaus gehalten hat, füllt etwa zehn Spalten der Londoner "Times", aber sie ist auf alle Fälle angenehm zu lesen, vielleicht sogar angenehmer als "The Young Duke" desselben Autors. Was die Klarheit der Analyse, die Einfachheit der Darstellung, die geschickte Anordnung und leichte Handhabung der Details anbelangt, so steht sie in glücklichem Gegensatz zu den schwerfälligen und umständlichen nächtelangen Abhandlungen seines Palmerstonschen Vorgängers. Sie enthält weder irgendeine überraschende Neuigkeit noch erhebt sie Anspruch darauf. Herr Disraeli befand sich in der glücklichen Lage eines Finanzministers, der es mit einem Defizit zu tun hatte, das er selbst nicht gemacht, sondern bei seinem Antritt vorgefunden hatte. Seine Rolle war die des Arztes, nicht des Patienten. Einerseits hatte er ein Defizit zu decken, andererseits war jede ernsthafte Einschränkung der Ausgaben ausgeschlossen durch die Wagnisse, auf die sich England unter der Ägide Lord Palmerstons eingelassen hatte. Herr Disraeli teilte dem Unterhaus unverblümt mit, daß es, wenn es eine Politik der Invasion und Aggression wünsche, dafür zahlen müsse und daß sein lautes Geschrei nach Sparsamkeit reiner Hohn wäre, da es mit skrupelloser Bereitschaft zu beliebigen Ausgaben gepaart sei. Disraelis Erklärung zufolge würden die Ausgaben im Finanzjahr 1858/1859 folgende sein:

Pfd.St.

Ausgaben für die fundierte Staatsschuld

28.400.000

Ständige Ausgaben für den konsolidierten Fonds

1.900.000

Heeres-Etat

11.750.000

<446> Ausgaben für die Flotte, einschließlich Paketbootdienst

9.860.000

Zivildienst

7.000.000

Departement für Staatseinnahmen

4.700.000

Im Mai 1858 fällige Schatzkammerbonds

2.000.000

Tilgungsfonds für Kriegsschulden

  1.500.000

Gesamt-Ausgaben

67.110.000

Die Einnahmen von 1858/1859 wurden wie folgt veranschlagt:

Pfd.St.

Pfd.St.

Zölle

23.400.000

Posteinnahmen

3.200.000

Akzise

18.100.000

Vermögens- und

Stempelsteuer

7.550.000

Einkommensteuer

6.100.000

Boden- und Immobilien-

Kronländereien

270.000

steuer

3.200.000

Verschiedenes

1.300.000

Gesamt-Einnahmen

63.120.000

Ein Vergleich zwischen den veranschlagten Ausgaben und den veranschlagten Einnahmen zeigt ein klares Defizit von 4.000.000 Pfd.St., trotz der ziemlich zuversichtlichen Ansichten des Herrn Disraeli über die eventuellen Erträge an Zöllen, Akzisen und Posteinnahmen. Wie soll dieses Defizit gedeckt werden? Die Palmerstonianer hatten bei dem bloßen Gedanken frohlockt, daß Herr Disraeli gezwungen sein würde, die für das nächste Jahr beschlossene Herabsetzung der Einkommensteuer von 7 d. auf 5 d. je Pfund aufzuschieben, ein Vorschlag, gegen den ausgerechnet Herr Disraeli und Herr Gladstone mit Nachdruck opponiert hatten, als er von Sir Cornewall Lewis eingebracht worden war. Dann hätte man das Geschrei über den Partei-Egoismus der Opposition erhoben und sich die Unpopularität der Einkommensteuer sehr wohl zunutze gemacht. Mit einem Wort, die Einkommensteuer war die Klippe, an der, wie zuversichtlich vorausgesagt wurde, das Staatsschiff Derbys zerschellen muß. Herr Disraeli war jedoch ein zu alter Fuchs, um in einer solchen Falle gefangen zu werden. Er teilte dem Unterhaus entgegen den Erwartungen mit, John Bull hätte sich in den letzten fünf Jahren in Finanzangelegenheiten wie ein artiger Junge "benommen", er hätte wacker die öffentlichen Lasten getragen, und er sollte daher unter seinen gegenwärtigen schwierigen Verhältnissen nicht wegen einer Steuer betrübt werden, gegen die er immer eine besondere Abneigung gehegt habe; besonders seitdem die durch eine große Majorität im Unterhaus 1853 angenommene <447> Vereinbarung dem artigen Jungen die progressive Herabsetzung der Steuer und nach einer gewissen Anzahl von Jahren ihre endgültige Aufhebung versprochen hatte. Herrn Disraelis eigenes Rezept zur Deckung des Defizits und zur Sicherung selbst eines kleinen Überschusses aus den Einkünften läuft auf folgendes hinaus: Verschiebung der Einlösung der Schatzkammerbonds in Höhe von zwei Millionen Pfund Sterling auf einen späteren Zeitpunkt; Aussetzung der Zahlung der 1.300.000 Pfd.St. für den Tilgungsfonds für Kriegsschulden bis ein bona fide <solider> Überschuß existiert, der hierfür angewandt werden sollte; Angleichung der englischen und irischen Getränkesteuer durch Erhöhung der irischen von 6 sh. 10 d. auf 8 sh. je Gallone, wodurch die Schatzkammer zusätzlich 500.000 Pfd.St. einnehmen würde; und schließlich Einführung einer Penny-Stempelsteuer auf Schecks, wodurch an Einkünften ein Mehrbetrag von 300.000 Pfd.St. erzielt würde.

Was nun die geringfügigen neuen Steuern anbelangt, die Herr Disraeli fordert, so kann kein ernsthafter Einwand gegen sie erhoben werden. Obgleich es die Vertreter Paddys <Irlands> natürlich für ihre Pflicht hielten zu protestieren, muß jede Einschränkung des Alkoholverbrauchs in Irland als heilsame Maßnahme angesehen werden. Als der Finanzminister sie vorschlug, konnte er nicht der Versuchung widerstehen, sich auf Kosten seiner irischen Freunde lustig zu machen. "Im Geiste aufrichtiger Herzlichkeit" bat er die "geistvollen Iren", dem Vorschlag auf Besteuerung der "irischen geistigen Getränke" zuzustimmen und ihre "Lebensgeister" mit denen der Engländer und Schotten zu vermengen etc. Die Penny-Stempelsteuer auf Schecks wurde von Herrn Glyn, dem Vertreter der Londoner Bank- und Börsenkreise heftig angegriffen. Dieser unselige Penny, das fühlte er mit Sicherheit, würde die Geldzirkulation des Landes daran hindern, ihre Pflichten zu erfüllen; aber was für Schrecken Herr Glyn auch immer fühlen mochte, oder zu fühlen vorgab über die Kühnheit, von den Bankiers und Börsenjobbern eine geringe Steuer zu erheben, seine Gefühle werden wahrscheinlich unter der Masse des britischen Volkes kein Echo finden.

Das bedeutendste Merkmal in Herrn Disraelis Budget ist die Liquidierung des künstlichen Staatsschulden-Tilgungsfonds, jenes großen Finanzbetrugs, der anläßlich der im Krieg mit Rußland eingegangenen Schulden von Sir Cornewall Lewis wieder eingeführt worden war. Der ursprüngliche britische Staatsschulden-Tilgungsfonds ist eine jener ungeheuerlichen Täuschungen, die die geistigen Fähigkeiten einer ganzen Generation verdunkeln und deren Wesen die folgende Generation kaum verstehen kann. Es geschah zum erstenmal <448> im Jahre 1771, daß Dr. Richard Price in seinen "Observations on Reversionary Payments" der Welt die Geheimnisse von Zinseszins und Tilgungsfonds enthüllte.

"Geld", sagte er, "das Zinseszinsen trägt, wächst anfangs langsam; da aber die Rate des Wachstums sich fortwährend beschleunigt, wird ihr Tempo nach einiger Zeit so rasch, daß sie jeder Einbildung spottet. Ein Penny, ausgeliehen bei der Geburt unseres Erlösers auf Zinseszinsen zu 5%, würde schon jetzt zu einer größren Summe herangewachsen sein, als enthalten wäre in 150 Millionen Erden, alle von gediegnem Gold. Aber ausgeliehen auf einfache Zinsen, würde er in der selben Zeit nur angewachsen sein auf 7 Schilling 41/2 Pence. Bis jetzt hat unsre Regierung vorgezogen, ihre Finanzen auf diesem letzteren, statt auf dem ersteren Weg zu verbessern." "Ein Staat braucht deswegen sich nie in Schwierigkeiten zu befinden; denn mit den kleinsten Ersparnissen kann er die größte Schuld abzahlen in einer so kurzen Zeit wie sein Interesse erfordern mag. Bei diesem Plan spielt es keine Rolle, welche Zinsen für Geld der Staat zu geben verpflichtet ist; denn je höher die Zinsen, um so eher wird solch ein Fonds das Anleihekapital abzahlen."

Folglich schlug er vor,

"eine jährliche Rücklage - zusammen mit den Zinsen der dadurch getilgten Summen - konstant anzulegen, zum Zwecke der Einlösung der Staatsschuld; oder, mit anderen Worten, die Schaffung eines Staatsschulden-Tilgungsfonds".

Dieser phantastische Plan, noch weniger sinnvoll als der Finanzplan des Narren in einer der Novellen von Cervantes, der dem ganzen spanischen Volke vorschlug, sich nur zwei Wochen des Essens und Trinkens zu enthalten, um die Mittel für die Begleichung der Staatsschuld zu erhalten, beschäftigte nichtsdestoweniger die Einbildungskraft Pitts. Eingestandenermaßen baute er 1786 auf dieser Grundlage seinen Staatsschulden-Tilgung:fonds auf, dem er eine feststehende Summe von 5.000.000 Pfund Sterling zuteilte, die jedes Jahr "pünktlich" zu diesem Zweck gezahlt werden sollten. Das System wurde nicht vor 1825 aufgegeben, als das Unterhaus einen Beschluß faßte, nach dem nur der bona fide Überschuß an Einnahmen des Landes zur Bezahlung der Staatsschuld verwandt werden sollte. Das gesamte System des öffentlichen Kredits wurde durch diese seltsame Art von Tilgungsfonds in Verwirrung gebracht. Zwischen dem, was aus Notwendigkeit, und dem, was willkürlich geliehen wurde, zwischen Anleihen, die die Schulden vermehren, und Anleihen, die sie abzahlen sollten, entstand ein wirres Durcheinander, Zinsen und Zinseszinsen, Schulden und Tilgung tanzten in unaufhörlicher Folge vor den Augen der Menschen; es gab eine solche Phantasmagorie von Konsolen und Bonds, von Obligationen und Schatzkammerscheinen, von Kapital ohne Zinsen und Zinsen ohne Kapital, daß der klarste Verstand <449> irregeführt wurde. Dr. Prices Prinzip war, daß der Staat Geld zu einfachen Zinsen borgen sollte, um es durch Zinseszinsen zu vermehren. Tatsächlich machte das Vereinigte Königreich eine Schuld von 1.000 Millionen Pfund Sterling, wofür es nominell etwa 600 Millionen Pfund Sterling erhielt, während 390 Millionen Pfund Sterling dieser Summe dazu bestimmt wurden, nicht die Schulden zu bezahlen, sondern den Staatsschulden-Tilgungsfonds aufrechtzuerhalten. Der Palmerstonsche Schatzkanzler hatte versucht, diese glorreiche Einrichtung, die das goldene Zeitalter der Börsenjobber und Spekulanten kennzeichnet, wieder John Bull aufzuladen. Herr Disraeli versetzte ihm den coup de grâce <Gnadenstoß>.