Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 450-455.

Karl Marx

Die englisch-französische Allianz

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5319 vom 8. Mai 1858]

<450> Paris, 22. April 1858

Seit Doktor Bernards Freispruch und der öffentlichen Begeisterung, mit der diesem Urteil zugejubelt wurde, hat die englisch-französische Allianz eine neue Wendung genommen. Zuerst war es die Zeitung "Univers", die England nicht nur zu einer "Mördergrube", sondern zu einem Volk von Mördern erklärte, Geschworene und Richter eingeschlossen, da sie gescheit genug war zu begreifen, daß sich "das Herz Englands" nicht "in den förmlichen Ehrenbezeugungen" kundtat, "mit denen die Stadtverwaltung von Dover die freimütige Natur des Herzogs von Malakoff überschüttete", sondern eher "in dem infamen Freudengeschrei, das die Leute im Gerichtshof von Old Bailey erhoben". Die ursprüngliche These der Obersten wird so auf einer breiteren Grundlage bestätigt. Dem "Univers" dicht auf den Fersen folgt der "Constitutionnel" mit einem Leitartikel, gezeichnet von Herrn Renée, dem Schwiegersohn des Herrn Macquard, der bekanntlich seinerseits Sekretär, Vertrauter und Faktotum Bonapartes ist. Wenn der "Univers" die Definition des englischen Volkes von den Obersten übernommen hatte, indem er ihren Sinn erweiterte, wiederholt der "Constitutionnel" die Drohungen der Obersten, nur daß er versucht, der Wut der Kasernen durch die angebliche Entrüstung "der Städte und ländlichen Bezirke" einen Rückhalt zu geben. Jenen Ton des verletzten moralischen Feingefühls anschlagend, der für die feile Literatur des Zweiten Kaiserreiches so bezeichnend ist, ruft die Zeitung aus:

"Wir wollen nicht lange bei solch einem Freispruch verweilen, der einen unerhörten skandalösen Angriff auf die öffentliche Moral darstellt; denn welcher Mann von Ehre in Frankreich oder England könnte einen Zweifel an Bernards Schuld hegen? Wir wollen nur diejenigen unserer Nachbarn, die die Aufrechterhaltung guter Beziehungen <451> zwischen den beiden Ländern wünschen, darüber informieren, daß es der Regierung trotz bester Absicht schwer fallen würde, die Folgen der öffentlichen Entrüstung abzuwenden, falls durch Mißgeschick die von Bernards Anwalt <Edwin John James> gehaltene Rede - eine Rede, die man zuließ, obwohl sie von Verleumdungen und Beleidigungen gegen den Kaiser, gegen die Nation, die ihn wählte, gegen die Armee und gegen unsere Institutionen strotzte - in den Städten, Kasernen und ländlichen Bezirken Frankreichs verbreitet werden sollte." (Merkwürdig - diese Stellung der Kasernen zwischen den Städten und ländlichen Bezirken!)

So weit - so gut. Ob sich Frankreich auf England stürzen wird oder nicht, das wird demnach von der bloßen Möglichkeit abhängen, ob die vom "Constitutionnel" selbst angekündigte Rede in Frankreich verbreitet wird oder nicht. Aber auf diese quasi Kriegserklärung folgt einen Tag später eine seltsame und aufsehenerregende Kehrtwendung in der "Patrie". Die französische Invasion soll aufgegeben werden, aber nur im Falle einer neuen Richtung, die der französisch-englischen Allianz gegeben werden müßte. Bernards Freispruch habe die anwachsende Macht der Anarchie in der britischen Gesellschaft offenbart. Lord Derby solle die Gesellschaft in England in derselben Weise retten, wie Bonaparte sie in Frankreich gerettet habe. Das sei der Ausgang der Allianz, und so sei ihre conditio sine qua non <unerläßliche Bedingung>. Der Earl of Derby, wird hinzugefügt, ist "ein Mann von außerordentlichem Talent und fast königlichen Verwandtschaftsbeziehungen" und folglich der Mann, um die Gesellschaft in England zu retten! Die englischen Tageszeitungen beschäftigen sich ausführlich mit der Schwäche, dem Wankelmut und der Ziellosigkeit, die sich in diesem Wechsel von Wut, Drohung und Sophismus verraten. Der Pariser Korrespondent der "Daily News" glaubt, das Rätsel dieser einander widersprechenden Ansichten, die im "Univers", im "Constitutionnel" und in der "Patrie" zum Ausdruck kamen, gelöst zu haben, indem er auf die wohlbekannte Tatsache verweist, daß Bonaparte ein Doppelgespann von Beratern hat - die betrunkenen Zecher des Abends und die nüchternen Ratgeber des Morgens. Er riecht in den Artikeln des "Univers" und des "Constitutionnel" das Aroma von Château-Margaux und Zigarren und in dem Artikel der "Patrie" die Schauer des kalten Wasserbades. Aber dasselbe Doppelgespann übte während Bonapartes Duell mit der Französischen Republik seinen Einfluß aus. Die einen drohten nach dem Januar 1849 in ihren kleinen Abendzeitungen mit einem coup d'état, während die anderen in den gewichtigen Spalten des "Moniteur" sie direkt Lügen straften. Und doch war es nicht in den "steifen" Artikeln des "Moniteur", sondern in dem trunkenen "Hurra- <452> geschrei" des "Pouvoir" , wo die Schatten der kommenden Ereignisse sich abzeichneten. Wir sind jedoch weit davon entfernt zu glauben, daß Bonaparte im Besitze der Mittel ist, den "breiten Graben" <Ärmelkanal> erfolgreich zu überqueren. Die in dieser Richtung ausgebrüteten komischen Nachtvisionen, die der "New-York Herald" zu veröffentlichen auf sich genommen hat, werden sicherlich ein Lächeln auf den Lippen selbst von reinen Anfängern in der Militärwissenschaft hervorrufen. Aber wir sind entschieden der Ansicht, daß Bonaparte, ein Zivilist an der Spitze einer Militärregierung, was niemals vergessen werden sollte, in der "Patrie" die letzte und einzig mögliche Interpretation der englisch-französischen Allianz gegeben hat, die seine "Obersten" befriedigen wird. Er befindet sich in einer höchst grotesken und zugleich höchst gefährlichen Situation. Um ausländische Regierungen zu täuschen, muß er mit dem Säbel rasseln. Um die Schwertträger zu besänftigen und sie daran zu hindern, seine Rodomontaden wirklich ernst zu nehmen, muß er zu solchen unmöglichen fictiones juris <juristischen Unterstellungen> seine Zuflucht nehmen, wie die, daß die englisch-französische Allianz die Rettung der Gesellschaft in England nach der bewährten bonapartistischen Weise bedeute. Natürlich müssen die Tatsachen zu seinen Doktrinen in Widerspruch geraten, und falls seine Regierung nicht, wie wir geneigt sind anzunehmen, durch eine Revolution beseitigt wird, wird das Ende so aussehen, daß sein Glück erlöschen wird, ebenso wie es begonnen hat, in wahnwitzigen Abenteuern, in irgendeiner Expedition de Boulogne in erweitertem Maßstab. Der Kaiser wird zum Abenteurer herabsinken, wie sich der Abenteurer in einen Kaiser verwandelt hatte.

Es lohnt sich inzwischen, während die "Patrie" das letzte Wort gesprochen hat, das Bonaparte über die Bedeutung der englisch-französischen Allianz äußern kann, die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise zu lenken, in der über diese Allianz jetzt in den herrschenden Kreisen Englands gesprochen wird. in dieser Hinsicht verdient ein Artikel des Londoner "Economist", unter dem Titel "Die französische Allianz, ihr Charakter, ihr Wert und ihr Preis", besondere Beachtung. Er ist mit absichtlicher Pedanterie geschrieben, wie es die Stellung eines ehemaligen Secretary of the Treasury <Sekretär des Schatzamtes> unter Palmerstons Regierung und eines Vertreters der ökonomischen Ansichten englischer Kapitalisten erheischt. Herr Wilson beginnt mit der These, daß

"das Ding, das man erhalten hat, nicht genau dem Ding entsprechen mag, worum gehandelt wurde". "Es kann", sagt er, "der Wert einer wirklichen Allianz zwischen Frankreich und England kaum zu hoch eingeschätzt werden";

<453> doch gibt es da verschiedene Arten von Allianzen, wirkliche und künstliche, echte Allianzen und im Treibhaus gezüchtete, "natürliche" und "Regierungs-Allianzen", "Regierungs"- und "persönliche" Allianzen. Zuerst läßt der "Economist" seiner "Einbildungskraft" freien Lauf; und es kann in Hinsicht auf den "Economist" gesagt werden, was über Rechtsanwälte gesagt worden ist: je prosaischer der Mann ist, um so mehr Streiche kann ihm seine Einbildungskraft spielen. Der "Economist" kann sich kaum auf seine "Einbildungskraft" verlassen,

"um den Einfluß zu untersuchen, den eine wirkliche Allianz zwischen den beiden großen Völkern, die an der Spitze der modernen Zivilisation stehen, auf die Geschicke Europas ausüben würde und auf das Schicksal und das Glück aller anderen Länder".

Er ist jedoch gezwungen zuzugeben, obgleich er hofft und glaubt, daß die zwei Nationen zu einer echten Allianz "heranreifen", "daß sie dafür noch nicht reif sind". Wenn demzufolge England und Frankreich für eine echte nationale Allianz noch nicht reif sind, wird sich natürlich die Frage ergeben, welcher Art die gegenwärtige englisch-französische Allianz ist. "Unsere jüngst abgeschlossene Allianz", gesteht das Exmitglied der Palmerston-Regierung und das Orakel der englischen Kapitalisten,

"ist in großem Ausmaße, wie wir zugeben, unvermeidlich eine Allianz gewesen, die eher mit der Regierung als mit der Nation, eher mit dem Kaiser als mit dem Kaiserreich, eher mit Louis Bonaparte als mit Frankreich geschlossen wurde; und ferner haben wir in dem Wert, den wir der Allianz beigelegt, und dem Preis, den wir dafür bezahlt haben, diese bedeutsame und gewichtige Tatsache etwas aus den Augen verloren."

Bonaparte ist natürlich der Erwählte der französischen Nation, und noch mehr von diesem Unsinn, aber unglücklicherweise

"repräsentiert er nur die zahlenmäßige und nicht die intellektuelle Majorität des französischen Volkes. Zum Unglück trifft es sich so, daß die Klassen, die sich fern von ihm halten, ausgerechnet diejenigen Parteien in sich einschließen, deren Ansichten über fast alle großen Fragen der Zivilisation den unsrigen analog sind."

Nachdem er so in äußerst vorsichtiger und höflicher Sprache und in umständlichen Sätzen, mit denen wir den Leser nicht behelligen wollen, das Axiom dargelegt hat, daß die gegenwärtige sogenannte englisch-französische Allianz eher eine Allianz der Regierungen als der Nationen ist, geht der "Economist" so weit, daß er zugibt, sie sei sogar mehr eine persönliche als eine reine Regierungs-Allianz.

"Louis-Napoleon", sagt er, "hat offener, als es dem Haupt einer großen Nation ansteht, angedeutet, daß er unser spezieller Freund in Frankreich wäre, daß er, mehr <454> als sein Volk, die englische Allianz wünsche und aufrechterhalte, und es kann sein, daß wir dieser Ansicht bereitwilliger und vorbehaltloser zugestimmt haben, als es eigentlich Vorsicht und Aufrichtigkeit geboten."

Alles in allem genommen ist die englisch-französische Allianz eine unterschobene, verfälschte Ware - eine Allianz mit Louis Bonaparte, aber nicht eine Allianz mit Frankreich. Es erhebt sich daher natürlich die Frage, ob dieser unterschobene Artikel den Preis wert war, der dafür gezahlt wurde. Hier schlägt der "Economist an seine eigene Brust und ruft im Namen der herrschenden Klassen Englands: "Pater, peccavi!" <"Vater, ich habe gesündigt!"> Vor allen Dingen ist England ein konstitutionelles Land, während Bonaparte ein Autokrat ist.

"Wir schuldeten es uns selbst, daß unsere offene und loyale Höflichkeit gegenüber dem de facto Herrscher von Frankreich nur insofern und in dem Maße hätte reifen und sich zu herzlicher und begeisterter Bewunderung hätte erwärmen dürfen, wie sich seine Politik als eine derartige erweisen würde, die wir ehrlich und rechtschaffen billigen könnten."

Anstatt sich in ihrem Bonapartismus an eine Art gleitender Skala zu halten, hat die englische Bevölkerung, eine konstitutionelle Bevölkerung,

"auf einen Kaiser, der die konstitutionellen Freiheiten seiner Untertanen zerstört hatte, Aufmerksamkeiten verschwendet, wie sie niemals zuvor einem konstitutionellen König, der diese Freiheiten gewährt und respektiert hatte, zuteil geworden waren. Und wenn er zornig und gereizt war, haben wir uns gedemütigt, um ihn zu besänftigen durch die Sprache widerwärtiger Schmeichelei, die aus englischem Munde sonderbar klang. Unsere Handlungsweise und unsere Sprache haben alle jene Kreise des französischen Volkes befremdet, in deren Augen Louis-Napoleon entweder ein Usurpator oder ein militärischer Despot ist. Dies hat besonders die Parlaments-Partei in Frankreich, ob Republikaner oder Orleanisten, gereizt und angewidert."

Der "Economist" entdeckt schließlich, daß dieser Kniefall vor einem erfolgreichen Usurpator alles andere als klug war.

"Es ist unmöglich", sagt er, "anzunehmen, daß das bestehende Regime in Frankreich jenes dauerhafte sein kann, unter dem zu leben sich diese energische und rastlose Nation einverstanden erklären wird ... Ist es daher weise, uns so mit einer vorübergehenden Regierungsphase in Frankreich zu verbinden, daß wir die Feindschaft seiner künftigen und dauerhafteren Entwicklung erregen?"

Überdies war die Allianz mit England für Bonaparte notwendiger als für England die Allianz mit ihm. 1852 war er ein Abenteurer - ein erfolgreicher, aber immerhin ein Abenteurer.

"Er war in Europa nicht anerkannt, es war fraglich, ob er anerkannt werden würde. <455> Aber England akzeptierte ihn prompt und ohne zu zögern, erkannte sofort seine Rechtstitel an, gewährte ihm Zutritt zu dem exklusiven Kreis der gekrönten Häupter und verschaffte ihm dadurch Geltung bei den Höfen Europas." "Nein, mehr als das, durch den Austausch von Besuchen und durch herzliche Verbindungen ließ es unser Hof zu, daß die Bekanntschaft zur Intimität wurde ... Jene unternehmenden Geld- und Handelskreise, durch die unterstützt zu werden für ihn besonders wichtig war, sahen sofort, wie groß die Stärke war, die er durch die enge und herzliche Allianz mit England gewann."

Diese Allianz war für ihn notwendig und er "würde sie zu fast jedem Preise gekauft haben". Bewies die englische Regierung ihren kommerziellen Scharfsinn und die gewohnte Aufgewecktheit, als sie diesen Preis festsetzte? Man forderte überhaupt keinen Preis; man bestand auf keinerlei Bedingung, sondern kroch gleich orientalischen Satrapen im Staube, während man ihm die Gabe der Allianz darbot. Keine Niederträchtigkeit seinerseits war groß genug, um die englische Regierung in ihrem Wettlauf "verschwenderischer Freigebigkeit", wie der "Economist" es nennt - haltloser Unterwürfigkeit, wie wir es nennen würden -, einen Augenblick innehalten zu lassen.

"Es würde schwer nachzuweisen sein", beichtet der englische Sünder, "daß wir auch nur bei einer einzigen all seiner verschiedenen Maßnahmen zur Behinderung des Protestantismus, zur Unterdrückung des Gedankens, zur Unterbindung der Tätigkeit der Munizipalbehörden, zur Herabwürdigung von Senat und Kammer unsere Mißbilligung manifestiert hätten, und sei es wenigstens durch vorübergehende Kühle oder gelegentliches Stirnrunzeln." "Was er auch immer getan hat, wen er auch immer geächtet, wie viele Zeitschriften er auch beschlagnahmt oder unterdrückt hat, was auch immer die fadenscheinigen Vorwände waren, unter denen er ehrwürdige und hervorragende Professoren ihres Amtes enthoben hat - unsere Sprache ist immer die gleiche geblieben; er ist immer der große Mann gewesen, dieser weise und scharfsinnige Staatsmann, dieser hervorragende und feste Herrscher."

So haben die Engländer nicht nur seine abscheuliche Innenpolitik genährt, unterstützt und begünstigt, sondern, wie der "Economist" bekennt, ihm gestattet, ihre Außenpolitik zu hemmen, abzuändern, zu schwächen und herabzuwürdigen.

"Länger in einer so falschen Position zu verharren", schließt der "Economist", "kann weder zu unserer Ehre noch zu unserem Nutzen noch zum Wohle des englischen Weltreichs gereichen."

Vergleicht man diese Erklärung mit jener der "Patrie", so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die englisch-französische Allianz dahin ist und damit die einzige internationale Stütze des Zweiten Kaiserreiches.