Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 512-517.

Karl Marx

[Die Steuern in Indien]

Geschrieben am 29. Juni 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5383 vom 23. Juli 1858, Leitartikel]

<512> Dem Vernehmen der Londoner Blätter nach haben sich neuerlich indische Wertpapiere und Eisenbahnobligationen auf der Londoner Börse durch fallende Tendenz ausgezeichnet, was durchaus kein Zeugnis für die Echtheit der zuversichtlichen Ansichten ist, die John Bull über die Lage im indischen Guerillakrieg zu äußern beliebt, sondern vielmehr ein hartnäckiges Mißtrauen in die Elastizität der indischen Finanzressourcen andeutet. Über diese Ressourcen existieren zwei gegensätzliche Meinungen. Einerseits wird bestätigt, daß die Steuern in Indien beschwerlicher und drückender sind als in irgendeinem anderen Lande auf der Welt, daß in der Regel in den meisten Präsidentschaften, und vor allem in jenen, die am längsten unter britischer Herrschaft stehen, die Bauern, das heißt, die große Masse des indischen Volkes, sich in einem Zustand unverminderter Pauperisierung und Niedergeschlagenheit befinden, daß folglich die indischen Steuern bis zur äußersten Grenze angespannt worden und daher die indischen Finanzen rettungslos zerrüttet sind. Das ist ein recht bestürzendes Urteil zu einer Zeit, da nach Herrn Gladstones Worten sich allein die außerordentlichen Indienausgaben in den nächsten Jahren auf etwa 20.000.000 Pfd.St. jährlich belaufen werden. Andererseits wird versichert - diese Versicherung wird durch eine Reihe statistischer Erläuterungen belegt -, daß Indien das am geringsten besteuerte Land der Welt sei, daß, wenn die Ausgaben weiterhin erhöht würden, auch die Einkünfte erhöht werden könnten und daß man sich völlig täusche, wenn man annimmt, die indische Bevölkerung werde keine neuen Steuern ertragen. Herr Bright, der als der eifrigste und einflußreichste Vertreter der "bestürzenden" Lehre angesehen werden kann, machte anläßlich der zweiten Lesung der Gesetzesvorlage über die neue Indienregierung folgende Ausführungen:

<513> "Die Indienregierung benötigt zur Verwaltung Indiens mehr Geld, als aus der Bevölkerung Indiens herauszupressen war, obwohl die Regierung keinerlei Skrupel hatte bei der Steuerauflage oder hinsichtlich der Art, in der die Steuern eingezogen wurden. Die Verwaltung Indiens kostete mehr als 30.000.000 Pfd.St., denn das waren die Gesamteinnahmen, und es gab stets ein Defizit, das mit Anleihen zu hohem Zinsfuß ausgeglichen werden mußte. Die indische Schuld beträgt jetzt 60.000.000 Pfd.St. und steigt noch an, während der Kredit der Regierung im Sinken begriffen ist, teils, weil sie ihre Gläubiger bei ein oder zwei Gelegenheiten nicht sehr ehrlich behandelt hat und teils wegen der mißlichen Ereignisse, die sich vor kurzem in Indien zugetragen haben. Ich habe mich auf das Gesamteinkommen bezogen; doch da dieses die Opiumsteuer mit einschließt, die wohl kaum eine Steuer für die indische Bevölkerung ist, möchte ich die wirklich auf ihr lastende Steuer mit 25.000.000 Pfd.St. annehmen. Diese 25.000.000 Pfd. St. dürfen wir nicht mit den 60.000.000 Pfd.St. vergleichen, die in unserem Land aufgebracht werden. Das Haus möge sich daran erinnern, daß es in Indien möglich ist, zwölf Tage Arbeit für dieselbe Menge Gold oder Silber zu kaufen, die man in England als Bezahlung für einen Arbeitstag erhält. Jene 25.000.000 Pfd.St., zum Kauf der Arbeit in Indien aufgewendet, würden so viel Kaufkraft besitzen, wie eine Ausgabe von 300.000.000 Pfd.St. in England. Man kann mir die Frage stellen, wieviel die Arbeit eines Inders wert ist. Nun gut, wenn die Arbeit eines Inders nur den Wert von 2 d. pro Tag besitzt, ist es klar, daß wir nicht von ihm erwarten können, daß er so viel Steuern zahlt, als wenn seine Arbeit 2 sh. wert wäre. Die Bevölkerung Großbritanniens und Irlands zählt 30.000.000 Menschen; in Indien gibt es 150.000.000 Einwohner. Hier bei uns bringen wir 60.000.000 Pfd.St. an Steuer auf, in Indien haben wir, wenn wir nach der Tagesarbeit des indischen Volkes rechnen, 300.000.000 Pfd.St. an Steuereinnahmen oder eine fünfmal größere Steuersumme, als im Mutterland erhoben wird. Angesichts der Tatsache, daß die indische Bevölkerung fünfmal größer ist als die des britischen Empire, könnte jemand sagen, daß die Besteuerung pro Kopf in Indien und England etwa die gleiche ist und daß man daher von keiner großen Härte sprechen kann. Aber in England gibt es einen unschätzbaren Bestand an Maschinen und Dampfkraft, an Transportmitteln und an allem, was Kapital und Erfindergeist dem Fleiß eines Volkes an Hilfe leisten kann. In Indien gibt es nichts dergleichen. Sie haben in ganz Indien kaum eine anständige Straße."

Es muß nun zugegeben werden, daß etwas nicht stimmt an dieser Methode, die indischen Steuern mit den britischen Steuern zu vergleichen. Da ist auf der einen Seite die indische Bevölkerung, fünfmal so groß wie die britische, und auf der anderen Seite die indische Besteuerung, die halb so hoch ist wie die britische. Indische Arbeit aber, sagt Herr Bright, stellt den Gegenwert von nur einem Zwölftel britischer Arbeit dar. Folglich kämen 30.000.000 Pfd.St. Steuern in Indien 300.000.000 Pfd.St. Steuern in Großbritannien gleich statt der 60.000.000 Pfd.St., die dort wirklich erhoben <514> werden. Was ist also die Schlußfolgerung, zu der er hätte kommen müssen? Daß das indische Volk im Vergleich mit seiner zahlenmäßigen Stärke dieselbe Steuer zahlt wie die Bevölkerung von Großbritannien, wenn man die verhältnismäßige Armut des indischen Volkes berücksichtigt und annimmt, daß 30.000.000 Pfd.St. für die 150.000.000 Inder so schwer wiegen wie 60.000.000 Pfd.St. für 30.000.000 Briten. Wenn dies seine Voraussetzung, dann ist es natürlich ein Trugschluß, sich umzuwenden und zu sagen, ein armes Volk könne nicht so viel zahlen wie ein reiches, weil ja die relative Armut der indischen Bevölkerung bereits bei der Feststellung in Rechnung gestellt worden ist, daß der Inder genausoviel bezahle wie der Brite. Tatsächlich müßte eine andere Frage gestellt werden. Man müßte fragen, ob von einem Menschen, der, sagen wir, 12 Cents am Tag verdient, mit Recht erwartet werden kann, daß er ebenso leicht 1 Cent zahlt, wie ein anderer, der 12 Dollar pro Tag verdient, 1 Dollar zahlt? Beide würden dem Verhältnis nach den gleichen Anteil ihres Einkommens aufbringen, doch würde die Steuer in völlig unterschiedlichen Proportionen auf ihre jeweiligen Bedürfnisse einwirken. In dieser Weise hat allerdings Herr Bright die Frage noch nicht gestellt, und hätte er das getan, dann würde der Vergleich zwischen der Steuerlast, die vom britischen Lohnarbeiter getragen wird und der Steuersumme, die der britische Kapitalist aufbringt, vielleicht mehr überrascht haben als der Vergleich zwischen indischer und britischer Besteuerung. Außerdem gibt er selbst zu, daß von den 30.000.000 Pfd.St. der indischen Steuern die 5.000.000 Pfd.St., die die Opiumsteuer ausmachen, abgezogen werden müssen, da diese eigentlich keine das indische Volk bedrückende Steuer, sondern vielmehr ein Ausfuhrzoll ist, der dem chinesischen Verbrauch auferlegt wird. Und von den Apologeten der englisch-indischen Verwaltung werden wir daran erinnert, daß 16.000.000 Pfd.St. der Einkünfte aus der Landsteuer oder Pacht herrühren, die seit undenklichen Zeiten dem Staat in seiner Eigenschaft als oberster Grundherr gehört und niemals einen Teil des bäuerlichen Privatvermögens gebildet habe und die ebensowenig zur eigentlichen Steuer gehöre, wie die von den britischen Farmern an die britische Aristokratie gezahlte Pacht als zur britischen Steuer gehörig betrachtet werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, würde die indische Besteuerung folgenden Stand haben:

Aufgebrachte Gesamtsumme

30.000.000 Pfd.St.

Abzug für Opiumsteuer

5.000.000 Pfd.St.

Abzug für Bodenpacht

16.000.000 Pfd.St.

Eigentliche Steuer

9.000.000 Pfd.St.

<515> Es muß weiterhin eingeräumt werden, daß von diesen 9.000.000 Pfd.St. wiederum einige wichtige Posten wie der Postdienst, die Stempel- und Zollgebühren in sehr geringem Maße auf der Masse der Bevölkerung lasten. Dementsprechend versucht Herr Hendricks in einer unlängst der britischen Gesellschaft für Statistik vorgelegten Arbeit über die Finanzen Indiens aus Parlaments- und anderen amtlichen Dokumenten zu beweisen, daß gegenwärtig nicht mehr als ein Fünftel der gesamten Einkünfte, die das indische Volk zahlt, durch Besteuerung, d.h. aus dem Realeinkommen des Volkes erhoben wird, daß in Bengalen nur 27 Prozent, im Pandschab nur 23 Prozent, in Madras nur 21 Prozent, in den Nordwestprovinzen nur 17 Prozent und in Bombay nur 16 Prozent der gesamten Einkünfte aus der eigentlichen Steuer herrühren.

Die folgende vergleichende Übersicht über den durchschnittlichen Steuerbetrag, den jeder Bewohner Indiens und des Vereinigten Königreiches 1855-1856 aufgebracht hat, ist nach Herrn Hendricks Bericht zusammengestellt

Einkünfte

Eigentliche

pro Kopf

Steuer

Pfd.St.

sh.

d.

Pfd.St.

sh.

d.

Bengalen

-

5

0

-

1

4

Nordwestprovinzen

-

3

5

-

0

7

Madras

-

4

7

-

1

0

Bombay

-

8

3

-

1

4

Pandschab

-

3

3

-

0

9

Vereinigtes Königreich

-

-

-

1

10

0

Für ein anderes Jahr gab General Briggs folgende Einschätzung des Durchschnittsbetrages, den jeder einzelne für das nationale Steuereinkommen aufbringt:

Pfd.St.

sh.

d.

In England 1852

1

19

0

In Frankreich

1

12

0

In Preußen

-

19

3

In Indien 1854

-

3

1/2

Aus diesen Aufstellungen ziehen die Apologeten der britischen Verwaltung den Schluß, daß es in ganz Europa kein einziges Land gibt, wo die Bevölkerung so gering besteuert wird, wie in Indien, selbst wenn man die relative Armut seiner Bevölkerung in Rechnung setzt. So scheint es, daß sich <516> nicht nur die Meinungen hinsichtlich der indischen Besteuerung widersprechen, sondern daß auch die Tatsachen selbst, auf deren Grundlage sie sich angeblich gebildet haben, widerspruchsvoll sind. Einerseits müssen wir zugeben, daß die nominelle Höhe der indischen Steuer verhältnismäßig niedrig ist; andererseits aber können wir einen Beweis nach dem anderen aus Parlamentsdokumenten wie aus den Arbeiten der größten Autoritäten über indische Angelegenheiten erbringen, die sämtlich unbestreitbar beweisen, daß diese scheinbar geringe Besteuerung die Masse des indischen Volkes zu Boden drückt und daß die Engländer, um diese Steuer einzuziehen, zu solchen Infamien greifen müssen, wie es z.B. die Folter ist. Aber bedarf es noch irgendeines anderen Beweises außer dem ständigen und schnellen Anwachsen der indischen Schulden und der Anhäufung der indischen Defizite? Es wird sicher nicht bestritten werden, daß die Indienregierung wachsende Schulden und Defizite bevorzugt, weil sie davor zurückschreckt, die Ressourcen der Bevölkerung zu stark in Anspruch zu nehmen. Sie stürzt sich in Schulden, weil sie keinen anderen Weg sieht, um zurechtzukommen. 1805 belief sich die indische Schuld auf 25.626.631 Pfd.St.; 1829 erreichte sie etwa 34.000.000 Pfd.St.; 1850 betrug sie 47.151.018 Pfd.St.; und im Augenblick beträgt sie etwa 60.000.000 Pfd.St. Übrigens lassen wir die in England aufgenommene ostindische Schuld außer Rechnung, die ebenfalls zu Lasten der ostindischen Einkünfte geht.

Das jährliche Defizit, das sich 1805 auf etwa zweieinhalb Millionen Pfund Sterling belief, hatte unter Lord Dalhousies Verwaltung den Durchschnitt von fünf Millionen Pfund Sterling erreicht. Herr George Campbell vom bengalischen Zivildienst, der in seiner Gesinnung stark für die englisch-indische Verwaltung eingenommen war, sah sich 1852 gezwungen, folgendes einzugestehen:

"Obwohl keine orientalischen Eroberer jemals einen so vollkommenen Aufstieg erreicht, so ruhig, so allgemein und so unangefochten Indien in Besitz genommen haben wie wir es getan, so haben sich doch alle an den Steuereinkünften des Landes bereichert, und viele haben aus ihrem Überfluß beträchtliche Summen in Arbeiten an öffentlichen Einrichtungen angelegt ... Uns ist es versagt, das zu tun ... Die Menge der ganzen Last ist keineswegs vermindert" (unter der englischen Herrschaft), "doch haben wir keinen Überschuß."

Wenn man die Last der Steuer einschätzt, so kann ihr nomineller Betrag nicht schwerer ins Gewicht fallen als die Methode ihrer Aufbringung und die Art ihrer Anwendung. Die Methode der Aufbringung ist in Indien verabscheuenswert und vergeudet z.B. auf dem Gebiet der Bodensteuer vielleicht <517> mehr Erträge, als sie einbringt. Über die Verwendung der Steuern genügt es zu sagen, daß kein Teil von ihr dem Volk in Form von gesellschaftlich-nützlichen Einrichtungen zurückgegeben wird, die in den Ländern Asiens nötiger als anderswo sind, und daß, wie Herr Bright mit Recht bemerkte, nirgendwo der herrschenden Klasse eine so übermäßige Provision eingeräumt wird wie in Indien.