Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 523-526.

Karl Marx

Die Indien-Bill

Geschrieben am 9. Juli 1858.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5384 vom 24. Juli 1858, Leitartikel]

<523> Die letzte Indien-Bill ist in ihrer dritten Lesung vom Unterhaus angenommen worden, und da das Oberhaus unter dem Einfluß Derbys wohl kaum opponieren wird, scheint das Schicksal der Ostindischen Kompanie besiegelt zu sein. Sie stirbt nicht wie ein Held, das muß man zugeben; aber sie hat ihre Macht verschachert, wie sie sie erschlichen, Stück für Stück, in ganz geschäftsmäßiger Manier. In der Tat ist ihre ganze Geschichte ein Kaufen und Verkaufen. Sie fing damit an, sich Herrschaft zu erkaufen, und sie hat damit geendet, sie zu verkaufen. Sie ist gefallen, nicht in einer Feldschlacht, sondern unter dem Hammer des Auktionators, gefallen in die Hände des Meistbietenden. 1693 verschaffte sie sich von der Krone eine Charta für einundzwanzig Jahre, indem sie große Summen an den Herzog von Leeds und andere Staatsbeamte zahlte. 1767 verlängerte sie ihre Machttitel um zwei Jahre durch das Versprechen, jährlich 400.000 Pfd.St. an das britische Schatzamt zu zahlen. 1769 brachte sie einen ähnlichen Handel für fünf Jahre zum Abschluß; doch bald darauf veräußerte sie als Gegenwert für den Verzicht des Schatzamtes auf die festgesetzte jährliche Zahlung und für die Gewährung eines Darlehens von 1.400.000 Pfd.St. zu 4 Prozent gewisse Teile ihrer Herrschaftsbefugnisse, indem sie dem Parlament zum ersten Mal die Ernennung des Generalgouverneurs und vier seiner Ratsmitglieder überließ, der Krone völlig das Recht auf Berufung des Lordoberrichters und seiner drei Richter abtrat und der Umwandlung der Aktionärsversammlung aus einer demokratischen in eine oligarchische Körperschaft zustimmte. 1858 hat nun die Ostindische Kompanie, nachdem sie vorher feierlich der Aktionärsversammlung versichert hatte, mit allen verfassungsmäßigen "Mitteln" sich der Übergabe ihrer Regierungsbefugnisse an die Krone zu widersetzen, dieses Prinzip <524> angenommen und einer Bill zugestimmt, die für die Kompanie wie ein Strafgesetz ist, aber ihren Hauptdirektoren Gehalt und Amt sichert. Wenn der Tod eines Helden, wie Schiller sagt, dem Untergang der Sonne ähnelt, so hat das Ende der Ostindischen Kompanie mehr Ähnlichkeit mit dem Vergleich, den ein Bankrotteur mit seinen Gläubigern herbeiführt.

Durch diese Bill werden die Hauptfunktionen der Verwaltung einem Staatssekretär und seinem Rat übertragen, genauso wie in Kalkutta der Generalgouverneur und sein Rat die Geschäfte führt. Aber diese beiden Beamten - der Staatssekretär in England und der Generalgouverneur in Indien - sind in gleicher Weise ermächtigt, den Ratschlag ihrer Beisitzer zu ignorieren und nach ihrem eigenen Urteil zu handeln. Die neue Bill bekleidet auch den Staatssekretär mit all den Machtbefugnissen, die gegenwärtig noch der Präsident der Kontrollbehörde über den Weg des Geheimausschusses ausübt - und zwar mit der Vollmacht, in dringenden Fällen Anordnungen nach Indien hinausgehen zu lassen, ohne sich damit aufzuhalten, das Gutachten seines Rates anzuhören. Bei der Konstituierung dieses Rates hat man es übrigens für nötig erachtet, seine Zuflucht zu der Ostindischen Kompanie zu nehmen als der einzig brauchbaren Quelle für Berufungen in den Rat, die anders erfolgen als die Ernennungen durch die Krone. Die durch Wahl zu berufenden Mitglieder des Rates sollen von den Direktoren der Ostindischen Kompanie aus ihren eigenen Reihen gewählt werden.

So überdauert trotz alledem der Name der Ostindischen Kompanie ihre Substanz. Schließlich hat das Derby-Kabinett offen ausgesprochen, daß seine Bill keine Klausel enthalte, die die Ostindische Kompanie abschaffe, insofern sie durch einen Rat der Direktoren repräsentiert wird, sondern daß sie auf ihren ursprünglichen Charakter einer Gesellschaft von Aktionären zurückgeführt werde, die die Dividenden verteilt, welche durch verschiedene gesetzliche Bestimmungen garantiert sind. Pitts Bill von 1784 unterstellte ihre Verwaltung faktisch der Herrschaft des Kabinetts unter dem Namen der Kontrollbehörde. Der Akt von 1813 beraubte die Kompanie ihres Handelsmonopols, ausgenommen des Handels mit China. Der Akt von 1834 vernichtete restlos ihren Handelscharakter, und der Akt von 1854 beseitigte die letzten Überreste ihrer Macht, ließ sie jedoch noch im Besitz der indischen Verwaltung. Im Kreislauf der Geschichte ist die Ostindische Kompanie, die sich 1612 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt hatte, wieder in ihr ursprüngliches Gewand gekleidet worden, nur daß sie jetzt eine Handelsgesellschaft ohne Handel darstellt und eine Aktiengesellschaft, die kein Betriebskapital zu verwalten, sondern nur festgesetzte Dividenden zu empfangen hat.

<525> Die Geschichte der Indien-Bill ist durch größere dramatische Veränderungen gekennzeichnet als irgendein anderer Akt moderner parlamentarischer Gesetzgebung. Als der Sepoy-Aufstand ausbrach, ging der Schrei nach Reformen in Indien durch alle Klassen der britische Gesellschaft. Die Folterberichte erhitzten die Phantasie der Volksmassen, Generale und hochgestellte Zivilisten in Indien verurteilten laut die Einmischung der Regierung in die Religion der Eingeborenen. Die räuberische Annexionspolitik Lord Dalhousies, des bloßen Werkzeuges der Downing Street, die Gärung in den Köpfen der Bevölkerung, bedenkenlos erzeugt durch die Raubkriege in Persien und China - Kriege, die auf Palmerstons geheimen Befehl angezettelt und fortgesetzt worden waren -, die schwächlichen Maßnahmen, mit denen er dem Aufstand begegnete, wie der Truppentransport auf Segelschiffen anstatt auf Dampfern und der umständliche Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung anstatt des Transports über den Isthmus von Suez - alle diese angehäuften Übelstände machten sich Luft in dem Schrei nach einer Reform in Indien, einer Reform der von der Kompanie ausgeübten indischen Verwaltung, einer Reform der Indienpolitik der Regierung. Palmerston haschte nach dem Schrei der Öffentlichkeit, war aber entschlossen, ihn ausschließlich für seine Interessen auszunutzen. Da sowohl die Regierung als auch die Kompanie elend versagt hatten, mußte die Kompanie geopfert und die Regierung allmächtig gemacht werden. Die Macht der Kompanie war einfach auf den Diktator des Tages zu übertragen, der vorgab, sowohl die Krone gegen das Parlament als auch das Parlament gegen die Krone zu verkörpern; so wollte er die Vorrechte beider einzig und allein in seiner Person vereinigen. Mit der indischen Armee im Rücken, dem indischen Schatzamt zu seiner Verfügung und dem Vorrecht in der Tasche, die indischen Ämter zu vergeben, würde Palmerstons Position unüberwindlich geworden sein.

Seine Bill ging mit Triumph durch die erste Lesung, aber seine Karriere wurde durch die berühmte Verschwörungs-Bill plötzlich unterbrochen, der der Machtantritt der Tories folgte.

Bereits am ersten Tage ihrer offiziellen Wiederkehr auf den Ministerbänken erklärten die Tories, sie würden aus Rücksicht auf den entschiedenen Willen des Unterhauses ihre Opposition gegen die Übertragung der Verwaltung Indiens von der Kompanie an die Krone aufgeben. Lord Ellenboroughs legislativer Fehlschlag schien die Rückkehr Palmerstons zu beschleunigen, als Lord John Russell, um den Diktator zu einem Kompromiß zu zwingen, eingriff und die Regierung durch den Vorschlag rettete, mit der Indien-Bill auf dem Wege parlamentarischer Beschlußfassung anstatt über eine Regierungs-Bill vorzugehen. Daraufhin wurden Lord Ellenboroughs <526> Audh-Depesche, sein plötzlicher Rücktritt und die darauf folgende Verwirrung im Regierungslager begierig von Palmerston aufgegriffen. Die Tories mußten wieder in den kühlen Schatten der Opposition gestellt werden, nachdem sie ihre kurze Machtdauer dazu verwendet hatten, die Opposition in ihrer eigenen Partei gegen die Konfiskation der Ostindischen Kompanie zu brechen. Doch ist hinreichend bekannt, wie diese schlauen Berechnungen durchkreuzt worden sind. Anstatt sich auf den Ruinen der Ostindischen Kompanie zu erheben, ist Palmerston unter ihnen begraben worden. Während der ganzen Indiendebatten schien das Haus seine besondere Genugtuung darin zu finden, den Civis Romanus zu demütigen. Alle Ergänzungsanträge Palmerstons, große und kleine, wurden schimpflich zum Scheitern gebracht; Anspielungen der geschmacklosesten Art, die sich auf den afghanischen, den persischen und den chinesischen Krieg bezogen, wurden ihm ununterbrochen an den Kopf geworfen; und Herrn Gladstones Klausel, die dem Indienminister die Macht entzieht, Kriege über die Grenzen Indiens hinaus zu beginnen - was einem allgemeinem Mißtrauensvotum gegen Palmerstons verflossene Außenpolitik gleichkommt -, ging trotz dessen wütenden Widerstandes mit einer erdrückenden Mehrheit durch. Aber wenn auch der Mann über Bord geworfen ist, sein Prinzip ist im großen ganzen angenommen worden. Wenn auch etwas durch die hinderlichen Vollmachten der Ratsbehörde gehemmt, die tatsächlich nur das gutbezahlte Gespenst des alten Rates der Direktoren ist, so ist doch die Macht der Exekutive dank der formellen Annexion Indiens auf eine solche Stufe gehoben worden, daß man das demokratische Gewicht in die parlamentarische Waagschale werfen muß, um das Gleichgewicht zu halten.