Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 584-589.

Karl Marx

Der britisch-chinesische Vertrag

Aus dem Englischen. 


["New-York Daily Tribune" Nr. 5455 vom 15. Oktober 1858]

<584> London, 28. September 1858

Das offizielle Resümee über den englisch-chinesischen Vertrag, das das britische Kabinett endlich der Öffentlichkeit vorgelegt hat, fügt den Informationen, die schon durch verschiedene andere Kanäle übermittelt worden sind, im großen und ganzen kaum etwas hinzu. Im Grunde genommen enthalten nur die ersten und die letzten Artikel jene Punkte des Vertrags, die ausschließlich im Interesse Englands sind. Durch den ersten Artikel werden "der Zusatzvertrag und die allgemeinen Handelsrichtlinien aufgehoben", die nach dem Abschluß des Vertrages von Nanking festgelegt worden waren. Dieser Zusatzvertrag hatte die englischen Konsuln in Hongkong und in den fünf für den britischen Handel geöffneten chinesischen Häfen verpflichtet, die chinesischen Behörden zu unterstützen, falls englische Schiffe innerhalb des Bereichs ihrer Konsulargerichtsbarkeit mit Opium an Bord erscheinen sollten. Damit war den englischen Kaufleuten ein formales Verbot auferlegt worden, das Rauschgift einzuschmuggeln, und die englische Regierung hatte sich bis zu einem gewissen Grade zu einem der Zollbeamten des Himmlischen Reiches gemacht. Daß der zweite Opiumkrieg mit der Beseitigung der Fesseln enden mußte, mit denen der erste Opiumkrieg den Opiumhandel noch unterbunden hatte, erscheint uns als durchaus logisches Resultat und als ein aufs innigste ersehntes Ziel jenes Teils der britischen Handelskreise, den Palmerstons Feuerwerk in Kanton zu überschwenglichen Beifallshymnen hingerissen hatte. Wir müßten uns jedoch sehr irren, wenn dieser offizielle Verzicht Englands auf seine scheinheilige Opposition gegen den Opiumhandel nicht zu Folgen führen dürfte, die den erwarteten völlig entgegengesetzt sind. Dadurch, daß die chinesische Regierung die <585> britische Regierung verpflichtet hatte, ihr bei der Unterdrückung des Opiumhandels zu helfen, hatte sie ihre Unfähigkeit eingestanden, dies aus eigenen Kräften zu bewerkstelligen. Der Zusatzvertrag von Nanking war ein letzter verzweifelter Versuch gewesen, sich den Opiumhandel durch fremde Hilfe vom Hals zu schaffen. Da dieser Versuch, was jetzt offen zugegeben wird, mißlungen und der Opiumhandel damit zumindest für England legal geworden ist, kann es kaum noch Zweifel geben, daß die chinesische Regierung eine Methode erproben wird, die sich sowohl aus politischen wie aus finanziellen Erwägungen empfiehlt, nämlich den Mohnanbau in China gesetzlich zuzulassen und die Einfuhr ausländischen Opiums mit Zöllen zu belegen. Welche Absichten die jetzige chinesische Regierung auch haben mag, die Umstände selbst, in die sie durch den Vertrag von Tientsin geraten ist, drängen sie auf diesen Weg.

Einmal vollzogen, muß dieser Wandel dem Opiummonopol Indiens und damit der indischen Staatskasse einen tödlichen Schlag versetzen, während das britische Opiumgeschäft auf den Umfang eines gewöhnlichen Handelszweigs zusammenschrumpfen und sehr bald ein Verlustgeschäft werden wird. Bis jetzt wurde dieses Spiel von John Bull mit falschen Würfeln gespielt. Daß der Opiumkrieg Nr. 2 die Erreichung seines eigenen Ziels vereitelt hat, scheint sein hervorstechendstes Ergebnis zu sein.

Das großherzige England, das Rußland einen "gerechten Krieg" erklärt hatte, verzichtete bei Friedensschluß darauf, Schadenersatz für seine Kriegskosten zu fordern. Da England indessen fortgesetzt behauptet hat, daß es sich mit China im Friedenszustand befinde, muß es folglich China zwingen, die Kosten zu bezahlen, Kosten, die sogar nach Meinung der gegenwärtigen englischen Minister durch Englands Raubzüge entstanden sind. So wirkte denn auch die erste Botschaft von den fünfzehn oder zwanzig Millionen Pfund Sterling, welche die Bewohner des Himmlischen Reiches zu zahlen haben, als Beruhigungsmittel selbst für das empfindlichste britische Gewissen, und der "Economist" wie überhaupt die Verfasser von Finanzartikeln ergingen sich in recht vergnüglichen Berechnungen über die wohltuenden Auswirkungen des chinesischen Sycee-Silbers auf die Handelsbilanz und auf die Edelmetallreserve der Bank von England. Doch, o Schreck! Die ersten Eindrücke, die die Palmerston-Presse mit soviel Mühe erweckt und gepflegt hatte, waren viel zu schwach, um den Schlag zu ertragen, der ihnen durch die Eröffnung der wirklichen Sachlage versetzt wurde.

"In einem besonderen Artikel ist vorgesehen, daß eine Summe von zwei Millionen Tael für Verluste, die britische Staatsbürger infolge des böswilligen Verhaltens der chinesischen Behörden in Kanton erlitten haben, und eine weitere Summe von zwei Millionen Tael für Kriegskosten" bezahlt werden sollen.

<586> Diese Summen ergeben nun zusammen nur 1.334.000 Pfd.St., während 1842 der Kaiser von China 4.200.000 Pfd.St. zu zahlen hatte, und zwar 1.200.000 Pfd.St. als Entschädigung für das konfiszierte eingeschmuggelte Opium und 3.000.000 Pfd.St. Kriegskosten. Von 4.200.000 Pfd.St. - mit Hongkong als Zugabe - auf lumpige 1.334.000 Pfd.St. herunterzukommen, zeugt schließlich nicht von blühenden Geschäften; aber das Schlimmste kommt noch. Da euer Krieg, so sagt der chinesische Kaiser, kein Krieg mit China war, sondern nur ein "Provinzkrieg" mit Kanton, seht selbst zu, wie ihr aus der Provinz Kwangtung den Schadenersatz herauspressen könnt, den anzuerkennen eure liebenswürdigen Kriegsschiffe mich gezwungen haben. Euer erlauchter General Straubenzee mag inzwischen Kanton als materielle Garantie besetzt halten und die britischen Waffen weiterhin zur Zielscheibe des Spottes sogar der chinesischen Krieger machen. Die kläglichen Gefühle des sanguinischen John Bull über die lästigen Bedingungen, mit denen die geringe Beute von 1.334.000 Pfd.St. verknüpft ist, machen sich bereits in hörbarem Stöhnen Luft. Eine Londoner Zeitung schreibt:

"Anstatt unsere 53 Kriegsschiffe zurückzuziehen und ihrer triumphalen Rückkehr mit Millionen Sycee-Silber beiwohnen zu können, werden wir uns wohl in der angenehmen Zwangslage befinden, eine Armee von 5.000 Mann aussenden zu müssen, um Kanton zurückzuerobern und zu halten und die Flotte bei der Fortführung jenes Provinzkriegs zu unterstützen, den der Stellvertreter des Konsuls erklärt hat. Aber wird dieser Provinzkrieg keine anderen Folgen haben als die Abdrängung unseres Handels mit Kanton in andere chinesische Häfen? ... Wird nicht durch dessen" (des Provinzkriegs) "Fortsetzung ein großer Teil des Teehandels an Rußland übergehen? Könnten nicht der Kontinent und England selbst in ihren Teelieferungen von Rußland und den Vereinigten Staaten abhängig werden?"

John Bulls Besorgnis wegen der Auswirkungen des "Provinzkriegs" auf den Teehandel ist nicht ganz unbegründet. Aus MacGregors "Commercial Tariffs" ist ersichtlich, daß Rußland im letzten Jahr des vorigen chinesischen Krieges in Kiachta 120.000 Kisten Tee übernahm. Im Jahre nach dem Friedensschluß mit China sank die russische Nachfrage um 75 Prozent und betrug nur noch 30.000 Kisten. Jedenfalls steht fest, daß die Kosten, die die Briten für die Besetzung von Kwangtung aufbringen müssen, die Passivseite der Bilanz so in die Höhe schnellen lassen, daß dieser zweite chinesische Krieg kaum die entstandenen Kosten decken wird, und das ist das Schlimmste, was, wie Herr Emerson richtig bemerkt, nach britischer Ansicht überhaupt geschehen kann.

Ein weiterer großer Erfolg des englischen Überfalls ist in Artikel 51 enthalten, wonach

<587> "der Ausdruck Barbar auf die britische Regierung oder auf britische Untertanen in keinem von den chinesischen Behörden veröffentlichten offiziellen chinesischen Dokument angewandt werden darf".

Wie demütig muß doch John Bull in den Augen der chinesischen Behörden erscheinen, die sich selbst den Namen Himmlische zugelegt haben, wenn er sich damit begnügt, das Schriftzeichen für das Wort Barbar aus den offiziellen Dokumenten auszumerzen, anstatt darauf zu bestehen, göttlich oder olympisch genannt zu werden.

Die den Handel betreffenden Artikel des Vertrags gewähren England keinerlei Vorteil, dessen sich nicht auch seine Konkurrenten erfreuten, sondern lösen sich vorderhand in nebelhafte Versprechungen auf, die zum größten Teil nicht das Pergament wert sind, auf das man sie geschrieben hat. Der Artikel 10 sieht vor:

"Britische Handelsschiffe sollen berechtigt sein, den Großen Fluß (Yangtse) aufwärts Handel zu treiben; doch kann angesichts der gegenwärtigen unruhigen Lage im oberen und unteren Tal kein Hafen für den Handel geöffnet werden mit Ausnahme des Hafens von Tschinkiang, der ein Jahr nach Unterzeichnung des Vertrags geöffnet werden soll. Wenn der Friede wiederhergestellt ist, soll es britischen Schiffen gestattet werden, diejenigen Häfen - und zwar nicht mehr als drei - bis einschließlich Hankou anzulaufen, die der britische Gesandte nach Beratung mit dem chinesischen Staatssekretär bestimmen wird."

Durch diesen Artikel werden die Briten faktisch vom Verkehr auf der großen Handelsader des Kaiserreiches ausgeschlossen, von "der einzigen Route", wie der "Morning Star" richtig bemerkt, "auf der sie ihre Fabrikate ins Innere befördern können". Wenn sie schön brav sind und der kaiserlichen Regierung helfen, die Rebellen aus den Gebieten zu vertreiben, die diese jetzt besetzt halten, dann dürfen sie vielleicht einmal den Großen Fluß befahren, aber nur bestimmte Häfen anlaufen. Was die neu geöffneten Seehäfen anbelangt, so sind von den ursprünglich angekündigten "sämtlichen" Häfen nur fünf übriggeblieben, die zu den Häfen des Vertrages von Nanking hinzukommen und die, wie eine Londoner Zeitung bemerkt, "im allgemeinen sehr abgelegen oder Inselhäfen sind". Nebenbei bemerkt sollte es doch an der Zeit sein, die trügerische Vorstellung fallenzulassen, daß der Handel proportional zur Anzahl der geöffneten Häfen zunehme. Man betrachte die Häfen an den Küsten Großbritanniens, Frankreichs oder der Vereinigten Staaten - wie wenige haben sich doch zu wirklichen Handelszentren entwickelt! Vor dem ersten chinesischen Krieg trieben die Engländer ausschließlich Handel in Kanton. Die Zulassung von fünf neuen Häfen hatte nicht etwa die Entstehung fünf neuer Handelszentren zur Folge, sondern die <588> allmähliche Verlagerung des Handels von Kanton nach Schanghai, wie aus folgenden Zahlen ersichtlich ist, die dem Blaubuch des Parlaments für 856,157 über den Handelsverkehr verschiedener Plätze entnommen sind. Gleichzeitig sollte man sich dessen erinnern, daß in den Exporten nach Kanton die Exporte nach Amoy und Futschou einbegriffen sind, die in Kanton umgeladen werden.

Britischer Exporthandel nach

Britischer Importhandel aus

Jahre

Kanton

Schanghai

Kanton

Schanghai

(in Dollars)

(in Dollars)

1844

15.500.000

2.500.000

17.900.000

2.300.000

1845

10.700.000

5.100.000

27.700.000

6.000.000

1846

9.900.000

3.800.000

15.300.000

6.400.000

1847

9.600.000

4.300.000

15.700.000

6.700.000

1848

6.500.000

2.500.000

8.600.000

5.000.000

1849

7.900.000

4.400.000

11.400.000

6.500.000

1850

6.800.000

3.900.000

9.900.000

8.000.000

1851

10.000.000

4.500.000

13.200.000

11.500.000

1852

9.900.000

4.600.000

6.500.000

11.400.000

1853

4.000.000

3.900.000

6.500.000

13.300.000

1854

3.300.000

1.100.000

6.000.000

11.700.000

1855

3.600.000

3.400.000

2.900.000

19.900.000

1856

9.100.000

6.100.000

8.200.000

25.800.000

Die "kommerziellen Klauseln des Vertrags sind unbefriedigend", lautet die Schlußfolgerung, zu der der "Daily Telegraph", Palmerstons widerlichster Speichellecker, gelangt, aber er amüsiert sich über die "ergötzlichste Nummer des Programms", darüber nämlich, "daß sich ein britischer Gesandter in Peking etablieren darf, während ein Mandarin sein Amt in London antreten und vielleicht gar die Königin zu einem Ball in Albert Gate einladen wird". Wie sehr sich John Bull auch an diesem Spaß ergötzen mag, es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß, wenn überhaupt ein politischer Einfluß in Peking ausgeübt werden kann, dieser Einfluß von Rußland ausgehen wird, das durch den jüngsten Vertrag ein neuerworbenes Territorium von der Größe Frankreichs besitzt, dessen Grenze größtenteils nur 800 Meilen von Peking entfernt ist. Es ist für John Bull keineswegs ein tröstlicher Gedanke, daß er selbst es gewesen ist, der Rußland durch seinen ersten Opiumkrieg einen Vertrag verschafft hat, der ihm die Schiffahrt auf dem Amur und freien Handel im Grenzgebiet gestattet hat, daß er Rußland durch seinen zweiten Opiumkrieg zu dem kostbaren Landstrich zwischen dem Tatar-Golf und dem Baikal-See verholfen hat, einem Gebiet, das Ruß- <589> land von jeher glühend begehrt und dessen es sich seit den Zeiten Zar Alexej Michailowitschs bis zu Nikolaus immer zu bemächtigen versucht hatte. Die Londoner "Times" fühlt sich so tief verletzt, daß sie bei der Veröffentlichung der Nachrichten aus St. Petersburg, in denen die von Großbritannien erzielten Vorteile stark übertrieben werden, vorsorglich darauf geachtet hat, jenen Teil des Telegramms zu verschweigen, in dem von Rußlands Erwerbung des Amurtals auf dem Vertragswege die Rede ist.