Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 594-597.

Karl Marx

Die Geistesgestörtheit des Königs von Preußen

Aus dem Englischen. 


["New-York Daily Tribune" Nr. 5462 vom 23. Oktober 1858]

<594> Berlin, 2. Oktober 1858

In einem seiner Märchen erzählt der deutsche Dichter Hauff, wie eine ganze klatsch- und skandalsüchtige kleine Stadt eines schönen Morgens aus ihrer üblichen Selbstzufriedenheit aufgescheucht wurde durch die Entdeckung, daß der erste Geck, der wahre Salonlöwe des Ortes, nur ein verkleideter Affe war. Die Preußen oder einige von ihnen scheinen augenblicklich unter der noch weniger angenehmen Vorstellung zu leiden, daß sie in all den verflossenen zwanzig Jahren von einem Verrückten regiert worden sind. Zumindest scheint in der Öffentlichkeit der Verdacht zu bestehen, man habe die treuen preußischen "Untertanen" mit einer derartigen dynastischen Mystifikation irregeführt. Es stimmt sicherlich nicht, wie es John Bull und seine tüchtigen Zeitungsherausgeber hinstellen wollen, daß diese Befürchtungen durch das Verhalten des Königs während des russischen Krieges entstanden seien. Im Gegenteil, sein Fernbleiben von dieser blutigen Schande wird als die vernünftigste politische Handlung betrachtet, deren sich Friedrich Wilhelm IV. rühmen kann.

Wenn ein Mensch, gleichgültig in welchen Lebensverhältnissen, und mögen sie noch so bescheiden sein, sich plötzlich als das Gegenteil von dem erweist, wofür man ihn gehalten hat, so kramen gewöhnlich seine zornigen und getäuschten Nachbarn bestimmt in seinem Vorleben, durchwühlen frühere Geschichten, erinnern sich an all das, was jemals bei dem Kerl nicht in Ordnung gewesen war, flicken verdächtige Momente und kuriose Dinge seiner Vergangenheit zusammen und haben schließlich die morbide Genugtuung, daß sie es schon längst hätten besser wissen müssen. So erinnert man sich jetzt - und ich kann die Tatsache aus eigener Kenntnis bezeugen -, daß Dr. Jacobi, der leitende Arzt der Rheinischen Irrenanstalt zu Siegburg, im Mai 1848 ganz plötzlich von Herrn Camphausen, dem damaligen Kabinettschef, nach Berlin zitiert wurde, um dem König, der, wie es damals hieß, an einer Gehirnentzündung litt, Hilfe zu erweisen. Das Nervensystem Seiner <595> Majestät sei, wie die Myrmidonen des neugebackenen Kabinetts im vertrautesten Kreise flüsterten, durch die Märztage arg erschüttert worden; ins besondere durch die Szene, wo das Volk ihn gezwungen hatte, den Leibern der infolge eines vorher verabredeten Mißgriffs ermordeten Bürger von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, sein Haupt zu entblößen und jene blutigen und noch warmen Leichen um Verzeihung zu bitten. Zweifelsohne hat sich Friedrich Wilhelm danach wieder erholt, doch steht keinesfalls fest, ob er nicht wie Georg III. an periodischen Rückfällen litt. Gelegentliche Überspanntheiten in seinem Verhalten wurden um so eher übersehen, als er dafür bekannt war, ziemlich stark den Libationen zu frönen, die einst die Priesterinnen eines bestimmten Gottes zu Theben zur Raserei getrieben hatten. Als er jedoch im Oktober 1855 Rheinpreußen besuchte, um den Grundstein für die neue Rheinbrücke bei Köln zu legen, wurden seltsame Gerüchte über ihn ausgesprengt. Mit eingefallenem Gesicht, schlotternden Beinen, hervorquellendem Bauch und einem Ausdruck furchtsamer Unruhe in den Augen sah er wie sein eigenes Gespenst aus. Während seiner Rede stammelte er, stolperte über seine eigenen Worte, verlor hin und wieder den Faden seiner Gedanken und sah vollkommen hilflos aus, während die Königin, dicht an seiner Seite, all seine Bewegungen ängstlich beobachtete. Entgegen seinen früheren Gewohnheiten empfing er niemanden, sprach mit niemandem und ging nur in Begleitung der Königin aus, die von ihm gar nicht mehr zu trennen war. Nach seiner Rückkehr nach Berlin sickerten von Zeit zu Zeit seltsame ondits <Gerüchte> über tätliche Beleidigungen durch, die er in plötzlichen Jähzornausbrüchen seinen eigenen Ministern, sogar Manteuffel, zugefügt hatte. Um die öffentliche Aufmerksamkeit zu beschwichtigen, hieß es, der König leide an Wassersucht. Später häuften sich die Berichte über Unglücksfälle in seinen eigenen Garten von Sanssouci, wonach er sich einmal das Auge an einem Baum verletzt, ein andermal das Bein an einem Stein aufgeschlagen habe, und schon Anfang 1856 wurde hier und da angedeutet, daß er unter zeitweiligen Anfällen von Geistesgestörtheit leide. Es wurde vornehmlich erzählt, er bilde sich ein, er sei Unteroffizier und müsse noch die Prüfung im Übungsmarsche <Übungsmarsche: in der "N.-Y. D. T." deutsch> bestehen, wie es im preußischen Feldwebeljargon heißt. Daher pflegte er für sich allein Amokläufe in seinen Parks in Sanssouci und Charlottenburg zu veranstalten.

Diese und andere Erinnerungen aus einem Zeitraum von zehn Jahren werden jetzt sorgfältig miteinander verknüpft. Warum, fragt man sich, sollte das preußische Volk in dieser ganzen Zeit nicht mit einem Wahnsinnigen als <596> König zum Narren gehalten worden sein, da man jetzt eingesteht, daß man Friedrich Wilhelm IV. trotz seiner Geistesgestörtheit zumindest in den letzten achtzehn Monaten auf dem Thron beließ, und weil infolge der Streitigkeiten innerhalb der königlichen Familie alles, was die Königin und die Minister im Namen des Königs vorgegaukelt hatten, öffentlich aufgedeckt wurde. In Fällen von Geistesgestörtheit, die auf Gehirnerweichung beruhen, haben die Patienten gewöhnlich bis zum Augenblick des Todes noch lichte Momente. So verhält es sich mit dem König von Preußen, und dieser eigenartige Charakter seiner Geistesgestörtheit gewährte passende Gelegenheiten, um Betrügereien zu begehen.

Die Königin, die ihren Gatten ständig beobachtete, nahm jeden seiner lichten Momente wahr, um ihn dem Volk zu zeigen oder ihn bei öffentlichen Anlässen auftreten zu lassen und ihn für die Rolle zu präparieren, welche er spielen sollte. Manchmal jedoch wurde ihre Rechnung unbarmherzig durchkreuzt. In Gegenwart der Königin von Portugal, die, wie man sich erinnern wird, ihre Hochzeit in Berlin feierte, sollte der König, per procura <in Stellvertretung (des Bräutigams)>, öffentlich den kirchlichen Zeremonien beiwohnen. Alles war bereit; Minister, Adjutanten, Höflinge, ausländische Gesandte und die Braut selbst warteten auf ihn, als er plötzlich, trotz verzweifelter Bemühungen der Königin, von der Halluzination gepackt wurde, er selbst sei der Bräutigam. Einige seltsame Bemerkungen, die er über sein einmaliges Schicksal fallen ließ, noch bei Lebzeiten seiner ersten Gemahlin abermals vermählt zu werden, und über die Unschicklichkeit seines (des Bräutigams) Erscheinens in militärischer Uniform, ließen denen, die ihn zur Schau stellten, keine andere Wahl, als das angekündigte Schauspiel wieder abzusagen.

Die Dreistigkeit, mit der die Königin handelte, wird aus folgendem Zwischenfall ersichtlich. In Potsdam besteht noch ein alter Brauch, wonach die Fischer dem König einmal im Jahr eine alte Feudalabgabe an Fisch zahlen. Bei dieser Gelegenheit wagte es die Königin, um den Leuten aus dem Volke zu beweisen, daß die damals überall zirkulierenden Gerüchte über den Geisteszustand des Königs nicht auf Wahrheit beruhten, die angesehensten Fischer zu einem Fischessen einzuladen, bei dem der König selbst den Vorsitz führte. Tatsächlich verlief das Essen ziemlich gut, der König murmelte einige auswendig gelernte Worte, lächelte und verhielt sich im großen ganzen anständig. Die Königin, besorgt, daß das so gut eingefädelte Schauspiel gestört werden könne, beeilte sich, den Gästen das Signal zum Aufbruch zu geben, als plötzlich der König aufstand und mit donnernder Stimme forderte, <597> in die Bratpfanne gelegt zu werden. Das arabische Märchen von dem Mann, der in einen Fisch verwandelt wurde, ward für ihn zur Wirklichkeit. Gerade durch solche Unbesonnenheiten, die die Königin bei ihrem Spiel notwendigerweise wagen mußte, brach die Komödie zusammen.

Es erübrigt sich für mich zu sagen, daß kein Revolutionär eine bessere Methode zur Herabsetzung der Königswürde hätte erfinden können. Die Königin selbst, eine bayrische Prinzessin und Schwester der berüchtigten Sophie von Österreich (der Mutter Franz Josephs), hatte man in der breiten Öffentlichkeit niemals als Haupt der Berliner Kamarilla verdächtigt. Vor 1848 trug sie den Beinamen "die milde Landesmutter" <"die milde Landesmutter": in der "N.-Y. D. T." englisch und deutsch>, und man nahm an, daß sie keinerlei öffentlichen Einfluß ausübe und daß sie durch ihre einfältige Denkweise der Politik völlig fremd gegenüberstünde. Es gab einiges Murren über ihren vermeintlichen geheimen Katholizismus, einige Schmähungen wegen ihrer Schirmherrschaft über den mystischen Schwanenorden, den der König für sie gestiftet hatte; das war aber auch alles, woran man bei ihr öffentlich Anstoß nahm. Nach dem Sieg des Volkes in Berlin appellierte der König an dessen Nachsicht im Namen der "milden Landesmutter", und dieser Appell blieb bei seiner Zuhörerschaft nicht ohne Wirkung. Seit der Konterrevolution jedoch hat die Einschätzung der Schwester der Sophie von Österreich durch die Öffentlichkeit eine allmähliche Änderung erfahren. Die Person, in deren Namen man sich der Großmut des siegreichen Volkes versichert hatte, stellte sich gerade gegenüber den Müttern und Schwestern taub, deren Söhne und Brüder in die Hände der siegreichen Konterrevolution geraten waren. Während die "milde Landesmutter" den monarchischen Scherz zu dulden schien, einige arme Landwehrleute < Landwehrleute: in der "N.-Y. D. T." deutsch> in Saarlouis am Geburtstag des Königs im Jahre 1850 hinrichten zu lassen, also zu einer Zeit, als das von diesen Männern verübte Verbrechen, nämlich die Verteidigung der Rechte des Volkes, schon vergessen geglaubt war, verwendete sie ihren ganzen Vorrat an sentimentaler Religiosität für die öffentliche Ehrung der Gräber der beim Angriff auf das unbewaffnete Volk von Berlin gefallenen Soldaten und für ähnliche Handlungen, bei denen sie ihre reaktionäre Einstellung offen zur Schau stellte. Ihre heftigen Streitereien mit der Prinzessin von Preußen wurden allmählich ebenfalls Gegenstand öffentlichen Geredes, aber es schien auch ganz natürlich, daß sie, die Kinderlose, einen Groll gegen die hochmütige Gattin des legitimen Nachfolgers des Königs hegte. Auf dieses Thema werde ich noch zurückkommen.