Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 613-616.

Karl Marx

Die Lage in Preußen

Aus dem Englischen.


"New-York Daily Tribune" Nr. 5471 vom 3. November 1858

<613> Berlin, 16. Oktober 1858

Wenn die Welt im allgemeinen nichts oder wenig von der preußischen Verfassung weiß, so wird ihr die bedeutsame Tatsache, daß das preußische Volk selbst in der gleichen finsteren Unwissenheit tappt, auf alle Fälle jeden wünschenswerten Trost spenden. Gerade jetzt sind Wahlausschüsse in Berlin, Breslau, Königsberg, Köln und all den anderen großen oder kleinen Zentren des Liberalismus eifrig damit beschäftigt, in den vergilbten Blättern der preußischen Charte nachzuschlagen, um sich zu vergewissern, welche für den augenblicklichen Zweck geeigneten legitimen Angriffs- oder Verteidigungswaffen jenem geheimnisvollen Arsenal entnommen werden könnten. Während der vergangenen zehn Jahre, in denen diese Charte als eine Sache von wirklichem Wert, als ein letztes Ergebnis, als eine endgültige Lösung hingestellt wurde, zeigten ihr die meisten Preußen die kalte Schulter und kümmerten sich um sie genauso wenig wie um die Gesetze des Manu. In dem Augenblick, da allgemein das Gefühl aufkam, daß die Umstände diesen offiziellen Trödel in ein zweischneidiges Schwert verwandelt hatten, ist offensichtlich jedermann eifrig bemüht, sich mit "der großen Unbekannten" vertraut zu machen. Andererseits nimmt in offiziellen Kreisen das höchst unbehagliche Gefühl überhand, die Frucht der Erkenntnis könnte sich in diesem Falle, wie in der vorsündflutlichen Epoche, als Frucht der Sünde erweisen; und die Verfassungssucht, die das preußische Volk ganz plötzlich ergriffen hat, wird mit düsterem und, ich kann nur sagen, wohlbegründetem Argwohn betrachtet. Gerade in diesem Augenblick erwägt der Prinz von Preußen einen coup d'état als eine Möglichkeit, zu der er sich in nicht allzu ferner Zeit getrieben sehen könnte. Wenn der Plan der Wahlausschüsse gelänge, die Mehrheit der Wahlkammer aus den Reihen der Liberalen der Nationalversammlung von 1848, aus den Waldeck, Jacoby, Rodbertus, Unruh, Kirchmann usw., zu rekrutieren, dann müßte der Prinz sich noch einmal auf dem gleichen Schlachtfelde schlagen, welches das Königtum im Dezember 1848 erobert zu haben <614> schien. Der bloße Atem, das Gemurmel und das Getöse des wiedererwachten Volkslebens verwirren ihn. Sollte er - wie ein Teil seiner eigenen Kamarilla ihm rät - ein Kabinett Bismarck-Schönhausen bilden und damit der Revolution den Fehdehandschuh unverblümt ins Gesicht werfen und ohne viele Umstände die offenkundig an seinen Regierungsantritt geknüpften Hoffnungen im Keim ersticken, dann könnte die Wahlkammer in Übereinstimmung mit Artikel 56 der Verfassung und mit seinen eigenen Verordnungen die "Notwendigkeit" seiner Regentschaft zur Diskussion stellen. Sein Regime würde also mit aufwühlenden und bedrohlichen Debatten über den legitimen oder usurpatorischen Charakter seines Titels beginnen, Wenn er andererseits der Bewegung auch nur für kurze Zeit gestattete, sich zu entfalten und ungestört greifbare Formen anzunehmen, so würde die alte royalistische Partei seine Schwierigkeiten vermehren, indem sie sich gegen ihn wenden und ihn dafür angreifen würde, daß er die Schleusen der Revolution wieder geöffnet, die sie, nach ihrer Meinung, mit staatsmännischer Überlegenheit zu schließen verstanden hatte, solange ihr unter dem Banner des alten geisteskranken Königs das Steuer zu führen erlaubt war. Die Geschichte der Monarchien zeigt, daß es in Epochen sozialer Revolutionen nichts Gefährlicheres für einen entschlossenen und geraden, aber gewöhnlichen und altmodischen Menschen gibt, als das Erbe eines wankelmütigen, schwachen und treulosen Charakters zu übernehmen. Jakob I., dem Friedrich Wilhelm am ähnlichsten ist, widerstand dem Sturm, der Karl I. aufs Schafott brachte, und Jakob II. sühnte im einsamen Exil jenen Wahn vom Gottesgnadentum, der die ungewöhnliche Popularität Karls II. noch erhöht hatte. Vielleicht war es eine instinktive Furcht vor den seiner harrenden Schwierigkeiten, die den Prinzen Wilhelm dazu bewog, der Proklamation der Charte hartnäckigen Widerstand entgegenzusetzen, einer Charte, die vom gleichen König <Friedrich Wilhelm IV.> verkündet wurde, der 1847 bei der Eröffnung des Vereinigten Landtags der Provinzialstände hochtrabend erklärt hat:

"Es drängt Mich zu der feierlichen Erklärung: daß es keiner Macht der Erde je gelingen soll, Mich zu bewegen, das natürliche, gerade bei uns durch seine innere Wahrheit so mächtig machende Verhältnis zwischen Fürst und Volk in ein konventionelles, konstitutionelles zu wandeln, und daß Ich es nun und nimmermehr zugeben werde, daß sich zwischen unseren Herrgott im Himmel und dieses Land ein beschriebenes Blatt gleichsam als eine zweite Vorsehung eindränge, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und durch sie die alte, heilige Treue zu ersetzen."

In einer früheren Korrespondenz habe ich schon berichtet, wie es dazu kam, daß die Skizze einer vom Kabinett Camphausen entworfenen und von <615> der revolutionären Versammlung von 1848 ausgearbeiteten Verfassung die Grundlage der gegenwärtigen Verfassung bildet, nachdem nämlich ein coup d'état den ursprünglichen Entwurf hinweggefegt und eine oktroyierte Charte ihn in einer verstümmelten Form reproduziert hatte, nachdem zwei zu ihrer Revision einberufene Kammern die oktroyierte Charte umgearbeitet und unzählige königliche Verordnungen die revidierte Charte korrigiert hatten; man bediente sich dieser ganzen mühsamen Prozedur, um auch die letzten Merkmale auszulöschen, die den revolutionären Ursprung des Flickwerks bezeugen könnten. Doch wurde dieses Ziel nicht völlig erreicht, da alle fertigen Charten mehr oder weniger nach dem französischen Muster zugeschnitten werden müssen, und, man tue was man will, jedem Anspruch auf auffallende Originalität entsagt werden muß. Wenn man daher Titel II der Verfassung vom Januar 1850 durchsieht, der von den "Rechten der Preußen", sozusagen den preußischen droits de l'homme <Menschenrechten> handelt, so lesen sich die Absätze auf den ersten Blick recht gut.

"Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich. Die persönliche Freiheit ist gewährleistet. Die Wohnung ist unverletzlich. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Strafen können nur in Gemäßheit des Gesetzes angedroht oder verhängt werden. Das Eigentum ist unverletzlich. Der bürgerliche Tod und die Strafe der Vermögenseinziehung finden nicht statt. Die Freiheit der Auswanderung kann von Staats wegen nur in bezug auf die Wehrpflicht beschränkt werden. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse. Die Einführung der Zivilehe erfolgt nach Maßgabe eines besonderen Gesetzes. Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Für die Bildung der Jugend soll durch öffentliche Schulen genügend gesorgt werden. Unterricht zu erteilen und Unterrichtsanstalten zu gründen und zu leiten steht jedem frei. Die Mittel zur Errichtung, Unterhaltung und Erweiterung der öffentlichen Volksschule werden von den Gemeinden ... aufgebracht. In der öffentlichen Volksschule wird der Unterricht unentgeltlich erteilt. Jeder Preuße hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck ... seine Meinung frei zu äußern. Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck ... begangen werden, sind nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen. Alle Preußen sind berechtigt, sich ... ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu versammeln. Alle Preußen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen. Das Petitionsrecht steht allen Preußen zu. Das Briefgeheimnis ist unverletzlich. Alle Preußen sind wehrpflichtig. Die bewaffnete Macht kann ... nur in den vom Gesetze bestimmten Fällen ... verwendet werden. Die Errichtung von Lehen ... ist untersagt. Das bestehende Feudaleigentum soll in freies <616> Eigentum umgestaltet werden. Die freie Teilbarkeit des Grundeigentums wird gewährleistet."

Wendet man sich nun von den "Rechten der Preußen", wie sie auf dem Papier stehen, der traurigen Gestalt zu, die sie in Wirklichkeit abgeben, so wird man sich, wenn man das nicht schon früher getan hat, des ungewöhnlichen Gegensatzes zwischen der Idee und der Realität, zwischen Theorie und Praxis voll bewußt werden. Bei jedem Ihrer Schritte, selbst bei einer einfachen Ortsveränderung, tritt die allmächtige Bürokratie in Aktion, diese zweite Vorsehung echt preußischer Herkunft. Man kann weder leben noch sterben, weder heiraten, Briefe schreiben, denken, drucken, sich Geschäften widmen, lehren oder lernen, eine Versammlung einberufen, eine Fabrik bauen, auswandern, noch überhaupt irgend etwas tun ohne "obrigkeitliche Erlaubnis" <"obrigkeitliche Erlaubnis" in der "N.-Y. D. T." deutsch>. Was die Freiheit der Wissenschaft oder Religion, die Aufhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit, die Abschaffung der Standesprivilegien oder die Beseitigung der Fideikommisse und der Primogenitur betrifft - so ist das alles barer Unsinn. Preußen war in allen diesen Dingen im Jahre 1847 freier als heute. Woher dieser Widerspruch? Alle von der preußischen Charte gewährten Freiheiten haben einen großen Pferdefuß. Sie sind innerhalb "der gesetzlichen Grenzen" gewährt. Nun ist aber das bestehende Gesetz ebendasselbe absolutistische Gesetz, das von Friedrich II. herstammt anstatt vom Geburtstag der Verfassung. Daher besteht ein tödlicher Gegensatz zwischen dem Gesetz der Verfassung und der Verfassung des Gesetzes, denn die letztere verwandelt in Wirklichkeit das erstere in leeren Schein. Andererseits bezieht sich die Charte in den entscheidendsten Punkten auf organische Gesetze, die deren vage Umrisse verdeutlichen sollen. Nun sind diese organischen Gesetze unter starkem Druck der Reaktion ausgearbeitet worden. Sie haben Garantien beseitigt, die selbst während der schlimmsten Zeiten der absoluten Monarchie bestanden, so z.B. die Unabhängigkeit der Richter von der vollziehenden Gewalt. Nicht zufrieden mit diesen kombinierten Zersetzungsmitteln, den alten und den neuerdachten Gesetzen, räumt die Charte dem König das Recht ein, sie in jeder politischen Beziehung außer Kraft zu setzen, wann immer er es für richtig erachtet.

Dennoch gibt es ungeachtet all dessen zwei Preußen, das Preußen der Charte und das Preußen des Hauses Hohenzollern. Aus diesem Gegensatz einen Ausweg zu finden, bemühen sich jetzt die Wahlausschüsse trotz der Schwierigkeiten, die ihnen die Wahlgesetze in den Weg legen.