Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 12, Berlin/DDR 1961. S. 663-667.

Karl Marx

Das Problem der Ionischen Inseln

Aus dem Englischen. 


"New-York Daily Tribune" Nr. 5526 vom 6. Januar 1859.

<663> London, 7. Dezember 1858

Der Fall des Herrn William Hudson Guernsey, alias Washington Guernsey, strafrechtlich verfolgt wegen des Diebstahls zweier Geheimdepeschen aus der Bibliothek des Britischen Kolonialamtes, die der Lord Oberkommissar für die Ionischen Inseln, Sir John Young, am 10. Juni 1857 und am 18. Juli 1858 an die ehemalige Regierung Lord Palmerstons gerichtet hatte, ist soeben vor dem Hauptkriminalgericht unter Vorsitz des Barons Martin verhandelt worden und hat mit dem Freispruch des Angeklagten geendet. Der Prozeß war sowohl vom politischen als auch juristischen Standpunkt interessant. Wie erinnerlich, hatte der homerische Herr Gladstone in seiner außerordentlichen Mission, die Ionischen Inseln zu befrieden, gerade London verlassen, als - gleich einem skythischen Pfeil, von unsichtbarer Hand geschossen - Sir John Youngs Depesche in den Spalten der "Daily News" erschien. Die Depesche schlägt die Preisgabe des Protektorats über die Inseln vor. Sie sollen Griechenland überlassen werden, aber erst, nachdem der schönste Bissen - Korfu - abgeschnitten und in die kolonialen Herrschaftsgebiete Großbritanniens einverleibt worden ist. Die allgemeine Verwunderung war groß. Der Teil der Londoner Presse, der gegen die Geheimdiplomatie opponiert, beglückwünschte Lord Derbys Kabinett zu dem kühnen Schritt, die Öffentlichkeit in das Geheimnis des diplomatischen Gemunkels einzuweihen. In naiver Begeisterung verkündete der "Morning Star", daß im Vereinigten Königreich eine neue Epoche der internationalen Politik angebrochen sei. Doch die liebliche Stimme der Lobpreisungen wurde sogleich von den schrillen und zornigen Stimmen der Kritik übertönt. Die dem Ministerium feindliche Presse stürzte sich eifrig auf den, wie sie es nannte, "vorbedachten groben Fehler", der in erster Linie auf nichts anderes abziele, sagten sie, als auf die Zerstörung der <664> politischen Unabhängigkeit des Herrn Gladstone und auf seine zeitweilige Entfernung aus der parlamentarischen Arena; während gleichzeitig seine eigenen Auftraggeber, um seine Mission zu vereiteln, einen skrupellosen Streich von machiavellistischer Tücke verübten, indem sie ein Dokument veröffentlichten, das Gladstone zugleich in eine schiefe Lage gegenüber dem Partner, mit dem er verhandeln sollte, gegenüber der öffentlichen Meinung in England und gegenüber dem Völkerrecht von Europa brachte. Um einen allzu vertrauensseligen Rivalen zu erledigen, schrieben die "Times", der "Globe", der "Observer" und die kleineren der dem Ministerium feindlichen Zeitungen, hätte das Derby-Kabinett nicht gezögert, eine Indiskretion zu begehen, die unter den gegebenen Umständen auf nichts weniger als auf Verrat hinauslaufe. Wie könnte Herr Gladstone verhandeln, wenn die Ionier nicht nur darüber informiert wären, daß man von seiten Britanniens zu einem vorgefaßten Beschluß gelangt war, sondern wenn auch die führenden ionischen Patrioten kompromittiert wären durch den Verrat der Tatsache, daß sie einen Plan akzeptierten, der die Zerstückelung der sieben Inseln vorsähe? Wie könnte er angesichts der europäischen Proteste verhandeln, die sich bestimmt aus einer solchen Verletzung des Wiener Vertrages ergäben, jenes Vertrages, der England nicht als Besitzer von Korfu einsetzt, sondern nur als den Beschützer der sieben Inseln, und der die territoriale Aufteilung der europäischen Landkarte für immer regelte? In der Tat folgten diesen Zeitungsartikeln ernste Warnungen seitens Rußlands und Frankreichs.

Lassen Sie mich en passant bemerken, daß der Wiener Vertrag, der einzige anerkannte Kodex des internationalen Rechts in Europa, eine der ungeheuerlichsten fictiones juris publici <Unterstellungen des Staatsrechts> in den Annalen der Menschheit bildet. Wie lautet der erste Artikel dieses Vertrages? Ewiger Ausschluß der Familie Bonaparte vom französischen Thron; doch da sitzt Louis-Napoleon, der Begründer des Zweiten Kaiserreiches, den alle gekrönten Häupter Europas anerkennen und umschmeicheln, vor dem sie sich beugen und mit dem sie sich verbrüdern. Ein weiterer Artikel sagt aus, daß Belgien für immer Holland zugebilligt ist, während andererseits die Lostrennung Belgiens von Holland seit den letzten achtzehn Jahren nicht nur ein fait accompli <eine vollendete Tatsache>, sondern eine legale Tatsache ist. Dann schreibt der Wiener Vertrag vor, daß Krakau, seit 1846 Österreich einverleibt, für immer eine unabhängige Republik bleiben solle; und die letzte, aber nicht unwichtigste Bestimmung legt fest, daß Polen, von Nikolaus dem Russischen Reich eingegliedert, ein unabhängiges konstitutionelles Königreich sein soll, nur durch die persönlichen Bande der Romanow- <665> Dynastie mit Rußland verbunden. So hat man Blatt für Blatt aus diesem heiligen Buch des europäischen jus publicum <Staatsrechtes> gerissen, und es wird nur dann angerufen, wenn es den Interessen der einen Partei oder der Schwäche der anderen entspricht.

Das Derby-Kabinett schwankte sichtlich, ob es das unverdiente Lob eines Teiles der Presse einstecken oder den unverdienten Verleumdungen des anderen Teils entgegnen sollte. Nach achttägigem Schwanken entschloß es sich jedoch zu dem letzteren Schritt und erklärte durch eine öffentliche Anzeige, daß es mit der Veröffentlichung der Depeschen Sir John Youngs nichts zu tun habe und gegenwärtig eine Ermittlung im Gange sei, um den Urheber des verbrecherischen Streiches ausfindig zu machen. Schließlich wurde Herr William Hudson Guernsey als der schuldige Mann aufgespürt, dem man vor dem Hauptkriminalgericht den Prozeß machte und ihn anklagte, die Depeschen entwendet zu haben. Das Derby-Kabinett geht infolgedessen siegreich aus diesem Kampf hervor; und hier endet das politische Interesse an dem Prozeß. Doch als Folge dieses Prozesses ist die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit wieder auf die Beziehungen zwischen Großbritannien und den Ionischen Inseln gelenkt worden. Daß Sir John Youngs Plan keine private Grille war, wird durch folgenden Auszug aus einer öffentlichen Botschaft seines Vorgängers, Sir Henry Ward, an das Ionische Parlament am 13. April 1850 überzeugend bewiesen.

"Es obliegt mir nicht, im Namen der britischen Krone von dieser in der Botschaft angedeuteten fernen Zukunft zu sprechen, in der die verstreut lebenden Glieder des griechischen Volkes mit Zustimmung der europäischen Mächte in einem mächtigen Reich wieder vereinigt sein mögen. Doch es fällt mir nicht schwer, meiner eigenen Meinung Ausdruck zu verleihen" (er sprach im Namen der britischen Krone), "daß, läge ein solches Ereignis im Bereich der menschlichen Möglichkeiten, der Monarch und das Parlament von England gleicherweise gewillt wären, dafür zu sorgen, daß die Ionier wieder ihren Platz als Glieder der neuen Macht einnehmen, die ihrerseits dann den gebührenden Platz in der Weltpolitik einnehmen würde."

Inzwischen machten sich die philanthropischen Gefühle Großbritanniens für die Inseln in einer echt österreichischen Grausamkeit Luft, mit der Sir Henry Ward die damalige Rebellion auf den Inseln niederschlug. Von einer Bevölkerung von 200.000 Seelen wurden 8.000 mit Erhängen, Auspeitschen, Einkerkerung und Verbannung bestraft; Frauen und Kinder wurden solange gepeitscht, bis das Blut floß. Um nicht der Übertreibung verdächtigt zu <666> werden, zitiere ich die britische Zeitung "Morning Chronicle" vom 25. April 1850:

"Ein Schauder überkommt uns bei den gräßlichen Vergeltungsmaßnahmen, die von den Kriegsgerichten unter der Leitung des Lord Oberkommissars verhängt wurden. Tod, Deportation und Prügelstrafen wurden über die unglücklichen Verbrecher verhängt, in einigen Fällen ohne Prozeß, in anderen durch das Schnellverfahren nach dem Kriegsrecht. Es gab 21 Hinrichtungen und eine große Zahl anderer Strafen."

Doch dann brüsten sich die Briten damit, daß sie die Ionier mit einer freien Verfassung gesegnet und deren materielle Ressourcen zu einer Höhe entwickelt hätten, die einen hellen Kontrast zu der erbärmlichen wirtschaftlichen Lage des eigentlichen Griechenlands bilden. Was nun die Verfassung angeht, so war es Lord Grey zu dem Zeitpunkt, da er sich der Verfassungskrämerei für das ganze Kolonialreich Großbritanniens hingab, schlechterdings nicht möglich, die Ionischen Inseln zu übergehen; doch er gab ihnen nur das zurück, was England ihnen lange Jahre hindurch betrügerisch entrissen hatte.

Durch einen vom Grafen Kapodistrias entworfenen und mit Rußland 1815 in Paris unterzeichneten Vertrag wurde Großbritannien der Schutz der Ionischen Inseln unter der ausdrücklichen Bedingung übertragen, daß es sich an die den Inseln 1803 gewährte russische Verfassung hält. Der erste britische Lord Oberkommissar, Sir Thomas Maitland, hob diese Verfassung auf und ersetzte sie durch eine, die ihn mit unumschränkter Macht ausstattet. 1839 erklärt der Ionier Chevalier Mustoxydes in seinem "Pro Memoria", das das Unterhaus am 22. Juni 1840 drucken ließ:

"Die Ionier genießen nicht das Privileg, das den griechischen Gemeinwesen sogar in den Tagen der türkischen Tyrannei belassen wurde, das Privileg, ihre eigenen richterlichen Beamten zu wählen und ihre eigenen Angelegenheiten zu verwalten, sie unterstehen vielmehr Beamten, die ihnen von der Polizei aufgezwungen werden. Der geringe Spielraum, der den Gemeindekörperschaften jeder Insel in der Verwaltung ihrer eigenen Einkünfte gestattet war, ist ihnen entrissen worden, und um sie abhängiger zu machen, wurden diese Einkünfte in die öffentliche Schatzkammer geworfen."

Was die Entwicklung der materiellen Ressourcen betrifft, so genügt es zu sagen, daß England, das Freihandels-England, sich nicht schämt, die Ionier mit Ausfuhrzöllen zu plagen, ein barbarisches Mittel, das, wie es scheint, nur im Finanzkodex der Türkei zu finden ist. So werden zum Beispiel Korinthen, das Haupterzeugnis der Inseln, mit einem Ausfuhrzoll von 221/2 Prozent belastet.

<667> "Die dazwischenliegenden Meere", sagt ein Ionier, "die sozusagen die Landstraße der Inseln bilden, werden nach der Methode eines Schlagbaums in jedem Hafen durch Transitzölle gesperrt, die Waren aller Art besteuern, die von Insel zu Insel ausgetauscht werden."

Das ist noch nicht alles. Während der ersten dreiundzwanzig Jahre der britischen Verwaltung wurde die Besteuerung um das Dreifache und die Ausgaben um das Fünffache erhöht. Später fand eine Herabsetzung statt, aber 1850 gab es dann ein Defizit, das der Hälfte der früheren Gesamtbesteuerung entsprach, wie die folgende Tabelle zeigt:

Jährliche Besteuerung

Ausgaben

1815

68.459 Pfd.St.

48.500 Pfd.St.

1817*

108.997 Pfd.St.

87.420 Pfd.St.

1850

147.482 Pfd.St.

170.000 Pfd.St.

* erstes Jahr des britischen Protektorats

So sind also Ausfuhrzölle auf ihre eigenen Produkte, Transitzölle zwischen den verschiedenen Inseln, Steuererhöhung und Vergeudung von Ausgaben die wirtschaftlichen Segnungen, die John Bull den Ioniern brachte. Seinem Orakel im Printing House Square zufolge hascht er nur deshalb nach Kolonien, um ihnen die Grundsätze der Freiheit beizubringen; wenn wir uns an die Tatsachen halten, so beweisen die Ionischen Inseln doch nur, ebenso wie Indien und Irland, daß, um daheim frei zu sein, John Bull im Ausland versklaven muß. So macht er seiner sittlichen Entrüstung über Bonapartes Spitzelsystem in Paris gerade in dem Augenblick Luft, da er es selbst in Dublin einführt.

Das juristische Interesse an dem fraglichen Prozeß konzentriert sich auf einen Punkt: Guernseys Verteidiger gab zu, daß zehn Exemplare der Depeschen entwendet worden sind, vertrat aber die Unschuld seines Klienten, weil nicht die Absicht bestand, diese für Privatzwecke zu gebrauchen. Wenn das Verbrechen des Diebstahls nur von der Absicht abhängt, mit der fremdes Eigentum rechtswidrig angeeignet wird, so wird das Strafrecht in dieser Beziehung auf einen toten Punkt gebracht. Die soliden Bürger auf der Geschworenenbank beabsichtigen wohl kaum, solch eine Revolution in den Eigentumsverhältnissen zu bewirken, sondern wollten durch ihr Urteil lediglich versichern, daß öffentliche Dokumente nicht das Eigentum der Regierung, sondern der Öffentlichkeit sind.