Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 168-171.

1. Korrektur
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Die Kriegsaussichten in Europa

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5547 vom 31. Januar 1859]

<168> Paris, 11. Januar 1859

Die Antwort des österreichischen Kaisers auf den ungewöhnlichen Neujahrsgruß, der ihm vom "holländischen Neffen der Schlacht von Austerlitz" aus Paris gesandt wurde und des vortrefflichen Emanuels Eröffnungsansprache an die sardinischen Kammern haben keineswegs dazu beigetragen, die Kriegsfurcht in Europa zu mildern. In allen Zentren des Geldmarktes weist das Barometer auf " Sturm". Der König von Neapel zeigt sich ganz plötzlich großmütig und russenfeindlich; er entläßt eine Reihe politischer Häftlinge, verbannt Poerio und seine Leute und verweigert Rußland ein Kohlendepot an der Adria; er streitet sich mit den Tedeschi <Deutschen>, und der Kreuzzug gegen die Raucher von österreichischen Zigarren geht weiter in Mailand, Lodi, Cremona, Brescia, Bergamo, Parma und Modena, während in Pavia die Vorlesungen an der Universität auf Befehl der Regierung eingestellt wurden; Garibaldi, nach Turin gerufen, erhielt den Auftrag, die Nationalgarde zu reorganisieren; ein neues Korps von ungefähr 15.000 Jägern wird in Turin aufgestellt, und die Befestigungsarbeiten in Casale werden mit äußerster Schnelligkeit vorangetrieben. Eine österreichische Armee von ungefähr 30.000 Mann, ein vollständiges corps d'armée (das dritte), wird inzwischen in das Lombardisch-Venetianische Königreich einmarschiert sein und Graf Gyulay, ein General der Radetzky-Schule und ein Mann mit dem Instinkt eines Haynau, ist schon in Mailand eingetroffen, um dem sanften, gutherzigen, aber schwachen Erzherzog Ferdinand Maximilian die Zügel aus der Hand zu nehmen. In Frankreich sind Truppenverschiebungen an der Tagesordnung, während der Kaiser bei Versuchen mit der neuen Kanone in Vincennes unermeßlichen Eifer an <169> den Tag legt. Die preußische Regierung hat endlich ihr neues System der Freiheit eingeführt, indem sie vom Parlament Geld fordert, um das stehende Heer zu vergrößern und die Landwehr <Landwehr: in der "N.-Y. D. T." deutsch> zu einem Anhang der Linientruppen zu machen. Bei solch sichtbaren Wolken am Horizont Europas muß man über das verhältnismäßig geringfügige Sinken der Kurse an der Londoner Börse staunen, die gewöhnlich den Pulsschlag der europäischen Gesellschaft deutlicher anzeigt als die finanziellen Observatorien von Paris und dem übrigen Kontinent.

Zuerst waren die scharfsichtigen Beobachter an der Londoner Börse nicht ganz abgeneigt, Napoleons Neujahrsstreich als ein Spekulationsmanöver ihres erhabenen Verbündeten zu betrachten. Tatsächlich, sobald die französischen Wertpapiere zu fallen begannen, stürzten sich die Leute Hals über Kopf in Baals Tempel, um Staatsobligationen, Crédit-mobilier- und Eisenbahnaktien um jeden Preis loszuschlagen. Nachdem ein Teil der Spekulanten, die mit einem Steigen der Papiere gerechnet hatten, ruiniert war, gab es plötzlich am 6. Januar ein leichtes Anziehen an der Pariser Börse infolge des Gerüchts, daß eine Regierungserklärung im "Moniteur" der Äußerung "Seiner Majestät" gegenüber dem österreichischen Gesandten den Stachel nehmen sollte. Solch eine Erklärung erschien tatsächlich am Freitag, dem 7. Januar; die Staatspapiere stiegen, und viele Spekulanten, die den Tuilerien nahestanden, heimsten gerade an diesem Freitag außerordentliche Gewinne ein. So erstatteten sich diese Herren die Auslagen für ihre Neujahrsgeschenke auf die billigste Weise. Nun schien sich eine ähnliche Verschwörung in London zusammenzubrauen, die nicht durch außergewöhnliche Schlauheit der britischen Finanziers vereitelt wurde, sondern durch ihre geheime Macht über einige Finanzmanager der menus plaisirs <Lustbarkeiten> im Elysee. Die relative Stabilität der britischen Wertpapiere ist hauptsächlich durch einen anderen Umstand bedingt, der weniger schmeichelhaft für Louis-Napoleon, aber um so charakteristischer für die Verhältnisse in Europa ist. Kein Beichtvater kennt die verwundbaren Stellen im Herzen einer schönen Büßerin besser, als die Geldmänner der Chapel Street, Lombard Street und der Threadneedle Street die Stelle kennen, wo den europäischen Potentaten der Schuh drückt. Sie wissen daß Rußland eine Anleihe von ungefähr 10 Millionen Pfund Sterling braucht; daß Frankreich trotz des vorgesehenen Überschusses in seinem Staatshaushalt, der jedoch stets nur im Futurum steht, dringend Geld nötig hat; daß Österreich auf eine Zuwendung von mindestens 6 oder 8 Millionen Pfund Sterling wartet; daß das kleine Sardinien eine Anleihe <170> haben will, nicht nur, um einen neuen italienischen Kreuzzug zu unternehmen, sondern auch, um die alten Schulden aus dem Krimkrieg zu bezahlen; und daß die gekrönten Häupter und Militärs eine Summe von insgesamt 30 Millionen Pfund Sterling aus dem englischen Geldsack erhalten müssen, ehe die Armeen marschieren können, ehe Blut fließen und der Kanonendonner dröhnen kann. Um nun all diese Geldgeschäfte abwickeln zu können, braucht man mindestens zwei Monate, so daß - ganz abgesehen von militärischen Erwägungen - der Krieg, wenn es dazu kommen sollte, bis zum Frühjahr verschoben werden muß.

Es wäre jedoch ein großer Fehler, daraus voreilig den Schluß zu ziehen, daß die Kriegshyänen durch ihre Abhängigkeit vom guten Willen der friedliebenden Kapitalisten mit Sicherheit daran gehindert werden, sich in den Kampf zu stürzen. Jetzt, wo der Zinsfuß kaum 21/2% beträgt, wo über 40 Millionen in Gold in den Kellern der Banken von England und Frankreich festliegen und wo ein allgemeines Mißtrauen gegenüber kommerzieller Spekulation herrscht, würde selbst der Teufel, wenn er eine Anleihe für einen neuen Feldzug aufnehmen wollte, nach einigem schamhaften Zögern und ein paar scheinheiligen Konferenzen bestimmt seine Schuldverschreibungen über dem Nennwert loswerden.

Die Umstände, die den europäischen Krieg abwenden können, sind dieselben, die auf ihn hindrängen. Rußland ist nach seinen glänzenden diplomatischen Erfolgen in Asien eifrig bemüht, seine Vorherrschaft in Europa wiederherzustellen. Ebenso wie die Thronrede des kleinen Sardiniens tatsächlich in Paris redigiert wurde, so war die Neujahrsboutade <der Neujahrsstreich> Bonapartes (des Kleinen) nur das Echo auf eine Losung, die in St. Petersburg ausgegeben wurde. Mit Frankreich und Sardinien am Gängelband von St. Petersburg, Österreich bedroht, England isoliert und Preußen unschlüssig, würde der russische Einfluß im Kriegsfalle unbedingt tonangebend sein, wenigstens für einige Zeit. Rußland könnte sich heraushalten, Frankreich und Österreich im Kriege verbluten lassen und schließlich die Schwierigkeiten der letzteren Macht "beheben", die bis jetzt seinen Weg nach dem Süden versperrte und seiner panslawistischen Propaganda Widerstand entgegensetzte. Früher oder später könnte die russische Regierung dann eingreifen, ihre inneren Schwierigkeiten durch einen auswärtigen Krieg abwenden und der kaiserlichen Macht durch einen Erfolg im Ausland ermöglichen, den Widerstand des Adels im Inland zu brechen. Aber andererseits würde sich dadurch der finanzielle Druck, der durch den Krimkrieg hervorgerufen wurde, verdreifachen, und <171> der Adel, an den man sich in solch einem Notfalle wenden müßte, würde neue Waffen für Angriff und Verteidigung erhalten, während die Bauernschaft, die unerfüllten Versprechungen direkt vor Augen, durch erneutes Hinhalten, wiederholte Aushebungen und neue Steuern erbittert, dem offenen Aufruhr in die Arme getrieben würde. Österreich fürchtet zwar den Krieg, kann aber natürlich hineingedrängt werden. Bonaparte seinerseits ist höchstwahrscheinlich zu der richtigen Schlußfolgerung gelangt, daß sich jetzt eine Gelegenheit bietet, seinen Trumpf auszuspielen. Aut Caesar aut nihil! <Entweder Cäsar oder nichts!> Der fadenscheinige Ruhm des Zweiten Kaiserreiches schwindet rasch dahin, und es braucht Blut, um diesen Riesenbetrug wieder zu befestigen. Und in welch besserer Rolle als in der eines Befreiers Italiens und unter welch günstigeren Bedingungen als Englands notgedrungener Neutralität, Rußlands geheimer Unterstützung und Piemonts offener Dienstbarkeit könnte er jemals hoffen, Erfolg zu haben? Aber andererseits protestiert die Kirchenpartei in Frankreich energisch gegen den gottlosen Kreuzzug; die Bourgeoisie erinnert ihn an sein Wort: "L'Empire c'est la paix" <"Das Kaiserreich ist der Frieden">. Die bloße Tatsache, daß England und Preußen sich im Augenblick neutral verhalten müssen, würde sie im Verlauf des Krieges zum Schiedsrichter erheben, und eine einzige Niederlage auf den lombardischen Ebenen würde genügen, um das Totengeläut für das falsche Kaiserreich erklingen zu lassen.