Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 177-181.

1. Korrektur
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Die Position Louis-Napoleons

Geschrieben am 28. Januar 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5563 vom 18. Februar 1859]

<177> Paris, 26. Januar 1859

Sie werden sicherlich schon über den geheimen Zusammenhang zwischen Louis Bonapartes jüngster Italienpolitik und seiner eingewurzelten Angst vor italienischen Attentätern unterrichtet sein. Vor einigen Tagen hätten Sie im "France Centrale", einem Provinzblatt, das leider niemals über den Atlantik gelangt, die folgende Geschichte lesen können:

"Wir sprachen von dem Ball am vergangenen Montag in den Tuilerien. Durch Briefe aus Paris wird nun von einem Zwischenfall berichtet, der auf diesem Fest eine nicht geringe Verwirrung gestiftet hat. Das Gedränge war groß; wir vermuten, daß eine Dame in Ohnmacht fiel oder durch ein anderes ähnliches Ereignis ein Durcheinander entstand, so daß die drei oder viertausend anwesenden Gäste glaubten, es hätte sich ein Unfall ereignet. Es entstand ein Tumult, mehrere Personen eilten auf den Thron zu; um die Wogen der Erregung zu glätten, schritt der Kaiser durch die Salons."

Nun waren aber bei der erwähnten Gelegenheit zwei- bis dreihundert Personen im Salle du Trône <Thronsaal> anwesend, die allerdings eine Szene erlebten, welche sich beträchtlich von derjenigen unterschied, die der "France Centrale" beschreiben durfte. Tatsächlich waren die Gäste infolge irgendeines Zwischenfalls plötzlich in den verschiedenen Salons aufgeregt zusammengeströmt, und die Menge drängte auf den Salle du Trône zu, worauf Louis Bonaparte und Eugénie eiligst den Thron verließen und sich fluchtartig ihren Weg mitten durch den Salon bahnten; die Kaiserin raffte dabei so gut sie konnte ihre Röcke mit den Händen zusammen und sah so bleich aus, daß ihre besten Freunde sagten: "Sie war anzuschauen wie eine Tote."

<178> Diese grausamen Peinigungen, denen der Usurpator und seine Freunde seit Orsinis Attentat ausgesetzt sind, erinnern geradezu an die berühmte Stelle in Platos "Republik":

"Der Tyrann erreicht nicht einmal sein Ziel, ein Herrscher zu sein. Was immer er auch scheinen mag, der Tyrann ist ein Sklave. Sein Herz wird immer furchterfüllt sein, immer von Angst und Qualen gepeinigt. Mit jedem Tag wird er sich immer mehr als das zeigen, was er von Anfang an war: beneidet und verachtet, mißtrauisch, freundlos, ungerecht, ein Feind alles Göttlichen und ein Beschützer und Förderer alles Schändlichen. So ist er selbst der Unglücklichste der Menschen."

Bonapartes feindselige Haltung gegenüber Österreich verfolgt sicherlich auch die Absicht, der murrenden Armee an Stelle des Polizeidienstes eine Aussicht auf aktive Verwendung zu bieten, hauptsächlich ist sie aber darauf gerichtet, den italienischen Dolch unschädlich zu machen und den italienischen Patrioten ein Unterpfand für das Festhalten des Kaisers an seinem alten Karbonari-Eid zu geben. Die Heirat des Prinzen Napoleon - oder des Generals Plon-Plon, wie ihn die Pariser nennen - mit der Prinzessin Clotilde von Sardinien sollte vor den Augen der Welt Frankreich und Italien unwiderruflich verschmelzen und somit, wie die Herrschaften in den Tuilerien es darstellen wollen, die erste Rate der Schulden bezahlen, welche die Bonapartes bei den Italienern hätten. Aber Sie kennen ja den Helden von Satory. Hartnäckig in der Verfolgung eines einmal festgelegten Zieles, sind seine Wege doch gewunden, geht er nur unter beständigen Rückzügen vorwärts und unlösbare Verwicklungen scheinen ihn immer dann zu paralysieren, wenn er sich bis zum kritischen Punkt hinaufgearbeitet hat. Wie in Boulogne, in Straßburg und in der Nacht zum 2. Dezember 1851 stehen in solchen Augenblicken immer einige kühne, heißblütige, ungestüme Desperados hinter ihm, so daß er die Ausführung seiner langgehegten Pläne nicht mehr weiter aufschieben kann und gewaltsam in den Rubikon gestoßen wird. Hat er diesen dann sicher überquert, beginnt er erneut seinen gewundenen Weg auf seine ihm eigene ränkevolle, schlimme Pläne heckende, verschwörerische, unentschlossene und kraftlose Weise. Seine vollkommene Falschheit verleitet ihn, ein doppeltes Spiel mit seinen eigenen Plänen zu treiben. Die sardinische Hochzeit zum Beispiel forderte er schon vor acht Monaten unter dem Vorwand, daß Frankreich einen Kreuzzug zugunsten Italiens zu führen beabsichtige. Wäre es nach so vielen gescheiterten Versuchen, in die Königsfamilien einzudringen, nicht ein gelungener Streich, unter irreführenden Vorspiegelungen die Tochter der ältesten europäischen Dynastie in das bonapartistische Netz zu locken?

<179> Aber Louis Bonaparte hatte zwingende Gründe, Zuflucht zu einer reculade <zu einem Rückzug> zu nehmen und einen besänftigenden Ton anzuschlagen, nachdem er in das Kriegshorn gestoßen hatte. Während seiner ganzen Regierungszeit hatte die Bourgeoisie noch niemals so unmißverständlich ihre Unzufriedenheit kundgetan, und ihre Beunruhigung hatte sich bereits bei dem bloßen Gerücht von einem Krieg in heftigen Bewegungen an der Börse, auf den Warenmärkten und in den Industriezentren bemerkbar gemacht. Die Finanzmagnaten erhoben Einwendungen. Der Graf de Germiny, Direktor der Bank von Frankreich, informierte den Kaiser persönlich über die ausgedehnten kommerziellen Rückschläge, welche bei einer Beharrung auf der jetzt verfolgten gefährlichen politischen Linie mit Sicherheit eintreten würden. Die Präfekten von Marseille, Bordeaux und anderen großen Handelsstädten machten in ihren Berichten über die beispiellose Panik, von der die handeltreibenden Klassen ergriffen seien, ungewöhnliche Andeutungen über das gärende Mißbehagen unter diesem Teil der "Freunde des Eigentums und der Ordnung". Herr Thiers hielt die Zeit für gekommen, sein langes Schweigen zu brechen und in den mit Regierungsspionen durchsetzten Salons die "unsinnige Politik" der Tuilerien offen anzugreifen. In einer eingehenden politischen und strategischen Untersuchung der Erfolgsaussichten eines Krieges zeigte er, daß es Frankreich unmöglich wäre, der Niederlage zu entgehen, wenn es nicht den Kampf mit 400.000 Soldaten beginnen könne - außer den Truppen, die es in Algerien lassen und denen, die es im Mutterland zurückbehalten muß. Selbst der regierungstreue "Constitutionnel" konnte, wenn auch in geheuchelten Tönen der Entrüstung, nicht umhin einzugestehen. daß der Geist Frankreichs verschwunden sei und daß es bei dem bloßen Gedanken an einen ernsthaften Krieg entsetzt wie ein Feigling dastünde.

Andererseits berichteten die Spione niederen Ranges einmütig, wie allgemein in der Bevölkerung bereits über die bloße Vorstellung gespottet wird, der Despot von Frankreich könnte den Befreier Italiens spielen, und wie anläßlich der sardinischen Hochzeit respektlose Couplets gesungen würden. Eines dieser Couplets beginnt mit den Worten: "Diesmal ist es also Plon-Plon, der Marie Luisens Mann werden soll."

Trotz der besänftigenden Instruktionen, die an alle Präfekten verschickt wurden, und der streng offiziellen Erklärungen, nach denen keinerlei Gefahr den Status quo bedrohe, ist die allgemeine Panik noch längst nicht abgeklungen, Vor allem weiß man hier, daß der Halbgott der Tuilerien weiter vorangetrieben wurde, als er zu gehen beabsichtigte. Es geht das Gerücht, Prinzessin <180> Clotilde, die trotz ihrer Jugend einen sehr scharfen Verstand besitzt, hätte Plon-Plons Antrag mit den Worten entgegengenommen: "Ich heirate Sie, um Papa die Unterstützung Frankreichs zu sichern. Wäre ich nicht völlig gewiß, daß dies sichergestellt wird, würde ich Sie nicht heiraten." Sie weigerte sich, der Verlobung zuzustimmen, bevor ihrem Vater "eindeutige Garantien" über die aktive Unterstützung durch Frankreich gegeben würden. So mußte Louis Bonaparte ein Verteidigungs- und Angriffsbündnis mit Viktor Emanuel abschließen, und die Agenten Plon-Plons waren sorgfältig darauf bedacht, diese Tatsache durch die Spalten der "Indépendance Belge" sofort ganz Europa mitzuteilen. In der Tat maßen sich dieser Plon-Plon und sein Gefolge an, in diesem Augenblick dieselbe Rolle zu spielen, die Persigny während der Expedition von Boulogne, Morny, Fleury und Saint-Arnaud in der Nacht zum 2. Dezember auszuführen hatten - nämlich Louis Bonaparte in den Rubikon zu stoßen. Wie bekannt ist, zeichnet sich Plon-Plon nicht gerade durch militärischen Schneid aus. Im Krimkrieg gab er eine sehr traurige Figur ab, und da ihm sogar der Mut fehlt, den ein gewöhnlicher Reiter braucht, weiß er nicht einmal auf dem Pferderücken das richtige Gleichgewicht zu halten. Dennoch ist er augenblicklich der leibhaftige Mars der Dynastie Bonaparte. Vizekönig der Lombardei zu werden betrachtet er als den nächsten Schritt auf dem Wege zum Thron Frankreichs. Seine Freunde sind so unvorsichtig geworden, daß ihr Anführer Herr Émile de Girardin, vor etwa zwanzig Leuten, die über die Absichten des Kaisers sprachen, auszurufen wagte: "Welchen Kaiser meinen Sie? Der einzig wirkliche Kaiser ist der im Palais Royal". Während die Regierungsblätter zum Schein den Frieden predigen, berichtet Plon-Plons Moniteur, die "Presse", Tag für Tag in der unverfrorensten Weise über die Vorbereitungen zum Krieg. Während Louis Bonaparte anscheinend Viktor Emanuel ermahnt, die Anhänger Mazzinis zu zügeln, treibt Plon-Plon den König, "sie anzustacheln". Während Bonaparte das Gefolge, das seinen Cousin nach Turin begleiten soll, aus den konservativsten Leuten, wie General Niel zusammengestellt hatte, erklärte Plon-Plon, er wolle nur unter der Bedingung aufbrechen, daß Herr Bixio, der Exminister der Französischen Republik von 1848, mit ihm gehe, um seiner entourage <Umgebung> einen revolutionären Geruch zu verleihen. Dazu sagen nun die Leute: "Wenn Louis-Napoleon nicht bereit ist, aufs Ganze zu gehen, dann kann nichts gefährlicher sein als die anmaßende Haltung, die Plon-Plon einnimmt, und die Artikel, die seine Freunde veröffentlichen." Deshalb halten die Befürchtungen noch an. Andererseits ist man sich allgemein <181> darüber im klaren, daß Louis-Napoleon Selbstmord begehen würde, wenn er, eingeschüchtert durch das Geschrei der französischen Bourgeoisie und das Stirnrunzeln der europäischen Dynastien, jetzt den Rückzug anträte, nachdem Viktor Emanuel kompromittiert ist und die Erwartungen der französischen Armee aufs höchste gesteigert wurden. Um der letzteren ein quid pro quo zu geben, beabsichtigt er Gerüchten zufolge, sie auf eine überseeische Expedition gegen Marokko, Madagaskar oder irgendeinen anderen abgelegenen Platz, der dem Wiener Vertrag nicht bekannt ist, zu schicken. Dennoch, irgendein unvorhergesehener Zwischenfall kann entgegen dem Willen des kaiserlichen Taschenspielers einen Krieg gegen Österreich hervorrufen.