Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 271-273.

Karl Marx

Ein Seufzer aus den Tuilerien

Geschrieben um den 8. März 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5594 vom 26. März 1859, Leitartikel]

<271> Kaiser Napoleon muß in der Tat in einer sehr traurigen Verfassung gewesen sein, denn er hat nicht nur einen höchst weinerlichen Brief geschrieben, sondern er hat ihn an Sir F. Head geschrieben, der nicht zu den lebensfrohesten unter den unbedeutenden Staatsmännern gehört und der ihn in der Londoner "Times" abdrucken ließ, die nicht die lustigste unter den britischen Zeitungen ist. Dadurch wird die ganze Angelegenheit ungefähr zu dem Feierlichsten, das je aus dem heiteren Lande Gallien hervorgegangen und das im nebligen England einem Leichenbegängnis gleicht. "Mein lieber Sir Francis" ist die herzliche Anrede des Kaisers an den Baronet der Bubbles und "Mein lieber Sir Francis" steht in der Unterschrift. Sir Francis hat, wie es scheint, vorher gewisse Briefe an die Londoner "Times" zur Verteidigung des Kaisers geschrieben - ohne Zweifel ausgezeichnete Briefe, wie es aus eigenem Antrieb der Presse übergebene Mitteilungen oft sind, aber die gelesen oder auch nur flüchtig bemerkt zu haben wir uns nicht erinnern können und über die, dessen sind wir sicher, wenig oder gar nicht im britischen Parlament gesprochen wurde. Sire Napoleon hat diese Erzeugnisse vom Verfasser erhalten, und da große Leute oft dankbar sind für kleine Geschenke wie Abziehriemen oder anderen Käse, so ist Sire Napoleon schrecklich dankbar für Sir Francis Heads Artikel. Der Kaiser freut sich sehr, daß er in England nicht vergessen ist, und erinnert sich gerührt der Tage, als die Handelsleute jenes Landes ihm vertrauten, wie keinem vagabundierenden Prinzen je zuvor vertraut.

"Heute", sagt er, "erblicke ich klar die Sorgen, welche die Macht mit sich bringt, und eine der größten mich umringenden Sorgen besteht darin, sich mißverstanden und falsch beurteilt zu sehen von jenen, die man am höchsten schätzt und mit denen man in gutem Einvernehmen zu leben wünscht."

<272> Sodann erklärt er offen, Freiheit sei Humbug.

"Ich bedauere tief", sagt er, "daß Freiheit, gleich allen guten Dingen, ihr Übermaß hat. Weshalb bemüht sie sich, statt die Wahrheit kund zu tun, mit allen Kräften, sie zu verdunkeln? Weshalb sät sie, statt hochherzige Gefühle anzufeuern und zu beleben, Argwohn und Haß?"

Und der Kaiser, der seine geheiligte Person in dieser Weise von der Freiheit angegriffen sieht, dankt dem lieben Sir Francis, daß er nicht gezögert hat, solchen falschen Anschuldigungen auf loyale und unparteiische Art energisch entgegenzutreten.

Nun, ohne überhaupt auf die politischen Details seines gegenwärtigen Kummers einzugehen, verstehen wir nicht, wieso Sire Napoleon III erwarten durfte, stets gutgelaunt und frohgestimmt sein zu können. Waren die Erfahrungen der Familie, deren angebliches Mitglied er ist, von so heiterer und sonniger Natur, daß er, als er den Thron von Frankreich zu erlangen suchte und sein Leben, seine Freiheit und all das Geld, das er zu borgen vermochte, bei kleinen Invasionen aufs Spiel setzte, annehmen konnte, ihn erwarte ein Rosengebinde sybaritischer Vergnügungen, menschlicher Gutwilligkeit und persönlichen Wohlergehens, der Segen John Bulls und die erzwungene Ehrerbietung Europas? Hatte er niemals die Bemerkung des göttlichen William gehört:

Schwer ruht das Haupt, das eine Krone drückt?

Nahm er an, daß von allen Menschen gerade er durch Schicksal und Pflicht berufen war, für das Wohl des Volkes in den Tuilerien Kopfschmerzen zu ertragen? Weshalb mußte er sich dann an die breite Brust des ehrenwerten Sir F. Head werfen und weinen, weil die heißbegehrte Krone auf seine Stirne drückt? Und wenn er es für notwendig hält, an die "Times" zu schreiben, warum tut er es nicht selbst, sondern durch Vermittlung eines heruntergekommenen Baronets? Er hat die arme Etikette mehr als einmal aus der Tür gejagt. Hätte er das nicht noch einmal tun können?

Die schmerzliche Pose, wenn wir einen so unwürdigen Ausdruck bei Würdenträgern gebrauchen dürfen, war bei seinem Onkel beliebt und scheint vom Neffen leidlich kopiert zu werden. Der Gründer der Familie <Napoleon I.> war gewohnt, sich in großer Länge mit vielen Tränen und mit fast krankhafter Sentimentalität zu verbreiten über seine Leiden, Plagen, Prüfungen, Gefährdungen und besonders über die schlechte Behandlung, die ihm das perfide Albion zuteil werden ließ. Aber es glückte ihm wohl niemals, einen an einen <273> Engländer gerichteten Brief in die Londoner "Times zu bringen. Es gelang ihm, in England aufrichtig verlacht und in Frankreich ebenso aufrichtig betrauert zu werden, und manchmal erreichte er, daß seinen kichernden Nachbarn das Lachen im Halse steckenblieb. Aber wenn er nie etwas Besseres getan hätte, als Briefe an die Sir Francis Heads seiner Zeit zu schreiben, würde er wahrscheinlich von seinen qualvollen Pflichten in den Tuilerien zu einem viel früheren Zeitpunkt erlöst worden sein als zu jenem, der ihn an die friedlichen Gestade von St. Helena führte.