Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 287-291.

Friedrich Engels

Der beabsichtigte Friedenskongreß

Geschrieben Anfang April 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5618 vom 23. April 1859, Leitartikel]

<287> Die Bereitwilligkeit, mit der Louis-Napoleon dem Vorschlag zustimmte, einen Kongreß zur Beratung der italienischen Frage einzuberufen, war eher unheilverkündend als dem Frieden Europas dienlich. Wenn ein Monarch, dessen gesamte Handlungen während der letzten sechs Monate eindeutig auf Krieg gerichtet waren, plötzlich eine scharfe Wendung vollführt und einem Vorschlag, der scheinbar die Erhaltung des Friedens zum Ziele hat, sofort seine Zustimmung gibt, dann ist unsere erste Schlußfolgerung, daß sich hinter den Kulissen Dinge abspielen die - wären sie bekannt - seiner Handlungsweise den Anschein der Inkonsequenz nehmen würden. Das trifft auch auf den europäischen Kongreß zu. Was auf den ersten Blick nach einem Versuch aussah, den Frieden zu erhalten, erweist sich jetzt als ein neuer Vorwand, um Zeit zur Vollendung der Kriegsvorbereitungen zu gewinnen. Der Kongreß wurde eben erst vorgeschlagen und während noch nichts über den Ort und die Verhandlungsbasis entschieden ist, während die Zusammenkunft, falls sie überhaupt stattfindet, mindestens bis Ende April verschoben ist, hat die französische Armee den Befehl erhalten, jedes Regiment um ein viertes Bataillon zu verstärken und sechs französische Divisionen auf Kriegsfuß zu bringen. Das sind Tatsachen, die eine nähere Betrachtung verdienen.

Die französische Infanterie besteht außer den Jägern, den Zuaven, der Fremdenlegion, den eingeborenen algerischen Truppen und anderen Spezialkorps aus acht Garderegimentern und hundert Linienregimentern. Diese hundert Linienregimenter haben einen Friedensstand von je drei Bataillonen, zwei für den aktiven Dienst und ein Depotbataillon. Die Stärke eines Regiments schwankt demnach zwischen 1.500 und 1.800 Kombattanten. Außerdem hat es genau so viele, wenn nicht noch mehr Beurlaubte, die sofort zu <288> ihrem Truppenteil gerufen werden, wenn das Regiment auf Kriegsfuß gebracht wird. In diesem Fall werden die drei Bataillone zusammen 3.600 bis 4.000 Mann stark. Wenn man davon 500-600 Mann für das Depotbataillon abrechnet, würden die beiden aktiven Bataillone eine Stärke von je 1.500 bis 1.700 Mann aufweisen, also äußerst schwerfällig werden. Um alle diese ausgebildeten Soldaten wirklich einsatzfähig zu machen, ist also erforderlich, sofort in jedem Regiment ein neues aktives Bataillon aufzustellen, wodurch die Stärke des Bataillons, der taktischen Einheit, auf ungefähr 1.000 Mann reduziert wird, was einer Durchschnittszahl entspricht, die sich jetzt in den meisten europäischen Armeen durchgesetzt hat. Die Formierung der vierten Bataillone ist deshalb eine notwendige Voraussetzung, um die französische Armee auf Kriegsfuß zu bringen, und die einzige Möglichkeit, sie mit den Organisationsformen zu versehen, die erforderlich sind, um die verfügbare Anzahl ausgebildeter Soldaten aufnehmen zu können. Dieser Umstand verleiht der Formierung dieser vierten Bataillone eine besondere Bedeutung; er besagt, daß die Kriegsbereitschaft hergestellt ist. Die Art und Weise, wie sie gebildet werden, ist sehr einfach. Die 5. und 6. Kompanie der drei bestehenden Bataillone (von denen jedes sechs Kompanien hat) werden zu einem vierten Bataillon zusammengefaßt, während von den verbliebenen vier Kompanien die notwendigen Offiziere und Soldaten abgezogen werden. um für jedes Bataillon zwei neue Kompanien zu bilden. Das neue Bataillon geht ins Depot, während das dritte zu einem aktiven Bataillon umgebildet wird. Zusammen mit der Garde, den Jägern und anderen Spezialkorps wird dann die Zahl der Bataillone in der französischen Armee ungefähr 480 betragen, eine Anzahl, die ausreicht, um ca. 500.000 Mann aufzunehmen; und wenn das nicht genügen sollte, könnten die vierten Bataillone in aktive Bataillone umgewandelt und in den Depots durch neuformierte fünfte Bataillone ersetzt werden. Dieses Verfahren wurde in der Tat gegen Ende des russischen Krieges angewandt, als die Armee 545 Bataillone zählte.

Daß dieser Schritt der französischen Regierung tatsächlich nichts anderes bedeutet als die Herstellung der sofortigen Kriegsbereitschaft, beweist eine andere Maßnahme, die ihm unmittelbar folgte. Sechs Divisionen erhielten den Befehl, sich auf Kriegsfuß zu bringen, d.h. diejenigen, die beurlaubt waren, einzuberufen. Eine französische Infanteriedivision besteht aus vier Regimentern oder zwei Linienbrigaden und einem Bataillon Jäger zu Fuß, also aus insgesamt dreizehn Bataillonen mit ungefähr 14.000 Mann. Obwohl die sechs Divisionen nicht näher bezeichnet sind, ist es unschwer zu erraten, an welche sich der Befehl richtet. Da sind zunächst die vier Divisionen, die jetzt bereits an der Rhône sind, und unter denen sich auch die Division General <289> Renaults befindet, die gerade ans Algerien zurückgekehrt ist, dann die Division Bourbakis, die jetzt Befehl hat, sich in Algerien einzuschiffen; und schließlich eine Division der Pariser Armee, die Berichten zufolge den Befehl erhielt, sich für einen sofortigen Abmarsch bereit zu halten. Diese sechs Divisionen umfassen ungefähr 85.000 Mann Infanterie, die zusammen mit der erforderlichen Artillerie. der Kavallerie und dem Train eine Armee von etwas mehr als 100.000 Mann bilden würden, die als Kern der Italienarmee im bevorstehenden Feldzug angesehen werden kann.

Angesichts des allgemeinen Rufs nach Frieden in Frankreich, der heftigen nationalen und antifranzösischen Agitation in Deutschland und der Haltung Englands scheint Louis-Napoleon gezögert zu haben, solch einen Schritt wie die Mobilisierung seiner Armee zu unternehmen, ohne gleichzeitig den Eindruck zu erwecken, daß er nicht unwiderruflich zum Krieg entschlossen sei, sondern sich mit einer beliebigen Verbesserung der Situation in Italien zufrieden geben würde, die mit Hilfe eines Kongresses erreicht werden könnte. Ein Blick auf die Geschichte der militärischen Vorbereitungen bestätigt diese Ansicht und ergibt neue Beweise dafür, daß dieses Täuschungsmanöver in seine Pläne einbezogen war.

Nachdem der Empfang in den Tuilerien am Neujahrstag gezeigt hatte, daß es seine Absicht war, Schwierigkeiten mit Österreich heraufzubeschwören, begann sogleich eine Art Wettrüsten zwischen Frankreich und Sardinien auf der einen und Österreich auf der anderen Seite. Es zeigte sich jedoch sofort, daß Österreich den Vorteil auf seiner Seite hatte. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit wurde innerhalb weniger Tage ein ganzes Armeekorps nach Italien geworfen. Als die Berichte von französischen und sardinischen Truppenkonzentrationen einen noch drohenderen Charakter annahmen, wurden die Beurlaubten, die zur österreichischen Armee in Italien gehörten, innerhalb drei Wochen zurückgerufen und wieder in ihre Regimenter eingereiht; gleichzeitig wurden die Beurlaubten und Rekruten aus den italienischen Provinzen ebenfalls einberufen und zu den Garnisonen ihrer entsprechenden Korps ins Landesinnere geschickt. Das alles wurde mit einer Ruhe und in einer Schnelligkeit durchgeführt, die der beste Beweis sind für die Vollkommenheit des österreichischen Militärsystems und die ausgezeichnete Leistungsfähigkeit der österreichischen Armee. Die Österreicher, früher bekannt für Langsamkeit, Pedanterie und Unbeweglichkeit, hatten allerdings durch die Art und Weise, wie Radetzky seine Truppen einsetzte, sehr eindrucksvoll bewiesen, daß sie auch anders konnten, aber ein so reibungsloses Funktionieren des Mechanismus und eine Herstellung der Einsatzbereitschaft in derartig kurzer Frist konnten kaum erwartet werden. Hier waren keine neuen Truppen- <290> formationen nötig; die aktiven Bataillone in Italien mußten nur auf ihre volle Stärke gebracht werden, während die Umwandlung der Depotbataillone in aktive Bataillone und die Organisation von neuen Depots weit im Innern der Monarchie vor sich gehen, ohne in irgendeiner Weise die Vervollständigung der aktiven Armee zu verzögern.

Ebenso trifft zu, daß Sardinien keine neuen Formationen benötigte; die Organisation seiner Armee war ausreichend. Bei den Franzosen allerdings lagen die Dinge anders. Die Mobilisierung erforderte ziemlich viel Zeit. Die Formierung der vierten Bataillone mußte der Einberufung der Beurlaubten vorangehen. Sodann mußte Louis-Napoleon im Falle eines Angriffs auf Österreich die Möglichkeit eines Krieges mit dem Deutschen Bund im Auge behalten. Während daher Österreich, das nur an seiner italienischen oder südlichen Grenze für einen Angriff offen und durch Deutschland gegen Westen gedeckt ist, einen sehr großen Teil seiner Truppen nach Italien werfen und, wenn erforderlich, sofort in der Krieg eintreten kann, muß die französische Regierung erst alle ihr zur Verfügung stehenden Streitkräfte sammeln, bevor sie offensive Operationen wagen kann. Deshalb war es erforderlich, erst einmal die neue Rekrutenaushebung von 1859 und die 50.000 Freiwilligen, mit denen Frankreich im Kriegsfall in allgemeinen rechnet, zusammenzubringen. All dies erfordert eine beträchtliche Zeit, und ein überstürzter Beginn des Feldzuges lag daher überhaupt nicht im Interesse Louis-Napoleons. Wenn wir uns an den berühmten Artikel des "Constitutionnel" über die französische Armee halten, der - wie Sie sich erinnern werden - direkt von Louis-Napoleon selbst stammt, können wir feststellen, daß er dort Ende Mai als den Zeitpunkt genannt hat, an dem sich die französischen Truppen auf ungefähr 700.000 Mann belaufen werden. Bis dahin würde Österreich also einen relativen Vorteil gegenüber Frankreich haben; und da die Ereignisse auf dem besten Wege waren, einen offenen Bruch herbeizuführen, wurde dieser Kongreß zu einem vorzüglichen Mittel, Zeit zu gewinnen.

Aber da ist noch ein anderer Punkt, den man nicht außer acht lassen darf. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß Rußland seine Hand im Spiele hat. Es ist offensichtlich, daß es Österreich zu demütigen beabsichtigt und daß ihm eine Verwicklung in Westeuropa Handlungsfreiheit an der Donau gewährt, um das wiederzuerlangen, was es durch den Pariser Frieden verlor. Daß Rußland eigene Ansichten über die rumänischen Fürstentümer, über Serbien und die slawisch Bevölkerung der Türkei hat, beweist seine Politik, die es in letzter Zeit in diesen Ländern betrieb. Es gibt für Ruß- <291> land kein besseres Mittel, sich an Österreich zu rächen, als die panslawistische Agitation unter den Millionen österreichischer Slawen zu erneuern, während Österreich Krieg führt. Um das alles und, wenn sich die Gelegenheit bietet, noch mehr tun zu können, muß auch Rußland seine Truppen konzentrieren und Vorbereitungen treffen. Dafür braucht es Zeit. Außerdem ist ein Vorwand nötig, um eine passive feindliche Haltung gegenüber Österreich einnehmen zu können, und nirgends findet sich eine so gute Gelegenheit, einen kleinen Streit vom Zaune zu brechen, als auf solch einem Kongreß. Dieser Kongreß wird sich daher - sollte er jemals stattfinden - nur als "ein Betrug, ein Hohn und eine Falle" erweisen, anstatt als ein ernsthafter oder zumindest ehrlicher Versuch, den Frieden zu erhalten Es kann kaum bezweifelt werden, daß alle Großmächte sich inzwischen völlig davon überzeugt haben, daß die ganze Angelegenheit eine bloße Formalität sein wird, die man durchführt, um die Öffentlichkeit zu täuschen und andere Pläne, die noch nicht ans Licht dringen sollen, zu verschleiern.