Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 385-390.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Die Schlacht von Magenta


["Das Volk" Nr. 7 vom 18. Juni 1859]

Die offiziellen Berichte, französische und österreichische, über die Schlacht von Magenta bewahrheiten die Vermutungen, die wir auf Grund der telegraphischen Depeschen gewagt hatten.

Am Morgen des 4. Juni hatten die Österreicher ihren Rückzug über den Ticino bewerkstelligt und marschierten nach Magenta und Abbiategrasso, um der französischen Armee, die auf Mailand losging, in die Flanke zu fallen. General Clam-Gallas, der grade mit einer Division seines Korps (des ersten) von Mailand eingetroffen war sollte, gleichzeitig mit seiner Division und dem zweiten Korps (Liechtenstein), das sich ihm bei Magenta anschloß, den Feind in der Fronte angreifen. Als Reserve hatte er die Division Reischach des siebenten Korps (Zobel) bei Corbetta, einige Meilen hinter Magenta. Nachdem die Linie des Ticino als unhaltbar aufgegeben war, sollten diese sieben oder acht österreichischen Brigaden die Linie des Naviglio-Grande halten, eines breiten Kanals, der beinahe parallel mit dem Ticino läuft und nur auf Brücken überschreitbar ist. Zu verteidigen waren die zwei Brücken von Boffalora und Magenta auf zwei Straßen, die beide von Magenta zur Brücke von San Martino über den Ticino führen. Die Division des ersten Korps (kommandiert vom General Cordon) avancierte auf der Straße von Turbigo; zwei Brigaden des zweiten Korps waren auf den Brücken, eine Division vor Magenta, Reischachs Division (siebentes Korps), wie gesagt, zu Corbetta.

Die Franzosen avancierten in zwei Kolonnen. Die erste unter dem Nominalkommando des Helden von Satory bestand aus der Division der Gardegrenadiere und den Korps von Canrobert, Niel und Baraguay d'Hilliers, in allem 9 Divisionen oder 18 Brigaden (117 Bataillons). Sie avancierte auf der direkten Straße von Novara nach Mailand über die Brücke von San Martino und sollte die Brücken von Boffalora und Magenta nehmen. Die zweite Kolonne, unter Mac-Mahon, bestand aus der Division der Garden- <385> Voltigeurs, aus Mac-Mahons Korps und der ganzen piemontesischen Armee, in allem 8 Divisionen oder 16 Brigaden (109 Bataillone, die piemontesischen Divisionen zählen ein Bataillon mehr als die französischen). Ihre Spitze hatte den Ticino und Naviglio ohne ernsthaften Widerstand bei Turbigo überschritten und sollte den Frontangriff der ersten Kolonne durch eine Bewegung auf die österreichische Flanke unterstützen, nämlich durch einen direkten Marsch auf Magenta von Norden.

Um Mittag eröffnete Mac-Mahon den Angriff. Mit überlegenen Kräften trieb er die Division Cordon vor sich nach Magenta hin, und um 2 Uhr ungefähr griffen die Gardegrenadiere, die die östreichischen Vorposten bis zum Kanal gejagt hatten, die Brücken von Boffalora und Magenta an. In diesem Moment befanden sich auf dem Schlachtfelde 8 französische Brigaden gegenüber 5 österreichischen Brigaden (2 von dem ersten und 3 von dem zweiten Korps) oder weniger als 30.000 Mann, denn selbst Reischachs zwei Brigaden weilten noch zu Corbetta. Der französische "Geheimgeneral", nach Falstaffs Anleitung, verwandelt weniger als 30.000 Österreicher in mehr als 125.000. Es gelang den Franzosen, die Brücken über den Kanal zu stürmen. Gyulay, der sich bei Magenta befand, befahl Reischach vorzumarschieren und die Brücke von Magenta wiederzunehmen. Dies geschah. Boffalora aber scheint in der Hand der Franzosen geblieben zu sein. Die Schlacht stockte. Mac-Mahons Korps sowohl wie die Grenadiere der Garde waren erfolgreich zurückgeschlagen, aber die Österreicher hatten auch jeden verfügbaren Mann engagiert. Wo steckten die andern Korps?

Sie waren überall, nur nicht, wo sie sein sollten. Die zweite Division des ersten Korps befand sich noch auf dem Marsch von Deutschland. Ihre Ankunft konnte daher verständlicherweise nicht erwartet werden. Über eine andre Brigade des zweiten Korps fehlte alle Auskunft. Gyulays eigne Depeschen jedoch beweisen, daß nur 3 Brigaden des zweiten Korps engagiert waren. Die zweite Division des siebten Korps, kommandiert von General Lilia, war zu Castelletto, 6 oder 7 Meilen von Magenta. Das dritte Korps befand sich zu Abbiategrasso, 5 Meilen von Magenta. Das fünfte Korps marschierte nach Abbiategrasso, wahrscheinlich von Bereguardo. Im Beginn der Schlacht befand es sich wenigstens 9 Meilen von Magenta, das achte Korps war auf dem Marsch von Binasco nach Bestazzo, 10 oder 12 Meilen weit ab, und das neunte Korps, incredibile dictu <unglaublich zu sagen>, trieb sich am Po herum, hinter Pavia, 20 oder 25 Meilen vom Kriegsschauplatz. Durch diese fabelhafte Zersplitterung seiner Truppen versetzte sich Gyulay in die unangenehme Lage, <386> von Mittag bis ungefähr 5 Uhr abends den Anprall beider französischer Kolonnen mit nur sieben Brigaden aushalten zu müssen. Letzteres war bloß möglich, weil die ungeheuren französischen Massen auf nur zwei Straßen marschierten und daher nur träge heranwälzten.

Während Reischach die Brücke von Magenta hielt und eine der neuen französischen gezogenen Kanonen erbeutete, ritt Herr Gyulay nach Robecco, einem Dorf am Kanal, ungefähr 3 Meilen unter Boffalora, um den Marsch des dritten und fünften Korps zu beschleunigen und ihnen ihre Angreifsrichtung anzuweisen. Vier Brigaden des dritten Korps wurden nun vorangeworfen, Hartung und Ramming in erster Linie, Dürfeld als Reserve, alle drei entlang den Kanal, Wetzlar aber entlang den Ticino. Sie sollten den Franzosen in die rechte Flanke fallen. In der Zwischenzeit jedoch hatten die letzteren ebenfalls Verstärkung erhalten. Picards Brigade (Division Renault, Korps Canrobert) kam zur Unterstützung der Grenadiere und trieb Reischach über die Brücke zurück. Ihm folgte Vinoys Division (Niels Korps), Jannins Brigade (Division Renault) und Trochus Division (Korps Canrobert). So konzentrierten die Franzosen auf diesem Punkt sechs Brigaden, dazu zwei ihrer Grenadierbrigaden. Auf der andern Seite waren von den vier Brigaden des dritten östreichischen Korps nur zwei oder drei wirklich engagiert. Trotz dieses Mißverhältnisses setzten sich die Österreicher wieder und wieder in den Besitz der Brücke von Magenta, die der feindlichen Übermacht nur nach den verzweifeltsten Anstrengungen blieb.

Während man so um die Brücken rang, hatte Mac-Mahon einen zweiten Angriff vorbereitet auf die Österreicher in seiner Fronte, ungefähr 4 oder 5 Brigaden vom ersten und zweiten Korps. Seine 2 Divisionen drangen von neuem vor in zwei Kolonnen auf Magenta, hinter ihnen in zweiter Linie Camous Garde-Voltigeur-Division. Da die Divisionen Espinasse und La Motterouge (Mac-Mahons Korps) von den Österreichern mit Erfolg zurückgedrängt waren, avancierten die Voltigeurs zu ihrer Unterstützung. Der Kampf trat nun in den Wendepunkt der Krise. Die erste französische Kolonne hatte die Brücke von Magenta passiert und wälzte sich auf die Ortschaft, [die] bereits hart bedrängt von Mac-Mahons Kolonne. Endlich, bei Sonnenuntergang, erschien das fünfte österreichische Korps auf dem Schlachtfeld, die Brigade Prinz von Hessen <Die Brigade wurde zu dieser Zeit von General Dormus kommandiert>. Sie machte einen neuen Versuch, die Franzosen über die Brücke zurückzutreiben. Jedoch vergeblich. Es war in der Tat übertriebene Erwartung, daß eine schwache Brigade, bereits dezimiert in der Schlacht von Montebello, stemmen und zurückschleudern sollte den Lava- <387> strom von französischen Truppen, der die Brücke von Magenta überschwemmte. In der Front, der Flanke und dem Rücken angegriffen, und ohne Rast seit Beginn der Aktion im Feuer, wichen die Österreicher schließlich zurück, und nach wiederholt heftigem Ringen ward Magenta gegen Abend von den Franzosen besetzt.

Gyulay zog seine Truppen zurück über Corbetta, in der Zwischenzeit von der Division Lilia besetzt, und über Robecco, vom dritten Korps gehalten, während das fünfte Korps zwischen den zwei Plätzen biwakierte. Er beabsichtigt, den Kampf am 5. Juni fortzusetzen, aber eine ganz wunderliche Verwirrung in den ausgeteilten Befehlen vereitelt den Plan: denn mitten in der Nacht erfährt er plötzlich, daß das erste und zweite Korps, infolge mißverstandener Orders, sich mehrere Meilen vom Schlachtfeld zurückgezogen und ihren Rückzug noch um 3 Uhr morgens fortsetzen. Diese Nachricht bestimmte Gyulay, die für den kommenden Tag beabsichtigte Schlacht aufzugeben. Eine Brigade des dritten Korps stürmte von neuem auf Magenta zur Deckung des Rückzugs der Österreicher, der in der größten Ordnung stattfand.

Nach dem österreichischen Bericht waren auf ihrer Seite engagiert:

Brigaden

vom 1. Korps Gordons Division

2

vom 2. Korps

3

vom 7. Korps Reischachs Division

2

vom 3. Korps

3

vom 5. Korps spät am Abend

  1

zusammen

11

Nach dem französischen Bericht waren von den Alliierten engagiert:

Brigaden

vom Gardekorps 2 Divisionen

4

von Mac-Mahons Korps

4

von Canroberts Korps 2 Divisionen (Renault und Trochu)

4

von Niels Korps 1 Division (Vinoy)

  2

zusammen

14

Die 14 französischen Brigaden - 91 Bataillons - waren wenigstens 80.000 Mann stark. Aber der französische Schlachtbericht sagt mit Bezug auf das Vorrücken der Division Vinoy:

<388> "Das 85. Linienregiment litt am meisten ... General Martimprey erhielt eine Wunde an der Spitze seiner Brigade."

Nun gehören weder das 85. Regiment noch Martimpreys Brigade zu Vinoys Division von Niels Korps. Das 85. Regiment gehört zur zweiten Brigade unter General Ladreitt de la Charrières Kommando, Division Ladmirault, und General Martimprey kommandiert die erste Brigade derselben Division, gehörig zum Korps des Marschalls Baraguay d'Hilliers. So finden wir einen unwiderleglichen Beweis, daß mehr französische Truppen engagiert waren, als im offiziellem Bericht aufgezählt sind. Wenn Ladmiraults Division, die die Zahl der Brigaden zu 16, die der Bataillons zu 104 und die der Kämpfer zu 90.000 aufschwellt, so weggemogelt wird, drängt sich der Verdacht auf, daß die auf dem Schlachtfeld tätigen Franzosen überhaupt viel zahlreicher waren als die auf dem Schlachtboulletin figurierenden. Zudem ersieht man aus dem Bericht der Österreicher, daß ihre Gefangenen fast allen Regimentern angehören, woraus die alliierte Operationsarmee in Italien besteht. Die Franzosen befanden sich also in einer numerischen Überlegenheit, die den österreichischen Truppen die höchste Ehre macht. Nur Schlachtfeldweite wurde ihnen abgerungen; sie nahmen eine Kanone und verloren vier; sie verließen den Kampfplatz mit der Zuversicht, daß ihnen bei gleichen Streitkräften der Sieg sicher sei. Was aber sollen wir von ihrem General sagen, dem k.k. Feldzeugmeister? Am 4. Juni erwartet er den Angriff. Er hat 13 Brigaden (die 7 erst engagierten, 2 von Lilia, 4 vom dritten Korps) 8 Meilen vom Schlachtfeld; 4 andre Brigaden vom fünften Korps 9 Meilen ab; endlich 4 Brigaden des achten Korps in einer Entfernung von 10 oder 12 Meilen. So standen seine Truppen morgens um 8 Uhr 30 Minuten. Ist es zuviel verlangt an einem Schlachttag, daß alle diese Korps um 4 oder spätestens 5 Uhr abends Magenta genug genaht ein sollten, um sich an der Schlacht zu beteiligen? Mußten um 2 Uhr nachmittags, als die Schlacht im Ernst begann, statt 7 Brigaden nicht wenigstens 13 engagiert sein? In diesem Fall würden die großen Verluste der Division Cordon und des zweiten Korps vermieden. Mit Ankunft des fünften Korps hätten die Österreicher die Offensive ergreifen und die Franzosen über den Ticino zurückwerfen können. Aber die altberüchtigte Bewegungsunfähigkeit scheint bei den Österreichern wieder obzusiegen. Sie verlieren die kostbarsten Augenblicke in nutzloser Pomphaftigkeit und leeren Formalitäten, sagte der wirkliche Napoleon. Gyulay hat die Tradition wieder aufgefrischt und so, den eignen Sieg verscherzend, dem "Geheimgeneral" einen Sieg verschafft, der leicht und entscheidend gewesen wäre, wenn nicht erlahmt an der zähen Bravour der österreichischen Soldaten <389> und der talentlosen Nichtigkeit des Chefs der Gesellschaft vom 10. Dezember.

Am Morgen des 5. Juni hatte Gyulay unter seinem Kommando an Truppen, die noch nicht zu Magenta engagiert waren.

Brigaden

eine Division vom 3. Korps

2

vom 5. Korps

3

eine Division (Lilia) vom 7. Korps

2

vom 8. Korps

  4

zusammen

11

Es war dies eine Streitkraft gleich der, worüber er den Tag zuvor verfügt. Von den am vorigen Tag engagierten Truppen waren nur 3 Divisionen (erstes und zweites Korps) zunächst kampfunfähig. Blieben davon 8 disponible Brigaden, zusammen 19 Brigaden, über 100.000 Mann. Ihm gegenüber standen die 16 schon am 4. engagierten Brigaden; 4 neue französische Divisionen, die am 5. kampfbereit sein mußten und eine oder zwei Divisionen der Piemontesen, welche letztere sich noch weit im Nachzug befanden. So konnte Gyulay am 5. 19 Brigaden zur Disposition haben, die nun gar unterstützt vom neunten Korps, das er auf unbegreifliche Weise weit weg hielt, das Schicksal des vorigen Tages umkehren mußten. Gyulays Schnitzer können kurz so zusammengefaßt werden:

Erstens: Als Louis-Napoleon den Flankenmarsch im Operationskreis der Österreicher von Vercelli nach Turbigo machte, benützt Gyulay nicht die ungünstige Position seiner Feinde und fällt nicht mit allen Streitkräften auf ihre ausgesetzte Marschlinie, die er entzweischneiden und zum Teil zu den Alpen jagen konnte - Radetzkys Manöver von 1849 wiederholend,

Zweitens: Statt dessen retiriert er hinter den Ticino und bewegt sich so auf einem Umweg zur Deckung Mailands, während die gerade Straße dem Feinde überlassen war.

Drittens. Er zerstreut seine Truppen während des Rückzugs und bewerkstelligt letzern mit einer bequemen Trägheit, die kaum auf dem Exerzierplatz verzeihlich wäre.

Viertens: Sein neuntes Korps läßt er ganz außerhalb des Bereichs der Konzentration.

Fünftens: Während der Schlacht selbst wurde die Konzentration so liederlich ausgeführt, daß die Truppen unnütz litten und der Sieg dem Feinde geschenkt wurde.

<390> Wenn Gyulay trotz dieser gehäuften und groben Schnitzer dennoch keine vollständige Niederlage erlitt, obgleich ihm die Elite der französischen Armee gegenüberstand, ist dies ausschließlich geschuldet der Tapferkeit seiner Truppen und der Schlauheit seines gegnerischen "Geheimgenerals". Gyulays Truppen vertraten die unbesiegbare Lebenskraft der Völker, er selbst den altersschwachen Idiotismus der Monarchie. Der Geheimgeneral auf der andern Seite merkt, daß mit dem Rückzug der Österreicher an den Mincio der melodramatische Teil des Kampfes endet und der wirkliche Krieg beginnt. Er hat sich überzeugt, wie richtig der Weisheitsspruch, den der wirkliche Napoleon dem Bruder Joseph ins Gewissen prägte, nämlich, daß man die persönliche Gefahr im Krieg durch kein Versteckspielen vermeidet. Endlich hat Canrobert, beleidigt über Mac-Mahons Bevorzugung, gedroht mit gewissen Enthüllungen über des Helden von Satory Heldentaten in diesem Feldzug. Der Held sehnt sich daher zurück zu seiner lieben Frau im Faubourg Poissonnière und nach peace at any price <Frieden um jeden Preis>. Wenn das unerreichbar, wenigstens Friedensunterhandlungen, um "seinen leiblichen Rückzug nach Paris" zu beschönigen.