Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 398-401.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Friedrich Engels

Das Neueste vom Krieg

Geschrieben um den 24. Juni 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5662 vom 8. Juli 1859, Leitartikel]

<398> Die mit der "Asia" eingetroffene Post fügt dem über Neufundland empfangenen und gestern früh in unseren Spalten veröffentlichten kurzen telegraphischen Bericht über den großen Sieg am Mincio nichts Neues hinzu. Die Schlacht fand am Freitag, dem 24. Juni, statt und dauerte von 4 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, und die Dampfschiffe gingen am nächsten Tag ab, noch ehe irgendwelche Details bekannt wurden. Wir müssen daher abwarten, bis die "Arago" hier oder die "Hungarian" in Quebec ankommt, um die Einzelheiten zu erhalten, auf die die Öffentlichkeit so begierig ist. Da die Zahl der Kämpfenden auf beiden Seiten gleich groß war, scheint inzwischen durch das Ergebnis wenigstens die eine Frage geklärt, daß der österreichische Soldat dem französischen nicht ebenbürtig ist.

Der allgemeine Eindruck der Militärfachleute, sowohl in England als auch hier, bestand anscheinend darin, daß die Alliierten keine große Schlacht beginnen wollten, ehe nicht das aus Toskana kommende Korps unter Prinz Napoleon eingetroffen war, das die Österreicher im Rücken angreifen sollte; zugleich wurde angenommen, daß auf dem Gardasee eine Flottille auslaufen würde, um die Alliierten in die Lage zu versetzen, auch in jener Gegend einen Flankenangriff zu unternehmen. Napoleon III. jedoch hat weder auf das eine, noch auf das andere gewartet, sondern gekämpft und die Schlacht gewonnen. Aus der Korrespondenz vom alliierten Hauptquartier, aus der wir an anderer Stelle alles wesentliche wiedergeben, geht auch klar hervor, daß die Aufnahme des Kampfes die einzig mögliche Handlungsweise war. Eine Verzögerung würde den Siegeselan der alliierten Truppen gehemmt und den Österreichern Gelegenheit gegeben haben, sie in kleineren Gefechten durch eine zahlenmäßige Überlegenheit zu schlagen.

<399> In den Bewegungen der österreichischen Armee herrscht unter Schlick die gleiche schwankende Unentschlossenheit, die vorher die Niederlage und das in Ungnadefallen Gyulays zur Folge hatte. Sie bereiteten sich zuerst auf der Linie Lonato-Castiglione-San Cassiano-Cavriana-Volta zum Kampf vor. Hier erhebt sich allmählich ein Plateau gegen den See und den Mincio, das eine Anzahl ausgezeichneter Positionen bietet, von denen jede stärker und konzentrierter als die vorhergehende ist, so daß die Eroberung des Randes des Plateaus keinen Sieg, sondern nur den ersten Akt einer Schlacht bedeuten würde. Der rechte Flügel der Österreicher war durch den See gedeckt, ihr linker Flügel bedeutend rückwärts eingebogen, so daß er fast 10 Meilen der Minciolinie unbeschützt ließ. Das war aber kein Nachteil, sondern sogar die günstigste Seite der Position, weil jenseits des Mincio das gefährliche Gebiet lag, das zwischen den vier Festungen eingeschlossen ist und in das sich kein Feind ohne große zahlenmäßige Überlegenheit wagen konnte. Da die Minciolinie an ihrem südlichen Ende durch Mantua beherrscht wird und der Boden jenseits des Mincio den Wirkungskreisen von Mantua und Verona angehört, würde jeder Versuch, die Österreicher in der Position auf dem Plateau unberücksichtigt zu lassen und an ihnen vorbei auf den Mincio loszumarschieren, bald zum Stillstand gezwungen worden sein. Die vorrückende Armee hätte ihre Kommunikationslinien vernichtet gesehen, ohne die der Österreicher gefährden zu können. Aber das Gefährlichste einer solchen Bewegung wäre gewesen, daß sie unter den Augen der Österreicher auf dem Plateau hätte bewerkstelligt werden müssen; diese brauchten dann nichts weiter zu tun, als ihre ganze Linie in Bewegung zu setzen und über die auseinandergezogenen Kolonnen des Feindes herzufallen, und zwar von Volta auf Goito, von Cavriana auf Guidizzolo und Ceresara, von Castiglione auf Castelgoffredo und Montechiaro. Eine solche Schlacht wäre von den Alliierten unter ungeheurem Nachteil ausgefochen worden und hätte mit einem zweiten Austerlitz enden können, nur mit vertauschten Rollen.

Das war die Lage, in der sich die Österreicher befanden; außerdem hatten sie den Vorteil, daß sie das Gelände genau kannten, weil sie hier seit Jahren in größtem Ausmaß ihre jährlichen Manöver abhielten. Wie gesagt, dieses Gelände war für den bevorstehenden Zusammenstoß sorgsam vorbereitet; Städte und Dörfer waren befestigt; und im letzten Moment geben sie dann aus irgendeinem Grunde, der vom militärischen Standpunkt aus völlig unerklärbar ist, das Gelände auf und ziehen sich mit Sack und Pack über den Mincio zurück, wo sie am 24. angegriffen und schließlich geschlagen werden. Ob diese plötzliche und entscheidende Veränderung der Anlage des Feldzugs irgend etwas mit der Haltung Preußens zu tun hatte, von dem man sagt, <400> daß es das Viereck an Mincio und Etsch gewissermaßen als einen Teil der Befestigungsanlagen Deutschlands betrachtet, ist eine Frage, über die wir hoffentlich noch mehr Klarheit erhalten. Eines jedoch ist im Hinblick auf Preußen ziemlich sicher, nämlich, daß seine Haltung Louis-Napoleon daran hindern muß, noch viel mehr Truppen von Frankreich nach Italien zu ziehen. Wie unsere Leser bereits wissen, hat Preußen sechs seiner neun Armeekorps mobilisiert; d.h. es hat die Landwehr <Landwehr: in der "N.-Y. D. T." deutsch> einberufen, die aus Soldaten besteht, die zu diesen Korps gehören und die nach drei Jahren regulärer Dienstzeit auf unbestimmte Dauer beurlaubt wurden. Von diesen sechs Armeekorps sollen fünf am unteren und mittleren Rhein Stellung beziehen. Somit müssen gegenwärtig ca. 170.000 Preußen zwischen Koblenz und Metz aufgestellt sein, und zweifellos auch zwei andere Bundeskorps, nämlich die von Bayern und Baden. Württemberg und Hessen-Darmstadt werden auch ihre Stellungen in Baden und in der Pfalz beziehen, das sind weitere 100.000 bis 120.000 Mann. Gegen solche Streitkräfte wird Napoleon III. fast jeden Mann brauchen, der ihm jetzt in Frankreich zur Verfügung steht. In diesem Falle könnte er es für ratsam halten, zu einer Insurrektion in Ungarn Zuflucht zu nehmen und sich dabei Kossuths zu bedienen; allerdings dürfte es ziemlich sicher sein, daß er nur im äußersten Notfalle zu solchen Hilfsmitteln greifen wird.

Ob Preußen nunmehr wirklich beabsichtigt, am Krieg teilzunehmen, ist sehr zweifelhaft; aber es wird ihm nicht leicht fallen, dem zu entgehen. Sein Militärsystem, das darin besteht, aus der Mehrheit der erwachsenen wehrfähigen Bevölkerung Soldaten zu machen, legt der Nation von dem Augenblick an, da die Landwehr - allein das erste Aufgebot - einberufen wird, eine solche Last auf, daß das Land es sich nicht leisten kann, auf längere Zeit untätig unter Waffen zu stehen. Gegenwärtig stehen in sechs von acht Provinzen alle wehrfähige Männer im Alter von 20 bis 32 Jahren unter Waffen. Die Störung des gesamten kommerziellen und industriellen Lebens in Preußen, die dadurch hervorgerufen wird, ist gewaltig; das Land kann es nur unter der Bedingung ertragen, daß die Soldaten unverzüglich vor den Feind geführt werden; die Soldaten selbst könnten es nicht ertragen - in wenigen Monaten würde sich die ganze Armee in aufrührerischer Stimmung befinden. Außerdem ist das Nationalgefühl in Deutschland so mächtig gewachsen, daß Preußen, da es nun einmal so weit gegangen ist, nicht mehr zurück kann. Die Erinnerungen an den Frieden von Basel, an die Unentschlossenheit von 1805 und 1806 und an den Rheinbund sind noch so lebendig, daß die <401> Deutschen entschlossen sind, sich nicht einzeln von ihrem schlauen Gegner schlagen zulassen. Die preußische Regierung kann dieses Nationalgefühls nicht Herr werden; sie kann versuchen, es zu lenken, aber wenn sie dies tut, ist sie mit Händen und Füßen an diese Bewegung gebunden, und das geringste Schwanken wird als Verrat betrachtet werden und auf den Schwankenden zurückfallen. Zweifellos wird es Versuche zu Verhandlungen geben; aber alle Parteien sind jetzt so gebunden, daß es überhaupt keinen Ausweg aus dem Labyrinth zu geben scheint.

Wenn Deutschland jedoch an diesem Krieg teilnimmt, wird zweifellos bald ein weiterer Akteur auf der Bühne erscheinen. Rußland hat den deutschen Kleinstaaten mitgeteilt, daß es sich einmischen wird, falls die Deutschen nicht ruhig zusehen, wie Österreich zerstückelt wird. Rußland konzentriert zwei Armeekorps an der preußischen, zwei an der österreichischen und eins an der türkischen Grenze. Irgendwann in diesem Jahr könnte es einen Feldzug beginnen; aber sicher erst recht spät. In Rußland sind seit dem Pariser Frieden keine Rekruten ausgehoben worden; die Zahl der Beurlaubten kann infolge der großen Verluste während des Krieges nicht groß sein; und wenn die Armeekorps, selbst nach Einberufung der Beurlaubten, auf je 40.000 Mann kommen, ist das schon viel. Vor 1860 kann Rußland keine Offensive beginnen, und auch dann mit nicht mehr als 200.000 oder 250.000 Mann. Gegenwärtig stehen in Deutschland für die Verwendung im Norden vier preußische Korps zur Verfügung, das sind 136.000 Mann; das neunte und zehnte Bundeskorps mit der Reservedivision, etwa 80.000 Mann; und schließlich drei österreichische Korps oder 140.000 Mann. Damit hat Deutschland bei einem Verteidigungskrieg oder sogar bei einem Angriff auf Russisch-Polen gegenwärtig nichts von Rußland zu fürchten. Aber sobald sich Rußland an diesem Krieg beteiligt, wird man an die nationalen Gefühle und an die unterschiedlichen Klasseninteressen appellieren, und die Auseinandersetzung wird Ausmaße annehmen, die den Krieg der ersten französischen Revolution in den Schatten stellen werden.