Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 423-427.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Der Vertrag von Villafranca

Geschrieben am 19. Juli 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5704 vom 4. August 1859, Leitartikel]

<423> Wenn der von Louis-Napoleon unter dem Vorwand der Befreiung Italiens angezettelte Krieg eine allgemeine Verwirrung der Meinungen, eine Veränderung der Positionen und eine Prostitution der Menschen und Dinge hervorgerufen hat, wie sie in der europäischen Geschichte keine Parallele finden, so hat der Frieden von Villafranca den verhängnisvollen Zauber gebrochen. Was auch immer über die Schlauheit Louis-Napoleons gesagt worden sein mag, dieser Friede hat sein Prestige zerstört und ihn sogar dem französischen Volk und der französischen Armee entfremdet, die an seine Dynastie zu fesseln sein Hauptbestreben war. Wenn er dieser Armee sagt, daß er aus Furcht vor Preußen und dem österreichischen Festungsviereck Friede geschlossen habe, sagt er ihnen etwas, was nur ihr Mißfallen hervorrufen kann. Und wenn er diesem Volk, von dem jeder ein geborener Revolutionär ist, erzählt, daß er in seinem Siegeszug nur durch die Tatsache aufgehalten wurde, daß er den nächsten Schritt vorwärts mit der Revolution als Bundesgenossen hätte machen müssen, kann er sicher sein, daß sie ihn mit weit größerem Mißtrauen und größerer Abscheu betrachten werden, als den Popanz, mit dem er sie schrecken will. Im ganzen heutigen Europa gibt es keinen solchen Fehlschlag, wie ihn Louis-Napoleon mit seinem italienischen Krieg erlitten hat. Der Schwindel platzte in Villafranca. Die Börsenspekulanten triumphieren, die entlarvten Demagogen sind entsetzt, die betrogenen Italiener beben vor Wut, die "vermittelnden Mächte" geben jämmerliche Figuren ab und die Briten und Amerikaner, die an Louis Bonapartes demokratische Mission geglaubt haben, verbergen ihre Beschämung hinter nichtssagenden Protesten und scharfsinnigen Erklärungen; doch diejenigen, die gegen eine Welle der Selbsttäuschung <424> aufzutreten wagten, selbst auf die Gefahr hin, einer österreichfreundlichen Haltung bezichtigt zu werden, haben sich jetzt als die einzigen erwiesen, die recht gehabt haben.

Betrachten wir zuerst, auf welche Weise der Vertrag abgeschlossen wurde. Die beiden Kaiser treffen sich; Franz Joseph übergibt Napoleon die Lombardei, der sie Viktor Emanuel zum Geschenk macht. Viktor Emanuel, obwohl offensichtlich die Hauptperson des Krieges, wird überhaupt nicht zu den Friedensverhandlungen zugelassen. Beide Vertragspartner verhöhnen den Gedanken, die Meinung der hier verschacherten menschlichen Ware auch nur zum Schein anzuhören. Franz Joseph verfügt über seinen Besitz und Napoleon III. ebenso. Wenn es sich um die Übereignung eines Vermögens gehandelt hätte, wäre die Anwesenheit eines juristischen Beamten und die Erfüllung einiger gesetzlicher Formalitäten unumgänglich gewesen. Nichts dergleichen bei der Übereignung von drei Millionen Menschen. Nicht einmal die Zustimmung Viktor Emanuels, der den Besitz schließlich erhält, wird eingeholt. Eine solche Demütigung war zu groß für einen Minister, und Cavour trat zurück. Ein König darf natürlich von einem annektierten Land sagen, was der römische Kaiser von dem eingegangenen Geld sagte: Non olet <Es riecht nicht>. Wahrscheinlich hat es für ihn keinen beleidigenden Geruch.

Dieser Vorgang stellt vermutlich das dar, was im Vokabularium der "idées napoléoniennes" die "Wiederherstellung der Nationalitäten" genannt wird. Der Wiener Kongreß kann, wenn man seine Transaktionen mit dem Villafranca-Geschäft vergleicht, direkt revolutionärer Grundsätze und Sympathien mit den Völkern verdächtigt werden. Die Inauguration der italienischen Nationalität wird vorsätzlich verhöhnt durch eine Übereinkunft, die in großen Lettern erklärt, daß Italien an dem Krieg gegen Österreich nicht teilgenommen und deshalb beim Friedensschluß mit Österreich kein Wort mitzureden hat. Garibaldi mit seinen kühnen Bergbewohnern, die Insurrektionen in Toskana, Parma, Modena und in der Romagna, Viktor Emanuel mit seinem von der Invasion betroffenen Land, seinen ruinierten Finanzen und seiner dezimierten Armee - all das zählt nicht. Es war ein Krieg zwischen einem Habsburger und einem Bonaparte. Es war kein italienischer Krieg. Viktor Emanuel kann nicht einmal die Ehre eines subalternen Alliierten beanspruchen. Er war kein Partner in diesem Kampf, er war nur ein Instrument und ist deshalb von <425> jenen Rechten ausgeschlossen, die nach dem Völkerrecht jedem Mitkämpfenden zustehen, wie gering er auch sei. Ihm werden nicht die Ehren zuteil, die den deutschen mediatisierten Fürsten beim Frieden von 1815 zuteil wurden. Ein bescheidener armer Verwandter, der schweigend die Brosamen verzehren darf, die vom Tisch seines reichen und mächtigen Vetters fallen.

Wenn wir nun zu dem Inhalt - wir meinen den offiziellen Inhalt - des Vertrages von Villafranca kommen, werden wir finden, daß dieser mit der Verfahrensweise vollkommen übereinstimmt. Die Lombardei wird Piemont übergeben, doch dasselbe Angebot, unter günstigeren Bedingungen und nicht mit Nachteilen belastet, hatte Österreich bereits 1848 Karl Albert und Lord Palmerston vorgeschlagen. Zu dieser Zeit hatte sich keine ausländische Macht der italienischen Bewegung bemächtigt. Die Übergabe sollte an Sardinien, nicht an Frankreich erfolgen; auch Venedig sollte von den österreichischen Gebieten getrennt und als ein unabhängiger italienischer Staat konstituiert werden, nicht mit dem österreichischen Kaiser, sondern mit einem österreichischen Erzherzog an der Spitze. Diese Bedingungen wurden damals von dem edelmütigen Palmerston geringschätzig abgelehnt und als unzureichend für eine Beendigung des italienischen Unabhängigkeitskrieges gebrandmarkt. Dieselbe Lombardei wird jetzt als ein französisches Geschenk der Dynastie Savoyen übergeben, während Venedig mit dem Festungsviereck, die Festungen am Mincio einbegriffen, in den Klauen Österreichs bleiben soll.

Die Unabhängigkeit Italiens wird somit in die Abhängigkeit der Lombardei von Piemont und in die Abhängigkeit Piemonts von Frankreich umgewandelt. Österreichs Stolz mag durch die Abtretung der Lombardei getroffen worden sein, seine wirkliche Macht ist durch die Räumung eines Gebietes, das einen Teil seiner militärischen Kräfte absorbierte, ohne daß es gegen eine ausländische Invasion verteidigt werden und die Unterhaltungskosten selbst aufbringen konnte, eher gefestigt worden. Die Geldmittel, die in der Lombardei nutzlos verausgabt wurden, können jetzt anderswo nützlich verwendet werden. Österreich behält die dominierende militärische Position, von der aus es bei passender Gelegenheit über seinen schwachen Nachbarn herfallen kann. Piemont hat nichts gewonnen als eine offene Grenze und ein Gebiet mit unruhigen, unzufriedenen und mißtrauischen Untertanen, wodurch es in Wirklichkeit nur schwächer geworden ist. Gleichzeitig hat es jeden Anspruch verloren, die Rechte Italiens zu vertreten. Es hat einen dynastischen Handel abgeschlossen, aber seine nationale Mission aufgegeben. Von einem unabhängigen Staat ist Sardinien zu einem <426> geduldeten Staat herabgesunken, der vor seinem Beschützer im Westen kriechen muß, um gegen seinen Feind im Osten bestehen zu können.

Aber das ist noch nicht alles. Nach den Bestimmungen des Vertrages soll Italien nach dem Muster des Deutschen Bundes als eine italienische Konföderation unter der Ehrenpräsidentenschaft des Papstes <Pius IX.> konstituiert werden. Bei der Durchführung dieser napoleonischen Idee scheint es einige Schwierigkeiten zu geben, und es bleibt abzuwarten, wie Napoleon III. mit den Hindernissen fertig wird, die sich seinem Steckenpferd in den Weg stellen. Denn wie die Sache auch ausgehen mag, es besteht kein Zweifel daran, daß eine solche Föderation mit dem Papst an der Spitze sein Steckenpferd ist. Der Sturz der päpstlichen Macht in Rom wurde jedoch immer als die conditio sine qua non <unerläßliche Bedingung> der italienischen Befreiung angesehen. Machiavelli fand vor langer Zeit in seiner "Florentinischen Geschichte" in der päpstlichen Oberherrschaft die Quelle der italienischen Erniedrigung. Nun soll nach den Absichten Louis-Napoleons an Stelle der Befreiung der Romagna ganz Italien der nominellen Herrschaft des Papstes unterworfen werden. Wenn die Föderation jemals zustande kommen sollte, wird in Wirklichkeit die päpstliche Tiara nur das Emblem der österreichischen Herrschaft sein. Was wollte Österreich durch seine Privatverträge mit Neapel, Rom, Toskana, Parma, Modena erreichen? Eine Konföderation italienischer Fürsten unter österreichischer Führung. Der Vertrag von Villafranca mit einer italienischen Konföderation, in der der Papst, Österreich und die wiedereingesetzten Herzöge - wenn ihre Wiedereinsetzung möglich ist - eine Partei bilden werden und Piemont die andere, übersteigt die kühnsten Hoffnungen Österreichs. Seit 1815 trachtete es danach, eine Konföderation italienischer Fürsten gegen Piemont zu bilden. Jetzt hat es die Möglichkeit, Piemont selbst zu unterwerfen. Es hat die Möglichkeit, die Lebenskraft dieses kleinen Staates in einer Konföderation auszulöschen, deren nominelles Oberhaupt der Papst sein wird, der Sardinien exkommuniziert hat, und deren wirklicher Führer der unversöhnliche Feind Sardiniens sein wird. Folglich ist nicht Italien befreit, sondern Piemont unterdrückt worden. Piemont soll Österreich gegenüber die Rolle Preußens spielen, doch ohne die Ressourcen, die den letzteren Staat befähigt haben, seinen Rivalen im Deutschen Bundestag zu paralysieren. Frankreich seinerseits mag sich schmeicheln, gegenüber Italien die Stellung eingenommen zu haben, die Rußland gegenüber dem Deutschen Bund innehat, allerdings mit dem Unterschied, daß der russische Einfluß in Deutschland <427> auf dem Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Habsburgern und den Hohenzollern beruht. Der einzige Weg, durch den Piemont sein Prestige wieder herstellen kann, wird ihm klar durch seinen Beschützer gewiesen. In seiner Proklamation an seine Soldaten sagt Louis-Napoleon:

"Die Vereinigung der Lombardei mit Piemont schafft uns" (der Familie Bonaparte) "einen mächtigen Verbündeten, der uns seine Unabhängigkeit verdanken wird."

Damit erklärte er, daß sich das unabhängige Piemont in eine napoleonische Statthalterschaft verwandelt hat. Um sich aus dieser erniedrigenden Stellung zu befreien, fehlt es Viktor Emanuel an Ressourcen. Er kann nur an Italien appellieren, dessen Vertrauen er betrogen hat, oder an Österreich, mit dessen Beute er gefüttert wurde. Es ist jedoch durchaus möglich, daß eine italienische Revolution eingreifen wird, um das Antlitz der ganzen Halbinsel zu verändern und Mazzini und die Republikaner wieder auf die Bildfläche zu bringen.