Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 447-449.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Die französische Abrüstung

Geschrieben um den 30. Juli 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5711 vom 12. August 1859, Leitartikel]

<447> Die Ankündigung Napoleons III. in seinem "Moniteur", er gedenke seine Land- und Seestreitkräfte auf Friedensstärke zu reduzieren, mag von geringem Wert erscheinen, wenn wir uns die Tatsache vor Augen halten, daß unmittelbar vor Ausbruch des Krieges derselbe Potentat in dem gleichen "Moniteur" feierlich erklärte, seine Land- und Seestreitkräfte seit 1856 niemals auf Kriegsfuß gebracht zu haben. Seine Absicht, durch einen geschickten Artikel in seinem offiziellen Organ die Marine- und Heeresaufrüstung Englands vorerst abzuwenden, ist zu durchsichtig, um diskutiert zu werden. Es wäre jedoch ein großer Fehler, die Ankündigung im "Moniteur" als bloßen Trick anzusehen. Er ist zur Aufrichtigkeit gezwungen; er tut nur, was er nicht unterlassen kann.

Nach dem Abschluß des Friedens von Villafranca stand Louis-Napoleon vor der gebieterischen Notwendigkeit, seine Land- und Seestreitkräfte auf den Umfang zu reduzieren, der einem Friedensbudget entsprach. Das italienische Abenteuer hatte Frankreich etwa 200 Millionen Dollar und 60.000 Mann der Elite seiner Armee gekostet, ohne dafür mehr zu gewinnen als einigen militärischen Ruhm von recht zweifelhafter Art. Die Enttäuschung über einen unpopulären Frieden mit der weiteren Erhebung der Kriegssteuern zu erwidern, wäre ein sehr gefährliches Experiment. Periodisch die Grenzen Frankreichs zu überschreiten und die unzufriedene Bevölkerung mit kriegerischen Erfolgen zu berauschen, ist eine der Lebensbedingungen des restaurierten Kaiserreichs. Die Rolle des Retters von Frankreich vor einem allgemeinen europäischen Krieg zu spielen, nachdem er es dicht an den Rand eines solchen Krieges geführt hat, ist eine weitere Lebensbedingung für den Mann des Dezember. Nach der durch den <448> Krieg erzwungenen Unterbrechung der industriellen und kommerziellen Geschäfte erscheint der Friede, gleich unter welchen Bedingungen, nicht nur als ein Segen, sondern er besitzt auch den Reiz des Neuen. Die Langeweile, die unter der monotonen Herrschaft des Zuaven und Spions den Frieden zur Last werden läßt, verwandelt sich nach dem durch den Krieg hervorgerufenen Szenenwechsel in lebhafte Freude. Das heftige Gefühl der Demütigung, das auf dem Gemüt des französischen Volkes lastet, wenn es sich seiner Unterwerfung durch einen Abenteurer ohne Charakter, wenn auch nicht ohne Geschicklichkeit, erinnert, wird zur Zeit durch das Schauspiel gemildert, daß ausländische Nationen und ausländische Potentaten sich derselben höheren Gewalt fügen - wenn nicht de facto, so doch wenigstens dem Anschein nach. Die stark beeinträchtigte Produktion erhält jetzt infolge des Gesetzes der Elastizität einen neuen Auftrieb; alle plötzlich abgebrochenen geschäftlichen Transaktionen werden mit verdoppeltem Eifer wieder aufgenommen; die plötzlich gelähmte Spekulation steigt höher an als zuvor. So sichert der Friede im Gefolge eines napoleonischen Krieges der Dynastie erneut eine Lebensfrist, zu deren Erhaltung kurz zuvor der Friedensbruch unumgänglich war. Nach einer gewissen Zeit werden natürlich die alten Zersetzungserscheinungen wieder zu einem neuen Krieg drängen. Der grundlegende Antagonismus zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem coup d'état wird erneut aufleben; und sobald die innere Auseinandersetzung wieder einen bestimmten Grad der Intensität erreicht hat, muß auf ein neues kriegerisches Zwischenspiel als einzig anwendbares Sicherheitsventil zurückgegriffen werden. Es ist offensichtlich, daß die Bedingungen, unter denen der "Retter der Gesellschaft" sich selber retten muß, allmählich immer gefährlicher werden. Das Abenteuer in Italien war bei weitem gefährlicher als das auf der Krim. Verglichen mit dem Abenteuer am Rhein oder dem noch weiter in der Ferne liegenden Abenteuer der Invasion Englands, beide zweifellos von Napoleon III. im Geiste gehegt und von den Unbesonnensten seiner Untertanen leidenschaftlich erwartet, mag dieser Krieg in Italien als ein reines Kinderspiel erscheinen.

Es wird jedoch einige Zeit vergehen, ehe diese neuen Unternehmungen ins Werk gesetzt werden. Zwischen dem Krimkrieg und dem italienischen Kriege war eine Pause von vier Jahren; aber es ist unwahrscheinlich, daß wieder eine so lange Atempause eintreten wird, solange Louis-Napoleon lebt und regiert. Der unvermeidliche Zwang, durch den er seine Macht aufrechterhält, wird in immer kürzeren Abständen auf ihn zurückwirken. Die Forderungen der Armee und besonders die Erniedrigung, die er dem Volke auferlegt, werden ihn schneller als beim letzten Mal zum nächsten <449> Schritt zwingen. Krieg ist die Bedingung, unter der er sich auf dem Throne hält, aber es wird - da er letztlich nur eine Nachahmung Bonapartes ist - wohl immer ein fruchtloser Krieg sein, der, unter falschen Vorwänden angezettelt, Blut und Geld verschlingt und seinen Untertanen keinen Nutzen bringt. So war der Krimkrieg, so der eben zu Ende gegangene. Nur unter solchen Bedingungen kann Frankreich den Vorzug genießen, von diesem Manne beherrscht zu werden. Es muß sozusagen immer aufs neue die Dezembertage aufführen, nur daß der Schauplatz des Blutbades von den Pariser Boulevards in die Ebene der Lombardei oder auf die Halbinsel Krim verlegt wird, und die jämmerlichen Nachkömmlinge der großen Revolution nicht ihre eigenen Landsleute, sondern fremde Völker zu morden haben.