Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 482-486.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Louis-Napoleon und Italien

Geschrieben Mitte August 1859.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5725 vom 29 August 1859, Leitartikel]

<482> Jeder Tag wirft neues Licht auf die Worte und Taten Napoleons III. in Italien und hilft uns zu verstehen, was für ihn Freiheit "von den Alpen bis zur Adria" bedeutet. Für ihn war der Krieg nur eine weitere französische Expedition nach Rom - natürlich in jeder Beziehung in größerem Maßstab, aber in den Ursachen und Ergebnissen jenem "republikanischen" Unternehmen ähnlich. Nachdem der Befreier durch den Abschluß des Vertrages von Villafranca Frankreich vor einem europäischen Krieg "gerettet" hat, schickt er sich nunmehr an, durch die zwangsweise Wiedereinsetzung der Fürsten, die ein Wort aus den Tuilerien der Macht beraubt hatte, und durch die militärische Unterdrückung der Volksbewegung in Mittelitalien und in den Legationen die italienische Gesellschaft zu "retten". Während es in der britischen Presse von vagen Mutmaßungen und on dits <Gerüchten> über die möglichen Veränderungen der Festlegungen von Villafranca durch die Konferenz in Zürich nur so wimmelte und Lord John Russell sich infolge seiner unverbesserlichen Indiskretion, die Lord Palmerston veranlaßt hatte, ihm die Siegel des Außenministeriums anzuvertrauen, zu der feierlichen Erklärung im Unterhaus ermächtigt fühlte, daß Bonaparte davon Abstand nehmen würde, den entthronten Fürsten seine Bajonette zu leihen, erschien die "Wiener Zeitung" vom 8. August mit der folgenden offiziellen Erklärung auf der ersten Seite:

"Die Konferenz in Zürich geht ihrer Eröffnung entgegen, um das in Villafranca seinen Grundzügen nach vereinbarte Friedenswerk definitiv abzuschließen. Dieser offen zu Tage liegenden Bedeutung der Zusammenkunft in Zürich gegenüber ist es <483> schwer zu begreifen, wie Organe der Presse, nicht bloß des Auslandes, sondern selbst in Österreich, Zweifel an der Ausführung oder auch an der Ausführbarkeit der Punktationen von Villafranca auszusprechen sich bewogen fühlen konnten. Durch die Unterschrift zweier Kaiser besiegelt, tragen diese Friedenspräliminarien die Bürgschaft ihrer Ausführung in dem gegebenen Wort und der Macht beider Monarchen."

Das ist eine offene Sprache. Da sind auf der einen Seite die fruchtlosen Deklamationen der hintergangenen Italiener; auf der anderen Seite ist das "sic volo, sic jubeo" <"Ich will es, ich befehle es", (Juvenal, "Satiren", VI, 223)> Franz Josephs und Louis Bonapartes, das sich auf Bajonette, gezogene Kanonen und andere "armes de précision " <"Präzisionswaffen"> stützt. Weigern sich die italienischen Patrioten, den salbungsvollen Überredungskünsten nachzugeben, müssen sie der brutalen Gewalt weichen. Es gibt keine andere Alternative, ungeachtet der Erklärung Lord Russells, die er wahrscheinlich völlig in gutem Glauben aussprach, obwohl sie ihm nur in den Mund gelegt wurde, um das britische Parlament für die Zeit loszuwerden, in der Italien unter der eisernen Ferse der alliierten Despoten zermalmt werden soll. Hinsichtlich der weltlichen Macht des Papstes in den Legationen wartete Louis-Napoleon nicht einmal das Ende des Krieges ab, um ihre Aufrechterhaltung zu diktieren. Die Präliminarien von Villafranca legen die Wiedereinsetzung der österreichischen Fürsten in Toskana und Modena fest. Die Rückkehr der Herzogin von Parma war in den Bedingungen nicht vorgesehen, da Franz Joseph sich an dieser Fürstin zu rächen wünschte, weil sie es offen abgelehnt hatte, ihr Geschick mit dem Österreichs zu verbinden. Doch Louis-Napoleon in seiner angeborenen Hochherzigkeit ließ sich herab, den demütigen Bitten der donna errante <umherirrenden Dame> Gehör zu schenken. Durch die Vermittlung von Walewski hat er Herrn Mon, dem spanischen Gesandten in Paris, der zugleich der Bevollmächtigte der Herzogin ist, sein Ehrenwort gegeben, daß sie wieder einen Thron bekommen und über ein Gebiet von der gleichen Größe wie vordem herrschen werde, eventuell mit Ausnahme der Festung von Piacenza, die Viktor Emanuel übergeben werden soll, wenn er sich auf der Konferenz von Zürich gut beträgt. Der Parvenü fühlt sich bei dem Gedanken, den Beschützer der Schwester der Bourbonen zu spielen, nicht nur ungemein geschmeichelt, er glaubt auch endlich, das sichere Mittel gefunden zu haben, die Gunst des Faubourg St. Germain zu gewinnen, der bisher seine Annäherungsversuche höhnisch zurückgewiesen und ihm gegenüber eine hochmütige Zurückhaltung an den Tag gelegt hatte.

<484> Wie aber sollte der "Befreier der Nationalitäten" zum Missionar vor "Gesetz und Ordnung", zum Retter der "bestehenden Gesellschaft" werden? Wie nun mit Erfolg diese weniger poetische Rolle übernehmen? Es war ein großer Schritt abwärts. Die Ungewißheit der Öffentlichkeit über die wahre Bedeutung der Präliminarien von Villafranca hervorzurufen und zu verlängern und sie mit wilden Gerüchten und weisen Mutmaßungen zu befriedigen, war offensichtlich eine Methode, Europa allmählich auf das Schlimmste vorzubereiten. Lord Palmerston, der Österreich haßt und vorgibt, Italien zu lieben, ist offenkundig der Vertraute Napoleons III. und hat dem Mann des Dezember über diesen schlüpfrigen Boden hinweggeholfen. Nachdem Palmerston das Ministerium Derby wegen seiner österreichischen Sympathien gestürzt hatte, schien er sich ganz Europa und besonders Italien gegenüber für die aufrichtigen Absichten Napoleons III., seines erhabenen Verbündeten, verbürgt zu haben. So hat er das Parlament geräuschlos aus dem Weg geräumt, wenn er es nicht sogar mit einer bewußten Unwahrheit nach Hause geschickt hat. Seiner eindeutigen Erklärung, England habe sich noch nicht entschieden, ob es am europäischen Kongreß teilnimmt oder nicht - dieser Kongreß wird wahrscheinlich die Beschlüsse der Konferenz von Zürich gutheißen und auf diese Weise die Last des Odiums, die sonst allein auf Napoleons Schultern ruhen würde vermindern, indem er sie auf alle europäischen Mächte verteilt -, widersprechen die preußischen Zeitungen in einer offiziösen Note, in der es heißt, England und Rußland hätten sich gemeinsam an den Hof von Berlin gewendet und seine Mitwirkung an diesem europäischen Kongreß gefordert.

Erst nachdem die fieberhafte Erregung der öffentlichen Meinung etwas besänftigt war, unternahm Napoleon seinen zweiten Schritt, und zwar in Sardinien. Er bemühte sich, Viktor Emanuel zu veranlassen, für ihn die Arbeit zu besorgen - eine Sache, die nicht leicht zu bewerkstelligen war. Alles was Österreich und seine Vasallen verloren hatten, schien Viktor Emanuel gewonnen zu haben. Er war tatsächlich, wenn auch noch nicht dem Namen nach, der Regent Mittelitaliens und der Legationen geworden. Im allgemeinen erkennen die Bewohner dieser Länder seine Dynastie an, wenn nicht aus Liebe für Piemont, so aus Haß gegen Österreich. Die erste Forderung des französischen Kreuzfahrers der Freiheit an seinen neuen Vasallen war, er solle von der offiziellen Führung der Volksbewegung zurücktreten. Das konnte Viktor Emanuel nicht ablehnen. Er zog die sardinischen Kommissare aus den Herzogtümern und den Legationen zurück, Boncompagni wurde aus Florenz, Massimo d'Azeglio aus der Romagna <485> und Farini (zumindest in seiner offiziellen Eigenschaft) aus Modena abberufen.

Doch der kaiserliche Befreier war noch nicht zufriedengestellt. Aus früheren Erfahrungen in Frankreich hatte er die Schlußfolgerung gezogen, daß bei geschickter Lenkung Volksabstimmungen den besten Mechanismus in der Welt darstellen, eine Despotie auf einer festen und anständigen Grundlage zu errichten. Der König von Sardinien wurde also aufgefordert, in den aufständischen Provinzen mittels Volksabstimmungen die Wiedereinsetzung der Fürsten als den Willen des Volkes erscheinen zu lassen. Viktor Emanuel wollte natürlich von einer solchen Forderung nichts hören, deren Erfüllung die Hoffnungen auf die Freiheit Italiens unfehlbar für immer vereiteln und die evvivas <Hochrufe> in einen allgemeinen Verwünschungsschrei über die ganze Halbinsel verwandeln würden. Er soll Graf de Reiset, dem französischen Versucher, mit folgenden Worten geantwortet haben:

"Mein Herr, ich bin vor allem ein italienischer Fürst; vergessen Sie diese Tatsache nicht. Die Interessen Italiens scheinen mir von größerer Bedeutung zu sein als jene Europas, auf welche Sie anzuspielen belieben. Ich kann das Ansehen meines Namens nicht der Wiedereinsetzung der entthronten Fürsten leihen, und ich will es nicht tun. Ich war schon zu nachgiebig, als ich zuließ, daß die Dinge ihren eigenen Lauf nehmen."

Und der ritterliche König soll sogar noch hinzugefügt haben:

"Wenn eine bewaffnete Intervention beschlossen ist, werden Sie von mir hören. Was die Konföderation betrifft, so ist sie meinem Interesse und meiner Ehre gleichermaßen zuwider, und ich werde sie daher bis zum Tode bekämpfen."

Bald nachdem diese Erwiderung nach Paris übermittelt worden war, erschien der berühmte Artikel von Granier de Cassagnac über die italienische Undankbarkeit mit der unheilvollen Andeutung, daß, zöge man den Schutz einer mächtigen Hand zurück, bald der österreichische Adler auf dem königlichen Palast von Turin sitzen würde. Viktor Emanuel wurde sogleich unterrichtet, daß es von seinem guten Betragen abhinge, ob er Piacenza erhält, und daß der Grad des Einflusses der italienischen Fürsten in der vorgeschlagenen Konföderation noch eine Sache der Verhandlung sei. Und der letzte Schlag wurde ihm versetzt, indem die Frage der nationalen Zugehörigkeit von Savoyen aufgeworfen wurde, begleitet von der Andeutung, daß, nachdem Bonaparte Viktor Emanuel bei der Befreiung Italiens vom Joche Österreichs beigestanden hatte, Viktor Emanuel es wohl <486> kaum ablehnen könnte, Savoyen vom Joche Sardiniens zu befreien. Diese Drohungen nahmen bald in der Agitation, die auf ein Signal von Paris durch die feudale und katholische Partei in Savoyen entfacht wurde, greifbare Gestalt an.

"Die Savoyarden sind es überdrüssig", rief eine Pariser Zeitung aus, "für die Sache Italiens ihr Geld zu gehen und das Blut ihrer Söhne zu vergießen."

Dies war ein starkes argumentum ad hominem <Argument mit überzeugender Beweisführung> für Viktor Emanuel, und wenn er auch die ihm gestellte Aufgabe nicht direkt akzeptiert hat, so ist doch zu befürchten, daß er zumindest versprechen mußte, einer bewaffneten französischen Intervention den Weg zu ebnen. Wenn man der in dem Telegramm vom 9. August aus Parma enthaltenen Nachricht trauen kann, nach der

"die Piemontesen aus der Stadt verjagt worden sind und die rote Republik proklamiert ist, während die Besitzenden und die Freunde der Ordnung flüchten",

so ist dies ein schlechtes Omen für die Zukunft. Ob nun wahr oder falsch, für den "Retter der Ordnung und des Eigentums" mag es wohl das Signal sein, mit der Intervention zu beginnen, seine Zuaven gegen die "unverbesserlichen Anarchisten" in Marsch zu setzen und den Weg für die zurückkehrenden Fürsten freizumachen. Einem von ihnen, dem Sohn des Großherzogs von Toskana <Ferdinand IV., Sohn Leopold II.>, zu dessen Gunsten letzterer abdankte, ist in den Tuilerien ein "herzlicher Empfang" bereitet worden. An die auf dem Heimweg befindlichen französischen Truppen erging der Befehl, in Italien zu bleiben, so daß die Hindernisse, die erfolgreichen Verhandlungen in Zürich im Wege stehen, bald verschwinden werden.