Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen von Januar bis Dezember 1859

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 13, 7. Auflage 1971, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 535-539.

1. Korrektur.
Erstellt am 04.08.1998

Karl Marx

Unruhe in Deutschland

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5807 vom 2. Dezember 1859]

<535> Paris, 15. November 1859

Jetzt steht eine querelle allemande <deutsche Zänkerei> auf der Tagesordnung, die, so geringfügig sie der breiten Öffentlichkeit erscheinen muß, nichtsdestoweniger eine deutsche und sogar eine europäische Katastrophe zur Folge haben kann. Das kleine Land, das den herrschenden teutonischen Mächten den Vorwand zum Streit liefert, hat sich in der Geschichte der Vereinigten Staaten einen üblen Ruf erworben. Es ist allgemein bekannt, daß bei den Tausenden von Landsknechten, die England in Deutschland kaufte, um sie über den Atlantik zu schicken und auf seine in Aufruhr stehenden Kolonien loszulassen, das Hauptkontingent von Hessen-Kassel gestellt wurde, wo ein patriarchalischer Kurfürst <Friedrich II.> im Tausch gegen seine treuen Untertanen Einkünfte in britischem Gold zu beziehen pflegte. Seit jener denkwürdigen Epoche scheinen die Beziehungen zwischen den Kurfürsten und ihren Untertanen immer feindlicher geworden zu sein, bis 1830 die französische Julirevolution das Signal zu einer Revolution in Hessen-Kassel gab. Diese Revolution wurde heimlich genährt von dem gegenwärtigen Kurfürsten <Friedrich Wilhelm I.>, der sehr begierig war, sich mit seinem geliebten Vater <Wilhelm II.> in die Verantwortung der höchsten Macht zu teilen. Die kleine Revolution bahnte den Weg zur hessischen Verfassung vom 5. Januar 1831, die jetzt die große Kampflosung zwischen Österreich und Preußen bildet; sie hatte diese beiden Mächte 1850 zu der unblutigen Schlacht von Bronzell getrieben und kann, wenn die Umstände dazu beitragen, bald Louis Bonaparte veranlassen, die "deutsche Frage" zu studieren, nachdem er es zuwege gebracht hat, die "italienische Frage" zu einer langweiligen Sache zu machen. Zur <536> Erläuterung des gegenwärtigen Konflikts dürfte eine kurze Skizze der hessischen Verfassung von 1831, der Metamorphosen, die sie durchlaufen hat, und der Ereignisse, welche die rivalisierenden Ansprüche Österreichs und Preußens mit ihrem Schicksal verwickelten, von Nutzen sein.

Mit Ausnahme der Bestimmung über die Wahlmethode, d.h. die Wahl der Abgeordneten durch die alten Stände (Adlige, Bürger, Bauern), kann die hessische Verfassung von 1831 als das liberalste Grundgesetz angesehen werden, das je in Europa verkündet wurde. Es gibt keine andere Verfassung, die die Befugnisse der Exekutive in so engen Grenzen hält, die Verwaltung so abhängig macht von der Legislative und der Justiz eine so weitgehende Kontrolle anvertraut. Zur Erklärung dieser merkwürdigen Tatsache mag gesagt werden, daß die hessische Revolution von 1831 tatsächlich eine Revolution der Juristen, Beamten und Offiziere gegen den Fürsten in Eintracht mit den Unzufriedenen aller "Stände" war. Im ersten Abschnitt wird festgelegt, daß jeder hessische Prinz, der es ablehnen sollte, einen Eid auf die Verfassung zu leisten, von der Thronnachfolge ausgeschlossen ist. Die Bestimmung über die ministerielle Verantwortung, weit davon entfernt, nur eine unbedeutende Phrase zu sein, befähigt die Abgeordneten, über den Staatsgerichtshof sogar jeden Minister abzusetzen, der für schuldig erklärt wird, irgendeinen Beschluß der Legislative falsch ausgelegt zu haben. Dem Fürsten ist hierbei das Recht der Begnadigung entzogen. Er genießt weder das Privileg, die Mitglieder der Verwaltung gegen ihren Willen zu pensionieren, noch sie abzusetzen, da ihnen immer das Recht der Berufung bei den Gerichtshöfen offensteht. Diesen ist das Recht der letzten Entscheidung in allen die Dienstdisziplin der Beamten betreffenden Fragen verliehen. Die Abgeordnetenkammer wählt aus ihren Mitgliedern einen ständigen Ausschuß, der eine Art Areopag darstellt, die Regierung überwacht und kontrolliert und die Beamten wegen Verletzung der Verfassung anklagt, wobei keine Ausnahme gemacht wird, wenn untergeordnete Beamte in Ausführung von Verfügungen einer höchsten Staatsbehörde handeln. Auf diese Weise wurde die Beamtenschaft der Krone gegenüber unabhängig. Andererseits wurden die Gerichtshöfe, die über alle Verordnungen der Exekutive endgültig entscheiden können, allmächtig gemacht. Die vom Volk gewählten Ratsmitglieder der Gemeinden haben nicht nur für die Durchführung der örtlichen Bestimmungen, sondern auch der allgemeinen Gesetze des Landes Sorge zu tragen. Die Offiziere werden vor Eintritt in den Militärdienst durch Eid zum Gehorsam gegenüber der Verfassung verpflichtet und erfreuen sich in jeder Hinsicht der gleichen Privilegien gegenüber der Krone wie die Zivilisten. Das Abgeordnetenhaus, das aus einer einzigen <537> Kammer besteht, besitzt das Recht, bei jedem Konflikt mit der Exekutive die Erhebung aller Gebühren, Steuern und Zölle zu sperren.

Das ist die Verfassung von 183 für Hessen-Kassel, die Kurfürst Wilhelm II., der Vater des jetzt regierenden Fürsten, proklamierte

"in vollem Einverständnis mit den Ständen" und "mit dem herzlichen Wunsche, daß dieselbe als festes Denkmal der Eintracht zwischen Fürst und Untertanen noch in späten Jahrhunderten bestehen möge".

Ein Exemplar der Verfassung wurde dann von der Regierung dem Deutschen Bundestag übersandt, der zwar nicht die Bürgschaft übernahm, sie aber doch als "fait accompli" zu akzeptieren schien. Es war vorauszusehen, daß trotz aller pia desideria <frommen Wünsche> die Verfassungsmaschinerie in Hessen-Kassel nicht reibungslos laufen würde. Von 1832 bis 1848 tagten nicht weniger als zehn Legislativen, von denen nicht einmal zwei es fertig brachten, ihre normale Lebensfrist zu erreichen. Die Revolution von 1848 und 1849 erfüllte die Verfassung von 1831 mit einem demokratischeren Geiste, indem sie die Ständewahl abschaffte, die Nominierung der Mitglieder des Obersten Gerichts in die Hände der Legislative legte und außerdem dem Fürsten die oberste Kontrolle über die Armee aus den Händen nahm und sie dem Kriegsminister übertrug, also einer Persönlichkeit, welche den Vertretern des Volkes verantwortlich war.

Im Jahre 1849 - bei Zusammentritt der ersten nach dem neuen Wahlgesetz gewählten hessischen Legislative - war schon eine allgemeine Reaktion über Deutschland hereingebrochen, aber immerhin waren die Dinge noch in einem Zustand der Gärung. Der alte Deutsche Bundestag war von den Wogen der Revolution hinweggespült worden, während die Deutsche Nationalversammlung und ihre Scheinregierung durch die Bajonette gestürzt worden war. So existierte kein Zentrum des gesamten Deutschen Bundes mehr. Unter diesen Umständen forderte Österreich die Wiederherstellung des alten Bundestages in Frankfurt, wo sein Einfluß immer überwogen hatte, während Preußen eine nördliche Union zu bilden wünschte, zu seinem Nutzen und unter seiner Kontrolle. Österreich, unterstützt von vier deutschen Königreichen und Baden, gelang es tatsächlich, in Frankfurt am Main die Überbleibsel des alten Deutschen Bundestages um sich zu sammeln, während Preußen einen schwachen Versuch machte, mit einigen der kleineren Staaten ein Unionsparlament in Erfurt abzuhalten; Hessen-Kassel mit seiner liberalen Legislative stand natürlich in <538> der ersten Reihe der Gegner Österreichs und war Parteigänger Preußens. Sobald jedoch der Kurfürst festgestellt hatte, daß Österreich von Rußland unterstützt wurde und wahrscheinlich das Rennen gewinnen würde, warf er die Maske ab, erklärte sich für den österreichischen Bundestag und gegen die preußische Union, berief ein reaktionäres Ministerium mit dem berüchtigten Hassenpflug an der Spitze und löste die opponierende Legislative auf, die sich geweigert hatte, Steuern zu bewilligen. Nachdem er vergeblich versucht hatte, die Steuern auf Grund seiner eigenen Autorität zu erheben, und er in den Reihen der Armee, der Beamtenschaft und der Justiz keine Unterstützung gefunden hatte, erklärte er für Hessen-Kassel den Belagerungszustand. Er war aber vorsichtshalber ausgerissen und nach Frankfurt am Main geeilt, um dort unter dem unmittelbaren Schutz Österreichs zu leben. Österreich setzte im Namen des alten, von ihm selbst wiederhergestellten Bundestags ein Bundeskorps in Bewegung, um die hessische Verfassung zu beseitigen und den Thron des Kurfürsten wieder aufzurichten. Preußen seinerseits war gezwungen, für die hessische Verfassung, gegen den Kurfürsten aufzutreten, um seinen Protest gegen die Wiederherstellung des Deutschen Bundestages und seine Absicht zur Schaffung einer nördlichen Union unter seiner Schirmherrschaft zu bekräftigen. So wurde die hessische Verfassung zur Kampflosung zwischen Preußen und Österreich. Die Dinge näherten sich inzwischen einer Krise. Die Vorhut der Bundesarmee und der preußischen Armee standen einander bei Bronzell gegenüber, aber nur, um auf beiden Seiten zum Rückzug zu blasen. Der preußische Ministerpräsident, Herr von Manteuffel, traf mit Fürst Schwarzenberg, dem österreichischen Minister, am 29. November 1850 in Olmütz zusammen, um alle preußischen Ansprüche auf eine eigene Politik hinsichtlich des deutschen Parlaments, Hessen-Kassels und Schleswig-Holsteins zu begraben. Preußen kehrte zum Bundestag als geschlagener und reuiger Sünder zurück. Seine Demütigung wurde noch bitterer durch den Triumphmarsch einer österreichischen Armee an die Küsten der Nordsee. Die hessische Verfassung von 1831 wurde natürlich sang- und klanglos abgeschafft, um zuerst durch den Kriegszustand ersetzt zu werden und in der Folge 1852 durch eine höchst reaktionäre Verfassung, die von Hassenpflug ausgeheckt, vom Kurfürsten zurechtgestutzt und vom Deutschen Bunde verbessert und sanktioniert wurde. Diese Verfassung von 1852 bildete im weiteren den ständigen Zankapfel zwischen der Bevölkerung und dem Kurfürsten; alle Versuche einer Aussöhnung blieben erfolglos. Die jüngsten Ereignisse in Italien und die darauffolgenden Bewegungen in Deutschland wurden von der preußischen Regierung als beste <539> Gelegenheit zur Revanche für die Niederlage in Olmütz und zur Erneuerung seiner alten Feindschaft gegen Österreich angesehen. Preußen weiß, daß Rußland, das 1850 die Waage zu Österreichs Gunsten ausschlagen ließ, sich diesmal in entgegengesetzter Richtung bewegen wird. Bisher sind zwischen den zwei Rivalen nur papierne Geschosse gewechselt worden. Daß die hessischen Verfassungen von 1831 und 1852 lediglich den Vorwand für ihren Kampf bilden, wird durch den einfachen Umstand bewiesen, daß sich Österreich für eine Modifikation der Verfassung von 1852 in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Verfassung von 1831 ausspricht, während Preußen auf der Wiederherstellung der Verfassung von 1831 besteht, nachdem sie gemäß den allgemeinen (monarchistischen) Prinzipien des Deutschen Bundestages umgearbeitet wurde. Das Volk und die Kammern in Hessen-Kassel, die auf Preußens Unterstützung bauen, fordern die Wiederherstellung der alten Verfassung. Das ganze Geschäft, das von interessierten Ratgebern von außen gelenkt wird, kann in einem deutschen Bürgerkrieg enden, wenn sich das deutsche Volk nicht im geeigneten Augenblick gegen "seine beiden Häuser" wendet.