Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 60-64.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Garibaldi in Sizilien

Geschrieben um den 7. Juni 1860.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 5979 vom 22. Juni 1860, Leitartikel]

<60> Nach einer Reihe sich sehr widersprechender Informationen erhalten wir endlich so etwas wie glaubwürdige Nachrichten über die Einzelheiten von Garibaldis bewunderswertem Marsch von Marsala nach Palermo. Es ist wirklich eine der aufsehenerregendsten militärischen Großtaten des Jahrhunderts, und sie wäre fast unerklärlich ohne den Nimbus, welcher einem erfolgreichen revolutionären General vorauseilt. Der Erfolg Garibaldis beweist, daß die königlichen Truppen Neapels noch immer den Mann fürchten, der die Fahne der italienischen Revolution im Kampf gegen die französischen, neapolitanischen und österreichischen Bataillone hochgehalten hat, und daß das Volk Siziliens sein Vertrauen zu ihm und zur nationalen Sache nicht verloren hat.

Am 6. Mai verlassen zwei Dampfer mit ungefähr 1.400 Bewaffneten die Küste Genuas. Diese Männer sind in sieben Kompanien organisiert, die alle offensichtlich dazu bestimmt sind, den Kern eines unter den Insurgenten zu rekrutierenden Bataillons zu bilden. Am 8. landen sie in Talamone, an der toskanischen Küste, und überreden den Kommandanten des dortigen Forts mit irgendeinem Argument, sie mit Kohlen, Munition und vier Feldgeschützen auszurüsten. Am 10. laufen sie im Hafen von Marsala, im äußersten Westen Siziliens, ein und landen mit ihrem gesamten Material trotz der Ankunft zweier neapolitanischer Kriegsschiffe, die nicht in der Lage sind, sie im richtigen Moment daran zu hindern; das Gerücht über eine britische Einmischung zugunsten der Insurgenten hat sich als falsch erwiesen und wird sogar von den Neapolitanern selbst fallengelassen. Am 12. marschierte die kleine Truppe 18 Meilen ins Innere nach Salemi, das an der Landstraße nach Palermo liegt. Die führenden Männer der revolu- <61> tionären Partei scheinen hier Garibaldi getroffen, sich mit ihm beraten und eine Verstärkung der Insurgenten von ungefähr 4.000 Mann gesammelt zu haben. Während man diese organisierte, wurde der Aufstand, der einige Wochen vorher unterdrückt, aber nicht erstickt worden war, im gesamten westsizilianischen Bergland neu entfacht und – wie es sich am 16. zeigte – nicht ohne Erfolg. Am 15. rückt Garibaldi mit seinen 1.400 organisierten Freiwilligen und 4.000 bewaffneten Bauern nordwärts über die Berge auf Calatafimi, wo die Landstraße von Marsala auf die Hauptstraße von Trapani nach Marsala stößt. Die Defileen, die nach Calatafimi durch einen Ausläufer des hohen Monte Cerrara – Monte di Pianto Romano genannt – führen, wurden von drei Bataillonen der königlichen Truppen mit Kavallerie und Artillerie unter General Landi verteidigt. Garibaldi griff sofort diese Stellung an, die zuerst hartnäckig verteidigt wurde. Obwohl Garibaldi bei diesem Angriff gegen die 3.000 oder 3.500 Neapolitaner nur seine Freiwilligen und einen sehr kleinen Teil der sizilianischen Aufständischen einsetzen konnte, wurden die Königlichen nach und nach aus fünf starken Stellungen vertrieben, wobei sie ein Gebirgsgeschütz und zahlreiche Tote und Verwundete verloren. Der Verlust der Garibaldianer wird von ihnen selbst mit 18 Toten und 128 Verwundeten angegeben. Die Neapolitaner behaupten, bei diesem Treffen eine von Garibaldis Fahnen erobert zu haben, aber da sie auf einem der in Marsala verlassenen Dampfer eine zurückgelassene Fahne fanden, ist es ihnen wohl zuzutrauen, dieselbe Fahne in Neapel als Zeichen ihres angeblichen Sieges vorgezeigt zu haben. Ihre Niederlage in Calatafimi zwang sie allerdings nicht dazu, die Stadt noch an demselben Abend zu räumen. Sie verließen sie erst am folgenden Morgen, und danach scheinen sie bis nach Palermo Garibaldi keinen weiteren Widerstand geleistet zu haben. Sie erreichten es zwar, aber in einem furchtbaren Zustand der Auflösung und Unordnung. Die Gewißheit, bloßen "Flibustiers und bewaffnetem Mob" unterlegen gewesen zu sein, rief in ihnen plötzlich wieder die schreckliche Vorstellung von dem Garibaldi ins Gedächtnis, der, während er Rom gegen die Franzosen verteidigte, noch Zeit fand, nach Velletri zu marschieren und der Vorhut der ganzen neapolitanischen Armee heimzuleuchten – der später an den Hängen der Alpen Soldaten mit einem weit größeren Mut besiegte, als sie Neapel jemals hervorgebracht hatte. Der überstürzte Rückzug, ohne den geringsten Versuch eines weiteren Widerstandes, mußte die Mutlosigkeit und die Neigung zum Desertieren, die bereits in ihren Reihen bestand, noch verstärken; und als sie sich durch die Insurrektion, die bei der Zusammenkunft in Salemi vorbereitet worden war, plötzlich umzingelt und ständig beunruhigt sahen, verloren sie ihren <62> Zusammenhalt vollends; von Landis Brigade kehrte nichts als ein wirrer und entmutigter Haufe, zahlenmäßig stark reduziert, in kleinen zersplitterten Gruppen nach Palermo zurück.

Garibaldi rückte am 16. in Calatafimi ein, an dem Tage, an dem Landi es verlassen hatte, marschierte am 17. nach Alcamo (10 Meilen), am 18. nach Partinico (10 Meilen) und über diesen Ort hinaus in Richtung Palermo. Am 19. hinderten ununterbrochene Regengüsse die Truppen am Weitermarsch.

In der Zwischenzeit hatte sich Garibaldi vergewissert, daß die Neapolitaner rund um Palermo Verschanzungen aufwarfen und die alten verfallenen Festungswälle der Stadt an der der Straße nach Partinico zugewandten Seite verstärkten. Sie waren noch immer wenigstens 22.000 Mann stark und so allen Kräften, die Garibaldi gegen sie aufbringen konnte, weit überlegen. Aber sie waren entmutigt, ihre Disziplin war gelockert; viele von ihnen dachten daran, zu den Aufständischen überzulaufen, und ihre Generale waren sowohl ihren eigenen Soldaten als auch dem Feind als Schwächlinge bekannt. Die einzigen verläßlichen Truppen unter ihnen waren die beiden ausländischen Bataillone. Wie die Dinge standen, konnte Garibaldi keinen direkten Frontalangriff auf die Stadt wagen, während die Neapolitaner nichts Entscheidendes gegen ihn unternehmen konnten, selbst wenn ihre Truppen dazu fähig gewesen wären, da sie immer eine starke Garnison in der Stadt zurücklassen mußten und sich niemals zu weit von ihr entfernen durften. Mit einem General vom üblichen Schlage an Garibaldis Stelle hätte dieser Stand der Dinge zu einer Serie von zusammenhanglosen und nicht entscheidenden Gefechten geführt, in denen er vielleicht einen Teil seiner unausgebildeten Truppen im Kampf hätte schulen können, aber in denen auch die königlichen Truppen sehr bald ein gut Teil ihres verlorenen Selbstvertrauens und ihrer Disziplin wiedergewonnen hätten; denn sie wären wahrscheinlich in einigen dieser Treffen zu Erfolgen gekommen. Aber diese Art Kriegführung hätte weder den Erfordernissen einer Insurrektion noch einem Garibaldi entsprochen. Eine kühne Offensive war die einzige einer Revolution angemessene Taktik; ein durchschlagender Erfolg, wie es die Befreiung Palermos wäre, wurde zur Notwendigkeit, sobald die Aufständischen in Sichtweite der Stadt kamen.

Aber wie konnte dies erreicht werden? Hier erwies sich Garibaldi als ausgezeichneter Stratege, dessen Fähigkeiten sich nicht nur in kleinen Partisanenkämpfen zeigten, sondern gleichermaßen in der Durchführung bedeutender Operationen.

Am 20. und an den darauffolgenden Tagen griff Garibaldi die neapolitanischen Vorposten und Stellungen in der Nähe von Monreale und Parco – <63> auf den von Trapani und Corleone nach Palermo führenden Straßen – an und machte so den Feind glauben, daß sein Angriff hauptsächlich gegen die südwestliche Seite der Stadt gerichtet sei und daß hier seine Hauptkräfte konzentriert seien. Durch eine geschickte Kombination von Angriffen und fingierten Rückzügen veranlaßte er den neapolitanischen General, immer mehr Truppen aus der Stadt dorthin zu schicken, bis am 24. ungefähr 10.000 Neapolitaner außerhalb der Stadt, in Richtung Parco, erschienen. Genau das hatte Garibaldi beabsichtigt. Er griff sie sogleich mit einem Teil seiner Kräfte an und wich langsam vor ihnen zurück, um sie so immer weiter von der Stadt abzuziehen, und als er sie über den Hauptrücken der sich durch Sizilien ziehenden Berge – die hier das Conca d'oro (die goldene Schale, das Tal von Palermo) vom Tal von Corleone teilen – bis Piana-dei-Greci gelockt hatte, warf er sofort den Hauptteil seiner Truppen über einen anderen Teil derselben Hügelkette in das Tal von Misilmeri, das sich nahe Palermo, dem Meer zu, öffnet. Am 25. bezog er sein Hauptquartier in Misilmeri, acht Meilen von der Hauptstadt entfernt. Was er weiter mit den 10.000 Mann tat, die auf einer einzigen Linie – einer in den Bergen verlaufenden schlechten Straße – verstrickt waren, darüber sind wir nicht informiert, aber wir können sicher sein, daß er sie gut mit neuen scheinbaren Siegen beschäftigte, um so zu sichern, daß sie nicht zu schnell nach Palermo zurückkämen. Nachdem er so die Verteidiger der Stadt um nahezu die Hälfte reduziert und seine Angriffslinie von der nach Trapani führenden Straße auf die Straße nach Catania verlegt hatte, konnte er zum Großangriff übergehen. Ob der Aufstand in der Stadt Garibaldis Sturm vorausging oder ob er durch sein An-die-Tore-klopfen hervorgerufen wurde, lassen die sich widersprechenden Depeschen offen; sicher ist jedoch, daß am Morgen des 27. ganz Palermo zu den Waffen griff und Garibaldi an die Porta Termini, an der südöstlichen Seite der Stadt, donnerte, wo keine Neapolitaner ihn erwarteten. Alles übrige ist bekannt – die allmähliche Befreiung der Stadt von den Truppen mit Ausnahme der Batterien, der Zitadelle und des königlichen Palastes, das darauffolgende Bombardement, der Waffenstillstand, die Kapitulation. Authentische Einzelheiten aller dieser Vorgänge fehlen noch; aber die wichtigsten Tatsachen sind ziemlich sicher.

Beiläufig sei bemerkt, daß Garibaldis Bewegungen zur Vorbereitung des Angriffs auf Palermo ihn auf einmal zum Strategen ersten Ranges stempeln. Bisher kannten wir ihn nur als sehr geschickten und sehr erfolgreichen Guerillaführer; selbst bei der Belagerung von Rom gab ihm seine Methode, die Stadt durch dauernde Ausfälle zu verteidigen, kaum eine Möglichkeit, sich über dieses Niveau zu erheben. Aber hier stand vor ihm eine aus- <64> gesprochen strategische Aufgabe, und in dieser Prüfung erwies er sich als Meister dieser Kunst. Seine Art, den neapolitanischen Befehlshaber zu dem Schnitzer zu veranlassen, die Hälfte der Truppen aus seiner Reichweite zu schicken, der unvermutete plötzliche Flankenmarsch und das Wiedererscheinen vor Palermo auf der Seite, wo er am wenigsten erwartet wurde, sowie sein energischer Angriff auf die geschwächte Garnison sind Operationen, die viel mehr den Stempel eines militärischen Genies tragen als alles, was während des italienischen Krieges 1859 geschah. Der sizilianische Aufstand hat einen erstrangigen militärischen Führer gefunden; hoffen wir, daß der Politiker Garibaldi, der bald auf der Szene erscheinen muß, den Ruhm des Generals unbefleckt lassen wird.