Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 93-97.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Die britische Verteidigung

Geschrieben um den 24. Juli 1860.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6020 vom 10. August 1860, Leitartikel]

<93> Der Plan für die nationale Verteidigung Englands, der dem Parlament soeben vorgelegt wurde, sieht vor, alle Ausgaben auf die Befestigung der Werften sowie einiger kleinerer Werke zu beschränken, die kaum genügen, die größeren Häfen des Landes vor plötzlichen Angriffen durch kleine feindliche Geschwader zu schützen, und starke, große Forts in Dover und Portland zu errichten, um Flotten und detachierten Schiffen geschützte Ankerplätze zu sichern. Das ganze Geld soll an der Peripherie des Landes, an der einer feindlichen Flotte zugänglichen Küstenlinie angelegt werden; und da es unmöglich ist, die Küste in ihrer ganzen Länge zu verteidigen, werden einige wichtige Punkte, insbesondere die Marine-Arsenale und Werften, ausgewählt. Das Landesinnere soll ganz auf seine eigenen Ressourcen angewiesen sein.

Jetzt, da England einmal zugibt, daß seine hölzernen Mauern, seine Schiffe, es nicht länger schützen und daß es zur nationalen Verteidigung Mittel für Festungsanlagen braucht, ist es vernünftig, daß es zuerst seine Marine-Arsenale, die Wiege seiner Flotte, vor einem Angriff schützt. Daß Portsmouth, Plymouth, Pembroke, Sheerness und Woolwich (oder jeder beliebige andere Ort) so stark gemacht werden müßten, daß sie in der Lage sind, jeden Angriff zur See abzuschlagen und eine gewisse Zeit hindurch gegen eine reguläre Belagerung zu Lande standzuhalten, wird niemand bezweifeln. Aber es ist völlig lächerlich, die Vorsorge gegen eine solche Gefahr ein System der nationalen Verteidigung zu nennen. In der Tat, um den Plan zu dieser Würde emporzuheben, scheint es notwendig zu sein, ihn weit komplizierter und kostspieliger zu machen, als es für den bloßen Schutz der Werften erforderlich ist.

Ein Land wie Frankreich oder Spanien, das einer Invasion an seiner <94> Landgrenze genau so ausgesetzt ist wie Angriffen zur See und feindlichen Landungen an seiner Küste, ist gezwungen, seine Marinedepots zu Festungen ersten Ranges auszubauen. Toulon, Carthagena, Genua, sogar Cherbourg können einem solchen kombinierten Angriff ausgesetzt sein, welcher die Arsenale und Werften von Sewastopol zerstörte. Sie müssen daher eine sehr starke Landfront haben mit detachierten Forts, um die Werften außer Reichweite eines Bombardements zu halten. Aber das trifft für England nicht zu. Angenommen sogar, daß eine Niederlage zur See einen Augenblick Englands maritime Überlegenheit in Frage stellen würde, selbst dann könnte sich eine auf britischem Boden gelandete Invasionsarmee niemals auf offene Kommunikationen verlassen und müßte daher rasch und entschieden handeln. Diese Invasionsarmee wäre nicht imstande, eine reguläre Belagerung durchzuführen; und wäre sie es doch, käme es niemand in den Sinn zu erwarten, daß der Eindringling bis vor Portsmouth marschieren, sich dort ruhig niederlassen und seine Ressourcen in einer sich in die Länge ziehenden Belagerung verbrauchen würde, anstatt, während seine moralische und materielle Überlegenheit auf dem Höhepunkt ist, geradeswegs auf London zu marschieren und sofort eine Entscheidung auf der Hauptlinie anzustreben. Wenn es dahin kommt, daß Truppen und Material, die ausreichen, London anzugreifen und zur gleichen Zeit Portsmouth zu belagern, sicher in England gelandet werden können, dann ist England am Rande des Zusammenbruchs, und keine Landforts um Portsmouth können es retten. Wie für Portsmouth, gilt das auch für die anderen Marine-Arsenale. Mögen die Seefronten so stark wie nur irgend möglich befestigt sein, an den Landfronten ist alles überflüssig, was darüber hinausgeht, den Feind weit genug fernzuhalten, um die Werften vor einem Bombardement zu schützen und sie gegen eine vierzehntägige reguläre Belagerung zu sichern. Aber wenn wir nach dem Überschlag und nach einigen Plänen über die vorgesehenen Verteidigungsanlagen von Portsmouth urteilen sollen, die in der Londoner "Times" erschienen sind, so wird mit Ziegeln und Mörtel, mit Gräben und Brustwehren, mit Geld und im Falle eines Krieges auch mit Menschen ein großer Aufwand getrieben. Der Ingenieurstab scheint förmlich in dieser Üppigkeit von Fortifikationsplänen zu schwelgen, die für ihn bisher ein verbotenes Vergnügen waren. England ist von einer Vegetation von Forts und Batterien bedroht, die so schnell wie Pilze aus der Erde schießen und so üppig wie Schlingpflanzen in einem Tropenwalde wachsen. Die Regierung scheint darauf zu bestehen, daß für das Geld auch etwas gezeigt werden muß - doch das wird der einzige Vorteil all dieser prächtigen Bauten sein.

<95> So lange die Werften nicht gegen einen coup de main <Handstreich> gesichert sind, so lange können Überfälle durchgeführt werden mit dem bloßen Ziel, eine von ihnen zu zerstören und sich dann zurückzuziehen. So dienen die Werften sozusagen als Sicherheitsventile für London. Aber sobald sie gegen einen Angriff durch die Hauptmacht und sogar gegen einen regulären Angriff vierzehn Tage lang geschützt sind - und das ist offensichtlich notwendig - bleibt für eine Invasion kein anderes Objekt als London. Alle unbedeutenden Ecken sind geschützt; begrenzte Überfälle versprechen keinen Erfolg; eine Invasion hat die Chance, entweder England zu vernichten oder selber vernichtet zu werden. So wird London schon durch die bloße Tatsache, daß die Werften befestigt sind, gefährdet. Das zwingt die Invasionsmacht, alle ihre Kräfte sofort auf einen Angriff auf London zu konzentrieren. London muß, wie uns von Lord Palmerston mitgeteilt wird, in einer Feldschlacht verteidigt werden. Angenommen, es sei so; je stärker die Armee dann ist, um so sicherer wird London sein. Woher aber soll diese starke Armee kommen, wenn Portsmouth, Plymouth, Chatham und Sheerness und vielleicht Pembroke in Festungen ersten Ranges von der Größe Cherbourgs, Genuas, Koblenz' oder Kölns verwandelt sind, die Garnisonen von 15.000 bis 20.000 Mann zu ihrer Verteidigung erfordern? Je mehr man also die Werften verstärkt, um so mehr werden London und andere Gebiete geschwächt. Und das nennt man dann nationale Verteidigung.

Auf jeden Fall würde eine einzige verlorene Schlacht das Schicksal Londons entscheiden, und wenn man die ungeheure kommerzielle Zentralisierung des Landes in Betracht zieht und die Stockung, zu der die Okkupation Londons die ganze industrielle und kommerzielle Maschinerie Englands verurteilen würde, so kann kein Zweifel darüber bestehen, daß diese eine Schlacht das Schicksal des ganzen Königreichs entscheiden würde. Und so soll - während vorgesehen ist, zwölf Millionen für die Sicherung der Werften auszugeben - das Herzstück des Landes selbst ungeschützt bleiben und von dem Ergebnis einer Schlacht abhängen!

Es nützt nichts, die Sache zu bemänteln. Man soll Werften auf alle Fälle in vernünftiger Weise befestigen, was für weniger als die Hälfte des Geldes geschehen kann, das jetzt dafür verschleudert werden soll; aber wenn man eine nationale Verteidigung wünscht, so mache man sich sofort daran, London zu befestigen. Es nützt nichts, mit Palmerston zu sagen, daß das unmöglich sei. Es ist dasselbe Gerede, das man hören konnte, als Paris befestigt werden sollte. Die von dem zusammenhängenden Festungswall <96> um Paris eingeschlossene Fläche ist nicht viel kleiner als die von London eingenommene; die Paris umgebende Linie der Forts hat eine Ausdehnung von 27 Meilen, und ein Kreis um London herum, sechs Meilen von Charing Cross entfernt, würde eine Peripherie von 37 Meilen ergeben. Dieser Kreis könnte sehr wohl die durchschnittliche Entfernung der Forts vom Zentrum darstellen, und zehn Meilen mehr werden die Linie nicht zu lang machen, wenn ein geeignetes System von strahlen- und kreisförmigen Eisenbahnverbindungen die rasche Bewegung der Reserven erleichtert. Es ist ganz klar, daß London nicht ohne Vorbereitung verteidigt werden kann, wie dies im "Cornhill Magazine" vorgeschlagen wird, wonach 6 große Forts ausreichen sollen; die Anzahl der Forts muß mindestens 20 betragen; aber andererseits braucht man London nicht in dem pedantischen Stil von Paris zu befestigen, denn es wird niemals einer Belagerung standzuhalten haben. Erforderlich ist nur die Verteidigung gegen einen coup de main, gegen die Kräfte, die eine Invasionsarmee innerhalb von 14 Tagen nach der Landung gegen London aufbringen kann. Die zusammenhängende Umfassung kann entbehrt werden; statt dessen können die Dörfer und Häusergruppen in den Außenbezirken durchaus gute Dienste leisten, wenn der Plan für die Verteidigung von vornherein sorgfältig ausgearbeitet wird.

Wenn London so befestigt ist und die Werften an den Seefronten verstärkt und an den Landfronten gegen einen gewaltsamen, irregulären Angriff, ja selbst gegen eine schwache Belagerung geschützt sind, kann England jeder Invasion trotzen, und das Ganze kann für etwa 15 Millionen Pfund Sterling erreicht werden. Die Werften würden alles in allem nicht mehr als 70.000 reguläre Soldaten und 15.000 Freiwillige erfordern, während der ganze Rest der Linientruppen, der Miliz und der Freiwilligen sagen wir 80.000 Mann Linie und Miliz und 100.000 Freiwillige das befestigte Lager rund um London verteidigen oder eine Schlacht vor seinen Toren annehmen könnte, und das ganze Land nördlich von London die Möglichkeit hätte, frische Freiwilligenkorps und Depots für die Linientruppen und die Miliz zu organisieren. Der Feind würde auf alle Fälle gezwungen werden zu handeln; er könnte, selbst wenn er wollte, sich dem großen befestigten Lager von London nicht entziehen, und ihm bliebe dann nur die Wahl, entweder anzugreifen und geschlagen zu werden, oder zu warten und dadurch täglich die Schwierigkeiten seiner Position zu vergrößern.

Statt dessen wirkt der Plan der Regierung zur nationalen Verteidigung dahin, daß die Garnisonen - wenn die Streitkräfte Englands aus 90.000 <97> Mann Linientruppen und Miliz und 115.000 Freiwilligen bestünden - mindestens 25.000 reguläre Soldaten und 35.000 Freiwillige erfordern würden, so daß zur Verteidigung Londons 65.000 reguläre Truppen und 80.000 Freiwillige blieben, während 35.000 Mann, die am Tage der Schlacht sehr dringend gebraucht werden könnten, ruhig und unbedroht hinter Steinmauern säßen, die niemand anzugreifen beabsichtigte. Aber die Armee würde nicht nur um 35.000 Mann geschwächt, sie würde auch einer befestigten Position beraubt werden, aus der sie nicht herausgetrieben werden könnte, es sei denn durch eine reguläre Belagerung; sie würde 80.000 unerfahrene, nur schlecht befehligte Freiwillige einem Kampf im offenen Felde aussetzen müssen und so unter weit ungünstigeren Umständen kämpfen als die Armee, die, wie oben entwickelt, aufgestellt wäre.