Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 103-108.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Könnten die Franzosen London erstürmen?

Geschrieben Ende Juli 1860.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6021 vom 11. August 1860]

<103> Der Bericht der Britischen Nationalen Verteidigungskommission, der kürzlich in London veröffentlicht wurde, stellt fest, daß, wenn der Kaiser der Franzosen die Absicht hätte, eine feindliche Armee gegen England in Bewegung zu setzen, es "allen verfügbaren Schiffen der Königlichen Marine" unmöglich wäre, sie an der Landung auf irgendeinem Punkt der 2.147 Meilen langen Küste Englands und Wales' zu hindern, gar nicht zu sprechen von der Küste Irlands. Da auch verschiedentlich vor und seit dem Erscheinen des berühmten Pamphlets von de Joinville zugegeben worden ist, daß eine Landung von 100.000 Franzosen oder mehr unter geschickter Führung auf den Britischen Inseln bewerkstelligt werden könnte, ist der einzige wichtige Punkt, der zu erwägen ist, welche Widerstandskraft Großbritannien zu Gebote steht, um sie einer solchen Invasion entgegenzustellen.

Gemäß einer Anweisung des Unterhauses wurde im letzten Mai über die Stärke der britischen Landstreitkräfte Bericht erstattet. Er zeigte folgendes: Gesamtstärke der Regimenter 144.148; Effektivstärke am 1. Mai insgesamt 133.952; eingezogene Miliz 19.333. Als diese Angaben bekanntgegeben wurden, stimmte man in allen Teilen der drei Königreiche ein fast einstimmiges Wehgeschrei an über die Art und Weise, wie die für die Armee bewilligten 75.000.000 Dollar ausgegeben worden waren, da eine Analyse der 144.148 Mann, die als einsatzfähiges Material der Linientruppen angegeben wurden, "die erschreckende Tatsache offenbarte, daß kaum 30.000 Mann Infanterie für offensive oder defensive Zwecke an einem gegebenen Orte zusammengebracht werden könnten".

<104> Herr Sidney Herbert und seine Freunde von den Horse Guards hielten sofort eine Beratung ab, und die Londoner "Times" bemühte sich, die Besorgnis der Bevölkerung zu beruhigen. Sie schrieb:

"Wir nahmen die Gelegenheit wahr, die Zahlen zu überprüfen, auf die sich diese Angaben stützen, und erklärten ausführlich die augenblickliche Lage."

Die Londoner "Times" versucht zu

"zeigen, daß, wenn beabsichtigt war, mit dem Terminus 'Truppen' nur die Linieninfanterie zu bezeichnen, der Sachverhalt ziemlich genau angegeben war; daß jedoch in Wirklichkeit die Streitkräfte in der Heimat starke Divisionen anderer Truppenarten einschlossen, so daß ihre Gesamtstärke keineswegs so gering ist, wie vermutet werden könnte."

Das Resultat sowohl dieser Nervosität auf seiten der Öffentlichkeit als auch der Beratung der Horse Guards war eine völlig neue statistische Aufstellung, welche die militärischen Streitkräfte Großbritanniens in der Heimat auf 323.259 oder 179.111 Mann mehr als die zwei Monate früher herausgegebene Statistik bezifferte. Die Diskrepanz bedarf keiner großen Erklärung. Die ersten Angaben wurden in der Absicht veröffentlicht, zu zeigen, wieviel Mann unter günstigen Umständen und bei vernünftiger Einschätzung zum sofortigen Einsatz bereitstünden; die letzteren, um die Gesamtzahl aller in den Regimentslisten eingetragenen Männer und Jünglinge zu ermitteln, die deshalb einen Anteil an den 75.000.000 Dollar haben, neben 227.179 Freiwilligen und der Miliz, von denen volle 200.000 nicht als Soldaten existieren. Dann sind noch 33.302 Mann aufgezählt, die zu den "Depots" gehören. Damit man uns nicht Vorurteile vorwerfen kann bei der Beschreibung dessen, was das für "Depots" sind, zitieren wir die Londoner "Times" als Autorität:

"Die Truppen in den Depots gehören in Wirklichkeit nicht zu dem heimatlichen Mannschaftsbestand, sondern zum auswärtigen. Sie sind Teile der Bataillone, die außer Landes dienen, und es ist nicht verwunderlich, daß sie für den Dienst in der Heimat verhältnismäßig unwirksam sind."

Kurz - sie sind ein unwirksamer Truppenkörper, der sich aus Rekruten mit nicht mehr als dreimonatiger Dienstzeit zusammensetzt, die alle Vierteljahre oder öfter, sobald man sie anfordert, für die auswärtigen Regimenter eingeschifft werden, und aus alten Invaliden, die als dienstunfähig zu Hause gelassen werden, "so daß das Korps teils durch die ausgedienten und teils durch die noch nicht ausgebildeten Soldaten niemals im Zustande eines regulären Bataillons ist".

Das zu den Depots. Nun zu den Freiwilligen und zur Miliz. Man <105> braucht nur zu wiederholen, daß gegenwärtig mindestens 200.000 Mann bloß auf dem Papier existieren. Herr Maguire bewies kürzlich im Parlament, daß beinahe jedes Milizregiment 200 bis 300 Mann mehr in den Listen der Horse Guards hat, als überhaupt jemals bei Paraden zusammengebracht werden könnten. Herr Sidney Herbert machte ein ähnliches Eingeständnis. Von den irischen Milizregimentern, deren Angehörige durch Unterdrückung und Armut gezwungen sind, sich pünktlicher zu stellen als ihre englischen Nachbarn, haben viele, die jetzt auf 800 Mann geschätzt wurden - das Waterford-Regiment zum Beispiel - nur 400. Wenn die Stärke der Miliz und der Freiwilligen Englands mit 138.560 geschätzt wird, so dürfte das dem entsprechen, was ein unparteiischer Statistiker festzustellen in der Lage ist.

Die reguläre Armee in der Heimat hat nach dem kürzlichen Bericht des Kriegsministeriums eine Stärke von 68.778 Mann. Hierin sind die Königliche Gardekavallerie (1.317), die Königlichen Genietruppen (2.089), das Armee-Sanitätskorps, bestehend aus verabschiedeten Invaliden, der Train und andere, teilweise nicht einsatzfähige Truppen einbegriffen. Um diese Streitfrage zu umgehen, wollen wir annehmen, daß die gesamten 68.000 Mann verfügbar sind. Dies würde, wenn die ganze Miliz und alle Freiwilligen ausgehoben und unter Waffen wären, eine Gesamtstärke von 206.560 Mann ergeben. Wir wollen sogar noch die irische Polizei zu dieser Aufstellung hinzufügen, wodurch sie sich auf etwa 237.000 Mann erhöht. Die nominelle Stärke der regulären Armee und der ausgehobenen Miliz wird im Moment mit 100.000 angegeben, etwa 16.000 Mann mehr als die wirklichen Zahlen; aber nehmen wir die Zahlen, wie sie angegeben sind. Räumen wir ein, daß innerhalb von drei Tagen nach der Landung der Franzosen 15.000 Freiwillige an einem gegebenen Punkt versammelt werden könnten, dann hätte England noch eine Armee von 115.000 Mann zu seiner Verfügung. Man muß berücksichtigen, daß von diesen 25.000 im Gebrauch der Waffen unerfahren sind. Nun würden alle Marine-Arsenale, Zeughäuser und festen Plätze in den Bezirken Extrabesatzungen fordern, denn es sind in den Häfen niemals mehr als 8.000 Marinesoldaten an Land. Irland wird eine Armee erfordern, auch wenn man dem Einfluß der "Nationalen Petition" auf die Erreichung einer freundlichen Haltung zu den Soldaten Mac-Mahons keine große Bedeutung beimißt. Weder die Freiwilligen noch die gesamte Miliz würden ausreichen, auf der Grünen Insel <Irland> bei der Aussicht auf einen Kampf die Ordnung aufrechtzuerhalten. <106> Die Behörden Ihrer Majestät müßten außer der Polizei mindestens 10.000 Reguläre und 25.000 Irreguläre für dieses Land bereitstellen. Das würde alles in allem etwa 55.000 Mann ausmachen und nur 80.000 Soldaten für England und Wales übriglassen, um die Zeughäuser, Rüstkammern und Marine-Arsenale zu schützen. Es ist müßig anzunehmen, daß für diese wichtige Aufgabe weniger als 20.000 Mann dienstfähiger Truppen genügen würden, selbst wenn man zugesteht, daß die ausgedienten oder die unerfahrenen Mannschaften in den Depots imstande sind, sich zu behaupten. So ständen Napoleons 100.000 Franzosen, Zuaven usw. 60.000 Rotröcke gegenüber, von denen kaum mehr als 45.000 den Linientruppen angehörten. Der wahrscheinliche Ausgang eines Zusammenstoßes zwischen den beiden so einander gegenüberstehenden Streitkräften läßt kaum einen Zweifel zu.

Man wird einwenden, daß Frankreich nicht 100.000 Mann ausrüsten und über den Kanal schicken könnte, ohne daß das bekannt würde. Das mag sein; aber England wüßte nicht, wohin der Schlag geführt würde. Es wäre natürlich um die Sicherheit seiner Besitzungen an der Küste des Mittelmeers besorgt und versuchte, seine Garnisonen dort zu verstärken, damit nicht unter dem Vorwand eines Angriffs auf London anderweitige Absichten auf Malta und Gibraltar versteckt werden könnten. England würde mit einigen Schiffen der Kanalflotte 20.000 oder 30.000 Soldaten zu diesen Plätzen schicken, und das würden keine "Freiwilligen" sein, so daß letzteren im wesentlichen die Aufgabe zufiele, dem Feind in der Heimat Widerstand zu leisten. Einige hervorragende Autoren erklären, daß sogar die Erstürmung Londons für England am Ende weniger nachteilig wäre als seine Vertreibung von Malta und Gibraltar.

Aber man wird vorbringen, daß die bloße Ankündigung einer nationalen Gefahr ausreichen würde, jeden Briten im Lande, von den Cheviot Hills bis nach Cornwall aufzurütteln, den Eindringling ins Meer zu werfen. Das ist plausibel. Die Erfahrung lehrt uns jedoch, daß - ganz gleich wie stark der Patriotismus der Massen sein mag - die Tatsache, daß sie, im allgemeinen keine Waffen haben und, wenn sie welche hätten, diese nicht zu gebrauchen verstünden, den Wert ihrer Einsatzfähigkeit erheblich verringert. Knüppel und Heugabeln mögen äußerst gefährliche Waffen für menschliche Lebewesen in den Seven Dials <Armenviertel in London> oder in den Provinzen sein, aber es wäre töricht anzunehmen, daß sie unüberwindlich sind, wenn es gilt, die Zuaven zurückzutreiben. Es kann auch ernstlich daran gezweifelt <107> werden, ob die Mittelklassen, die fast ausschließlich die Freiwilligen-Truppen bilden, ebenso bereit wären, dem Aufruf zur Musterung zu folgen, wenn die Franzosen auf ihrer Heimatinsel stünden, wie sie es sind, wenn sie aufgefordert werden, die Glückwünsche Ihrer Majestät entgegenzunehmen. Auf alle Fälle ist es nicht abwegiger, die Möglichkeit zuzugeben, daß eine Invasionsarmee sich auf 150.000 Mann beziffern könnte, als anzunehmen, daß 120.000 Freiwillige aufgebracht werden könnten, wenn es einer herzlichen Aufforderung vom Buckingham Palast nach einer zwölfmonatigen Werbung nicht gelingt, mehr als 18.300 zusammenzubringen.

Da einige Zweifel hinsichtlich der tatsächlich im Hyde Park gemusterten Truppen geäußert worden sind, zitieren wir einen Artikel aus dem "Manchester Guardian" über die Parade am zweiten Tage. Der Privatkorrespondent, auf den hier Bezug genommen wird, ist Herr Tom Taylor, ein intimer und vertrauter Freund des Obersten McMurdo:

"Unser Privatkorrespondent hat, wie unsere Leser sich erinnern werden, die Zahl nach dem offiziellen Zeugnis des Obersten McMurdo auf 18.300 beziffert, was etwas weniger ist als die in Sir John Burgoynes Berechnung angegebene Zahl. Aber das martialische Verhalten der Freiwilligen machte auf Sir John offensichtlich einen stärkeren Eindruck als ihre bloße Anzahl."

Bei der Schätzung der Streitkräfte, die wahrscheinlich zusammengebracht werden könnten, um Eindringlingen entgegenzutreten, haben wir absichtlich eine sehr großzügige Berechnung zugunsten Großbritanniens angestellt. Unsere Statistik der regulären Armee setzt jeden Mann, dessen Name in den Militärlisten enthalten ist, ob krank oder gesund, als tauglich voraus. Die Miliz und die Freiwilligen sind mit einer Stärke von 115.000 Mann angesetzt worden, was auf diesem Gebiet gut Informierte für übertrieben halten mögen. Die anerkannte Fähigkeit der französischen Truppenoffiziere, die ausgezeichnete Disziplin des französischen Militärs, die allgemeine Überlegenheit der französischen Taktik und auf der anderen Seite die erwiesene Stupidität vieler höchster Offiziere in der englischen Armee, die nachlässige Versorgung der Regulären und Freiwilligen (ein ausgehobenes Milizregiment hatte im Mai dieses Jahres fünf Wochen, nachdem die Meldung erfolgte, noch 135 barfüßige Angehörige), selbst die zugegebene Minderwertigkeit des ensemble <Ganzen> einer englischen gegenüber dem einer französischen kämpfenden Armee - alles dies ist nicht berücksichtigt worden, obwohl es äußerst wichtige Faktoren bei der Erörterung des Gegenstandes sind.

<108> Angesichts dieser Tatsachen scheint es sicher, daß Napoleon, wenn er morgen in einem klug ausgewählten Hafen Englands mit 150.000 oder auch nur 100.000 Mann landete, er "London stürmen" und der "Vernichtung" entgehen könnte, die nach der kürzlichen Behauptung eines Londoner Journals sein unvermeidliches Schicksal wäre, wenn er "seinen Fuß in feindlicher Absicht auf angelsächsischen Boden" setzte.