Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 150-154.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Das Vordringen Garibaldis

Geschrieben um den 1. September 1860.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6056 vom 21. September 1860, Leitartikel]

<150> Mit der Entwicklung der Ereignisse beginnen wir, einen Einblick in den Plan zu erhalten, den Garibaldi zur Befreiung Süditaliens vorbereitet hatte, und je mehr wir davon erfahren, desto mehr bewundern wir die Großartigkeit seiner Ausmaße. In keinem anderen Lande als Italien, wo die nationale Partei so gut organisiert und so vollständig unter der Herrschaft des einen Mannes ist, der mit glänzendem Erfolg sein Schwert für die Sache der italienischen Einheit und Unabhängigkeit gezogen hat, hätte ein solcher Plan entworfen oder dessen Ausführung versucht werden können.

Dieser Plan war nicht nur auf die Befreiung des Königreichs Neapel beschränkt. Gleichzeitig sollte der Kirchenstaat angegriffen werden, um für die Armee Lamoricières und die Franzosen in Rom ebenso Beschäftigung zu finden wie für die Truppen Bombalinos <Franz II.>. Um den 15. August sollten 6.000 Freiwillige, die allmählich von Genua zum Orangengolf (Golfo degli Aranci) an der nordöstlichen Küste der Insel Sardinien übersetzten, zur Küste des Kirchenstaates hinübergebracht werden, während zur gleichen Zeit der Aufstand in den verschiedenen Provinzen des neapolitanischen Festlandes ausbrechen und Garibaldi über die Meerenge bei Messina nach Kalabrien gehen sollte. Einige Berichte über Aussprüche Garibaldis, die Feigheit der Neapolitaner betreffend, und die Nachricht, die der letzte Dampfer brachte, wonach er Neapel betreten habe und dort mit Triumph empfangen worden sei, machen es wahrscheinlich, daß ein Aufstand in den Straßen dieser Stadt ein Teil des Planes war, der aber durch die Flucht des Königs unnötig wurde.

<151> Die Landung im Kirchenstaat wurde, wie schon bekannt, zum Teil durch Viktor Emanuels Vorstellungen verhindert, hauptsächlich jedoch durch die Überzeugung Garibaldis, daß diese Leute nicht in der Lage waren, eine selbständige Kampagne durchzuführen. Er brachte sie deshalb nach Sizilien, ließ einen Teil in Palermo zurück, schickte die übrigen in zwei Dampfern um die Insel herum nach Taormina, wo wir sie bald wiederfinden werden. Inzwischen brachen, wie abgesprochen, die Insurrektionen in den Provinzstädten aus, und zwar in einer Weise, die zeigte, wie gut die revolutionäre Partei organisiert und wie reif das Land für einen Aufstand war. Am 17. August erhob sich Foggia in Apulien. Die Dragoner aus der Garnison der Stadt schlossen sich dem Volke an. General Flores, der den Bezirk befehligte, schickte zwei Kompanien des 13. Regiments, die bei ihrer Ankunft dasselbe taten. Nun kam General Flores selbst in Begleitung seines Stabes, doch er konnte nichts ausrichten und mußte wieder abziehen. Diese Handlungsweise zeigt deutlich, daß Flores selbst der revolutionären Partei keinen ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen beabsichtigte. Wäre es ihm ernst gewesen, dann hätte er statt zwei Kompanien zwei Bataillone geschickt und wäre selbst an der Spitze einer so starken Streitkraft erschienen, wie er sie überhaupt hätte aufbringen können, statt mit einigen Adjutanten und Ordonnanzen zu kommen. In der Tat genügt allein der Umstand, daß die Aufständischen ihm gestatteten, die Stadt wieder zu verlassen, als Beweis, daß zumindest ein stillschweigendes Übereinkommen bestand. Eine andere Bewegung brach in der Provinz Basilicata aus. Hier sammelten die Aufständischen ihre Kräfte bei Carletto Perticara, einem Dorf am Flusse Lagni (dies muß der Ort sein, der in den Telegrammen Corleto genannt wird. <der Ort heißt richtig: Corleto Perticara>)

Von diesem gebirgigen und abgelegenen Gebiet marschierten sie nach Potenza, der Hauptstadt der Provinz, wo sie am 17. mit 6.000 Mann eintrafen. Der einzige Widerstand, auf den sie stießen, ging von etwa 400 Gendarmen aus, die nach einem kurzen Gefecht zerstreut wurden und sich danach einer nach dem anderen einfanden, um sich zu ergeben. Im Namen Garibaldis wurde eine Provinzialregierung gebildet und ein Prodiktator eingesetzt. Man berichtet, daß der königliche Intendant (der Gouverneur der Provinz) dieses Amt annimmt - ein weiteres Zeichen dafür, wie hoffnungslos die Sache der Bourbonen sogar von ihren eigenen Vertretern angesehen wird. Vier Kompanien des 6. Linienregiments wurden von Salerno geschickt, um diese Insurrektion niederzuschlagen; doch als sie nach <152> Auletta - etwa 23 Meilen von Potenza entfernt - kamen, weigerten sie sich weiterzumarschieren und riefen: Viva Garibaldi! Nur diese Bewegungen sind uns in Einzelheiten bekannt geworden. Wir haben aber weitere Nachrichten darüber, daß andere Orte sich dem Aufstand angeschlossen haben, z.B. Avellino, eine Stadt, die keine 30 Meilen von Neapel entfernt liegt, Campobasso in der Provinz Molise (am Adriatischen Meer) und Celenza in Apulien, denn das muß der Ort sein, der im Telegramm Cilenta genannt wird; er liegt auf halbem Wege zwischen Campobasso und Foggia; und nun kommt Neapel selbst noch zu dieser Schar hinzu. Während die neapolitanischen Provinzstädte so zumindest den von ihnen erwarteten Anteil an der Arbeit leisteten, war Garibaldi nicht müßig. Kaum von seinem Abstecher nach Sardinien zurückgekehrt, traf er seine letzten Vorbereitungen zur Überfahrt nach dem Festland. Seine Armee bestand nun aus drei Divisionen, die von Türr, Cosenz und Medici befehligt wurden. Die beiden letzteren, die um Messina und Faro konzentriert waren, wurden beordert, zur nördlichen Küste Siziliens zwischen Milazzo und Faro zu marschieren, als wären sie beauftragt, sich dort einzuschiffen und an der Küste Kalabriens, nördlich der Meerenge, irgendwo bei Palmi oder Nicotera zu landen. Von Türrs Division lagerte die Brigade Eber bei Messina, die Brigade Bixio war ins Innere nach Bronte geschickt worden, um einige Unruhen zu unterdrücken. Beide wurden zugleich nach Taormina befohlen, wo sich die Brigade Bixio am Abend des 18. August zusammen mit den aus Sardinien geholten Männern auf zwei Dampfern, dem "Torino" und dem "Franklin" und einige auf Transportschiffen, die man ins Schlepptau nahm, einschiffte.

Ungefähr zehn Tage vorher hatte Major Missori mit 300 Mann die Meerenge überquert und war sicher durch die Neapolitaner hindurch zu dem hochgelegenen, durchbrochenen Gebiet des Aspromonte gelangt. Hier gesellten sich zu ihm andere kleine Einheiten, die nach und nach über die Meerenge gebracht wurden, und Aufständische aus Kalabrien, so daß er zu dieser Zeit eine Einheit von etwa 2.000 Mann befehligte. Die Neapolitaner hatten seiner kleinen Truppe nach der Landung ungefähr 1.800 Mann hinterhergeschickt, doch diese 1.800 Helden brachten es fertig, niemals mit den Garibaldianern zusammenzustoßen.

Am 19. bei Tagesanbruch landete Garibaldis Expedition (er war selbst an Bord) zwischen Melito und Kap Spartivento am äußersten südlichen Ende Kalabriens.

Sie stieß auf keinen Widerstand. Die Neapolitaner wurden durch die Truppenbewegungen, die mit einer Landung nördlich der Meerenge drohten, so vollständig getäuscht, daß sie das Land südlich davon völlig <153> außer acht ließen. So wurden außer den von Missori zusammengebrachten 2.000 Mann noch 9.000 Mann über die Meerenge geworfen.

Nachdem diese sich mit Garibaldi vereinigt hatten, marschierte er auf Reggio, das von vier Linienkompanien und vier Kompanien Chasseure besetzt war. Diese Garnison muß jedoch einige Verstärkung erhalten haben, da berichtet wird, daß in oder vor Reggio am 21. sehr heftige Kämpfe stattgefunden haben. Nachdem Garibaldi einige Außenwerke erstürmt hatte, weigerte sich die Artillerie im Fort von Reggio weiterzuschießen, und General Viale kapitulierte. Bei diesem Gefecht wurde Oberst de Flotte (der republikanische Vertreter von Paris in der französischen gesetzgebenden Versammlung von 1851) getötet.

Die neapolitanische Flotte in der Meerenge zeichnete sich durch Nichtstun aus. Nachdem Garibaldi gelandet war, telegraphierte ein Flottenkommandant nach Reggio, daß es für die Schiffe unmöglich sei, irgendwelchen Widerstand entgegenzusetzen, da Garibaldi acht große Kriegsschiffe und sieben Transportschiffe bei sich habe! Auch bei der Überfahrt der Division des Generals Cosenz, die am 20. oder 21. an der schmalsten Stelle der Meerenge, zwischen Scilla und Villa San Giovanni, stattgefunden haben muß, gerade an der Stelle, wo Schiffe und Truppen der Neapolitaner am stärksten konzentriert waren, leistete diese Flotte keinen Widerstand. Die Landung von Cosenz war ein großartiger Erfolg. Die beiden Brigaden Melendez und Briganti (die Neapolitaner sagen statt Brigaden Bataillone) und das Fort von Pezzo (nicht Pizzo, wie einige Telegramme berichten; dieser Ort liegt viel weiter nördlich, noch oberhalb Monteleone) ergaben sich ihm, wie es scheint, ohne einen Schuß. Das soll am 21. geschehen sein; an dem Tage, an dem auch Villa San Giovanni nach kurzem Gefecht besetzt wurde.

So hatte sich Garibaldi in drei Tagen zum Herrn über die gesamte Küste an der Meerenge einschließlich einiger befestigter Punkte gemacht; die wenigen noch von Neapolitanern besetzten Forts waren für diese jetzt nutzlos.

Die zwei folgenden Tage scheinen mit der Überfahrt der restlichen Truppen und des Materials ausgefüllt gewesen zu sein - zumindest hören wir nichts über weitere Gefechte bis zum 24., an dem von einem heftigen Kampf bei einem Ort berichtet wird, den man in den Telegrammen Piale nennt, den wir aber auf der Karte nicht finden können. Es könnte der Name eines reißenden Gebirgsbaches sein, dessen Schlucht den Neapolitanern als Verteidigungsposition gedient haben mag. Der Ausgang dieses Treffens soll nicht entschieden worden sein. Nach einiger Zeit machten die <154> Garibaldianer den Vorschlag einer Waffenruhe, den der neapolitanische Kommandant an seinen befehlshabenden General in Monteleone weiterleitete, Doch ehe eine Antwort eintreffen konnte, scheinen die neapolitanischen Soldaten zu dem Schluß gekommen zu sein, daß sie durchaus genug für ihren König getan hätten, liefen auseinander und ließen die Batterien unbesetzt.

Der Hauptteil der Neapolitaner unter Bosco scheint die ganze Zeit hindurch ruhig in Monteleone, mehr als dreißig Meilen von der Meerenge entfernt, geblieben zu sein. Anscheinend waren sie nicht sehr erpicht darauf, gegen die Angreifer zu kämpfen. Deshalb ging General Bosco nach Neapel, um sechs Bataillone Chasseure herbeizuholen, die nächst den Garden und den ausländischen Truppen die zuverlässigsten Teile der Armee sind. Ob diese sechs Bataillone von dem Geist der Niedergeschlagenheit und Demoralisierung, der in der neapolitanischen Armee herrscht, angesteckt wurden, wird sich erweisen. Sicher ist, daß weder sie noch irgendwelche anderen Truppen imstande sind, Garibaldi davon abzuhalten, siegreich und höchstwahrscheinlich ungehindert nach Neapel zu marschieren, um die königliche Familie geflohen und die Stadttore für seinen triumphalen Einzug offen zu finden.