Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 182-186.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Karl Marx

Preußische Angelegenheiten -
[Preußen, Frankreich und Italien]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6076 vom 15. Oktober 1860]

<182> Berlin, 27. September 1860

Der Prinzregent, der, wie ich Ihren Lesern bereits mitteilte, seit Erlangung der höchsten Macht im Innersten seines Herzens ein halsstarriger und verbissener Legitimist ist - trotz der prächtigen Zeichen des Liberalismus, mit denen ihn die amtlichen Propheten des preußischen Narrenparadieses ausschmückten -, bekam gerade eine Gelegenheit, um seinen lange unterdrückten Gefühlen öffentlich Luft zu machen. Es ist eine merkwürdige Tatsache, aber nichtsdestoweniger ist es Tatsache, daß der Prinzregent von Preußen gegenwärtig den Garibaldianern die Festung Messina versperrt und diesen wichtigen militärischen Stützpunkt für seinen geliebten Bruder, den König Bombalino <Franz II.> von Neapel, erhalten hat. Der preußische Botschafter in Neapel, Graf von Perponcher - eine Persönlichkeit, für ihren unerschütterlichen Legitimismus ebenso berüchtigt wie Baron von Canitz, der preußische Botschafter in Rom -, war wie die meisten seiner Kollegen dem König Bombalino nach Gaeta gefolgt, wo die preußische Kriegskorvette "Lorelei" zum Schutz der deutschen Untertanen stationiert war. Am 15. September war die Zitadelle von Messina im Begriff zu kapitulieren. Die Offiziere hatten sich für Viktor Emanuel erklärt und eine Abordnung nach Gaeta entsandt, um dem König mitzuteilen, daß der Platz nicht mehr zu halten sei. Am folgenden Tage wurde diese Abordnung von der Kriegskorvette "Lorelei" nach Messina zurückgebracht mit einem preußischen Kommissar an Bord, der sich bei Ankunft des Schiffes sofort zur Zitadelle begab, wo er mit dem neapolitanischen Kommandanten eine lange Unterredung hatte. Neben seiner persönlichen <183> Beredsamkeit brachte der preußische Vertreter ein Bündel Depeschen des Königs mit, die den General zum Widerstand ermutigten, gegen jeden Vorschlag der Übergabe - selbst unter den günstigsten Bedingungen - energisch zu protestieren, da das Fort noch für mehrere Monate genügend versorgt sei. Während des Aufenthalts des preußischen Kommissars wurden Rufe wie "Evviva il Re!" <"Es lebe der König!"> aus der Zitadelle vernommen, und als er abfuhr, wurden die zur Festlegung der Kapitulationsbedingungen begonnenen Verhandlungen sofort abgebrochen. Als diese Nachricht eintraf, beeilte sich Graf Cavour, in Berlin eine Beschwerde vorzubringen wegen "des Mißbrauchs der preußischen Flagge" und wegen der Verletzung des Versprechens, im revolutionären Krieg Italiens vollkommene Neutralität zu wahren. Obwohl diese Beschwerde berechtigt war, war Graf Cavour von allen der ungeeignetste, sie vorzubringen. Herr von Schleinitz, dessen Depeschen während des Krieges von 1859 eine gewisse Berühmtheit erlangt hatten wegen ihres speichelleckerischen Stils, ihrer schwankenden Urteile und der unvergleichlichen Geschicklichkeit, viel mehr Wert auf Weitschweifigkeiten zu legen als auf ihre Hauptangelegenheiten - Herr von Schleinitz benutzte eifrig die Gelegenheit, um sich bei dem Prinzregenten einzuschmeicheln und einmal seine demütige, gedämpfte Stimme mit den schrillen Tönen der Anmaßung zu vertauschen. Er erteilte dem Grafen Cavour einen entschiedenen Tadel und erklärte einfach, daß Sizilien noch keine sardinische Provinz sei, daß die vertraglichen Verpflichtungen täglich durch den Hof von Turin verletzt würden und daß, falls Cavour gegen fremde Einmischung in Italien protestieren wolle, er seinen Protest besser in den Tuilerien vorbringen solle.

Die Abberufung des französischen Botschafters aus Turin wird hier als ein durchsichtiger Winkelzug angesehen, da es allgemein bekannt ist, daß sofort nach der Begegnung Louis Bonapartes mit den Herren Farini und Cialdini in Chambéry der letztere mit der Leitung der piemontesischen Invasion gegen den Kirchenstaat betraut wurde. Diese Invasion war in Chambéry mit der Absicht geplant, Garibaldi das Spiel aus der Hand zu nehmen und es in die Hände von Cavour, dem gefügigsten Diener des französischen Kaisers, zu legen. Der revolutionäre Krieg in Süditalien wird bekanntlich in den Tuilerien nicht als die zufällige Lawine eines ins Rollen gekommenen Steines betrachtet, sondern als die überlegte Handlung der unabhängigen italienischen Partei, die, seit Louis-Napoleon die via sacra betreten, stets den Aufstand des Südens als das einzige Mittel proklamierte, den <184> Alpdruck des französischen Schutzes zu beseitigen. Tatsächlich erklärte Mazzini in seiner Proklamation an das italienische Volk vom 16, Mai 1859 deutlich:

"Mit angemessener Zurückhaltung mag sich das Volk des Nordens um das Banner Viktor Emanuels scharen, wo der Österreicher auch lagert oder sich in der Nähe befindet; die Insurrektion des Südens muß einen anderen und unabhängigeren Verlauf nehmen. Erhebung, gemeinsame Erhebung, die Errichtung einer provisorischen Regierung, Bewaffnung, die Wahl eines strategischen Punktes, wo man die Position halten und wohin man die Freiwilligen aus dem Norden, aus Neapel und Sizilien ziehen kann, mag die Sache Italiens noch retten und seine Macht herstellen, die ein nationales Lager repräsentiert. Dank diesem Lager und den Freiwilligen des Nordens kann Italien am Ende des Krieges, wie auch die Absicht seiner Initiatoren sein möge, doch noch der Herr seines eigenen Geschickes werden ... Eine solche Manifestation des Volkswillens würde jede neue Teilung Italiens, jeden Import neuer Dynastien, jeden Frieden am Adige oder Mincio, jede Aufgabe eines Teils italienischen Bodens ausschalten, und der Name Roms ist vom Namen Italiens untrennbar. Dort in der heiligen Stadt steht das Palladium unserer nationalen Einheit. Es ist Roms Pflicht, die sardinische Armee nicht durch einen Haufen von Freiwilligen zu verstärken, sondern dem kaiserlichen Frankreich zu beweisen, daß die Stütze des päpstlichen Despotismus in Rom niemals als Schwertträger der italienischen Unabhängigkeit anerkannt werden wird ... Wenn Rom seine Pflichten vergißt, müssen wir für die Römer handeln. Rom repräsentiert die Einheit des Vaterlands. Sizilien, Neapel und die Freiwilligen des Nordens müssen seine Armee darstellen."

Das waren die Worte Mazzinis im Mai 1859, von Garibaldi wiederholt, als er an der Spitze der in Sizilien und Neapel geschaffenen Volksarmee versprach, er werde die Einheit Italiens von der Spitze des Quirinals verkünden.

Sie werden sich daran erinnern, wie Cavour von Anfang an alles tat, was in seiner Macht stand, um Garibaldis Feldzug Schwierigkeiten zu bereiten; wie er nach dem ersten errungenen Erfolg des Volkshelden zusammen mit zwei bonapartistischen Agenten La Farina nach Palermo sandte, um den Eroberer seiner Diktatorrolle zu berauben; wie später jede militärische Bewegung Garibaldis bei Cavour zuerst auf diplomatische und schließlich auf militärische Gegenbewegungen stieß. Nach dem Fall von Palermo und dem Vormarsch auf Messina war Garibaldis Popularität unter dem Volk und der Armee in Paris so groß, daß es Louis-Napoleon für ratsam hielt, die Methode des Beschwatzens zu versuchen. Als General Türr, seinerzeit aus dem aktiven Dienst entlassen, sich nach Paris begeben hatte, wurde er mit kaiserlichen Schmeicheleien völlig überschüttet. Er war nicht nur ein geehrter Gast im Palais Royal, sondern wurde sogar zu den <185> Tuilerien zugelassen, wo der Kaiser seine grenzenlose Begeisterung für seinen "annektierten" Untertanen, den Helden von Nizza, zum Ausdruck brachte, und mit Geschenken seines Wohlwollens, wie gezogenen Kanonen etc., überhäuft. Gleichzeitig wurde Türr die Meinung des Kaisers eingeprägt, daß Garibaldi, nachdem er sich Neapels und der neapolitanischen Flotte versichert hatte, nichts Besseres tun könnte, als gemeinsam mit den ungarischen Flüchtlingen eine Landung in Fiume zu versuchen und dort das Banner einer ungarischen Revolution aufzupflanzen. Louis-Napoleon ging jedoch von ganz falschen Voraussetzungen aus, als er annahm, daß Türr der Mann war oder sich auch nur einbildete, der Mann zu sein, der die geringste Gewalt über Garibaldis Tätigkeit haben könnte. Türr, den ich persönlich kenne, ist ein tapferer Soldat und ein intelligenter Offizier, aber außerhalb der Sphäre seiner Militärtätigkeit ist er eine bloße Null, noch unter dem Durchschnitt gewöhnlicher Sterblicher, dem nicht nur Geistesbildung und ein kultivierter Intellekt fehlen, sondern auch die natürliche Schlauheit und der Instinkt, die Ausbildung, Studium und Erfahrung ersetzen können. Er ist mit einem Wort ein bequemer, sehr braver Bursche mit einem außergewöhnlichen Grad an Leichtgläubigkeit, aber gewiß nicht der Mann, der jemanden politisch beherrschen kann, schon gar nicht Garibaldi, der neben seinem Feuerkopf noch ein Teil jenes scharfsinnigen italienischen Genius besitzt, den man bei Dante und Machiavelli findet. Türr hat sich also als eine Fehlkalkulation erwiesen; zumindest spricht man in den Kreisen der Tuilerien so von ihm. Man versuchte es mit Kossuth und schickte ihn zu Garibaldi, um diesen zu den Ansichten des Kaisers zu überreden und ihn vom rechten Weg abzubringen, der nach Rom zeigt. Garibaldi benutzte Kossuth als Werkzeug zum Schüren der revolutionären Begeisterung und ließ ihn deshalb mit Ovationen des Volkes feiern, aber er wußte genau zu unterscheiden zwischen seinem Namen, der die Sache des Volkes repräsentierte, und seiner Mission, die eine bonapartistische Falle verbarg. Kossuth kehrte völlig niedergeschlagen nach Paris zurück. Um aber ein Unterpfand seiner Treue für die kaiserlichen Interessen zu liefern, hat er jetzt, wie die "Opinion nationale", der Moniteur Plon-Plons, berichtet, einen Brief an Garibaldi gesandt, worin er den letzteren auffordert, sich mit Cavour zu versöhnen, von jedem Anschlag auf Rom abzusehen, um Frankreich, die wahre Hoffnung der unterdrückten Nationalitäten, nicht abzustoßen, und sogar Ungarn aus dem Spiel zu lassen, da dieses Land für eine Insurrektion noch nicht reif sei.

Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß hier in Berlin die Aktien des ministeriellen Liberalismus infolge der bevorstehenden Warschauer <186> Konferenz stark gefallen sind, wo sich nicht nur die Herrscher von Gottes Gnaden die Hände schütteln werden, sondern auch ihre jeweiligen Außenminister. Fürst Gortschakow, Graf Rechberg und unser Herr von Schleinitz sollen sich in der behaglichen Ecke eines glänzenden Vorzimmers treffen, um dort der zukünftigen Geschichte der Menschheit eine orthodoxe Wendung zu geben.

Die Verhandlungen Preußens mit Österreich bezüglich eines neuen Handelsvertrages zwischen dem Zollverein und Österreich, wie ihn der Vertrag vom 19. Februar 1853 anzukündigen schien, können nunmehr als abgebrochen angesehen werden, da das preußische Kabinett mit Bestimmtheit erklärte, daß keinerlei Angleichung oder auch nur Annäherung der Tarife in Frage käme.