Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 187-190.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Friedrich Engels

Die Freiwilligen-Artillerie

Geschrieben in der ersten Oktoberhälfte 1860.
Aus dem Englischen.


["The Volunteer Journal, for Lancashire and Cheshire" Nr. 6 vom 13. Oktober 1860]

<187> Die Frage der Freiwilligen-Artillerie ist von großer Bedeutung und sollte ausführlich diskutiert werden, um so mehr, als die Rolle, die sie bei der Verteidigung des Landes spielen soll, bisher nicht klar bestimmt zu sein scheint.

Es ist einleuchtend, daß die erste Frage, die gelöst werden muß, der eigentliche Aktionsbereich der Freiwilligen-Artillerie ist. Bevor dies nicht getan ist, wird es niemals ein einheitliches Ausbildungssystem in den verschiedenen Korps geben; und da die Artilleriewissenschaft die mannigfaltigsten Gebiete umfaßt, wäre es in der Tat schwierig, theoretisch und praktisch alle freiwilligen Offiziere und Mannschaften das Ganze zu lehren. Die verschiedenen Korps würden, wenn im Kampf benötigt, mit sehr unterschiedlichen Qualifikationen für die von ihnen zu erfüllenden Aufgaben auftreten, und manche Kompanie wäre, wenn man ihr eine besondere Aufgabe gäbe, zu wenig qualifiziert, sie durchzuführen.

In den folgenden Betrachtungen maßen wir uns keineswegs an zu bestimmen, was die Freiwilligen-Artillerie sein oder nicht sein sollte; wir wollen nur einige der Bedingungen zeigen, unter denen sowohl die Freiwilligen- als auch jede andere Artillerie formiert werden muß, um den Boden für jene Diskussion zu bereiten, zu der wir auffordern und aus der schließlich ein Verständnis für das eigentliche Tätigkeitsgebiet der Freiwilligen-Artilleriekorps entstehen muß.

Die gesamte Artillerie ist unterteilt in Feldartillerie, die mit der Infanterie und Kavallerie im Feld operieren muß und mit pferdebespannten Geschützen ausgerüstet ist, sowie in Belagerungs- oder Festungsartillerie, die schwere Geschütze in ortsfesten oder geschützten Batterien für den <188> Angriff auf befestigte Plätze oder für deren Verteidigung bedient. Wenn in einer regulären Armee die Länge der Dienstzeit der Soldaten und die spezialwissenschaftliche Ausbildung der Offiziere es möglich machen, den ganzen Truppenkörper in beiden Zweigen der Artillerie wenigstens so weit auszubilden, daß im Notfalle jede Kompanie zu jeder Aufgabe eingesetzt werden kann, so ist dies bei Freiwilligen nicht der Fall, die - Offiziere wie Soldaten - nur einen Teil ihrer Zeit militärischen Pflichten widmen können. In Frankreich, Österreich und Preußen wird die Feldartillerie ganz von der Festungs- oder Belagerungsartillerie getrennt. Wenn dies in regulären stehenden Armeen der Fall ist, muß es sicherlich Ursachen dafür geben, die weit stärker noch in einer Freiwilligen-Armee wirksam sind.

Tatsache ist, daß sich die bloße Bedienung einer Feldkanone wenig von der eines schweren Geschützes in einer Batterie unterscheidet, so daß die Soldaten einer Freiwilligen-Kompanie leicht beides lernen könnten. Aber die Aufgaben der Offiziere sind ihrer Natur nach in beiden Fällen so verschieden, daß nichts als eine berufliche Ausbildung und eine lange Praxis jemanden qualifizieren können, beides gleich gut auszuführen. Die Haupteigenschaften eines Offiziers der Feldartillerie sind: ein schneller militärischer Überblick; eine gründliche Einschätzung des Bodens und der Entfernungen; eine perfekte Kenntnis der Wirkung seiner Geschütze, die ihn befähigt, einem Angriff bis zum letzten Augenblick standzuhalten, ohne irgendeines der Geschütze zu verlieren; eine lange Erfahrung mit der Leistungsfähigkeit von Pferden und ihrer Behandlung in der Schlacht; und schließlich eine ganze Menge Kühnheit, verbunden mit Klugheit. Für einen Offizier der Festungs- oder Belagerungsartillerie sind wissenschaftliche Bildung, theoretische Kenntnisse in allen Zweigen der Artillerie, der Fortifikation, der Mathematik und Mechanik erforderlich. Weiterhin die Fähigkeit, alles nutzbringend anzuwenden, geduldige und scharfe Aufmerksamkeit für den Bau und die Ausbesserung von Erdwerken und die Wirkung konzentrischen Feuers, sowie Mut, eher zäh als draufgängerisch. Man gebe dem Hauptmann einer Neunpfünderbatterie das Kommando über eine Bastion, und es wird auch den besten Mann ein gut Teil Übung kosten, bevor er der Aufgabe gewachsen ist; man stelle einen Offizier, der eine Reihe von Jahren nur bei Belagerungsgeschützen Dienst tat, an die Spitze einer Batterie bespannter Artillerie, und es wird eine ganze Weile dauern, bis er seine methodische Langsamkeit abgelegt und die Entschlossenheit wiedererlangt hat, die seine neue Waffe erfordert. Mit Unteroffizieren, denen die wissenschaftliche Ausbildung ihrer Vorgesetzten fehlt, werden die Schwierigkeiten noch größer sein.

<189> Von den beiden scheint der Festungsartillerist am leichtesten auszubilden zu sein. Zivilingenieure besitzen alle wissenschaftlichen Vorkenntnisse, die die Sache erfordert und werden sehr bald lernen, die ihnen vertrauten wissenschaftlichen Prinzipien auf die Artillerie anzuwenden. Sie werden leicht die Handhabung der verschiedenen Mechanismen, die zur Bewegung schwerer Geschütze gebraucht werden, den Aufbau der Batterien und die Fortifikationsregeln lernen. Sie bilden deshalb die Schicht, aus der die Offiziere der Freiwilligen-Artillerie hauptsächlich ausgewählt werden sollten, und diese werden besonders für die Festungsartillerie geeignet sein. Dasselbe gilt für die Unteroffiziere und Kanoniere. Alle Menschen, die viel mit Maschinen zu tun gehabt haben, wie Ingenieure, Mechaniker und Grobschmiede, werden das beste Material bilden, und deshalb müßten eigentlich die großen Fabrikzentren die besten Korps formieren. Schießübungen mit schweren Geschützen mögen im Innern des Landes unmöglich sein; die See ist jedoch nicht so sehr weit von unseren Binnenstädten in Lancashire und Yorkshire entfernt, daß nicht hin und wieder zu diesem Zweck Abstecher zur Küste organisiert werden könnten. Außerdem ist das eigentliche Übungsschießen mit schweren Geschützen in der Batterie, wo man den ersten Aufschlag jedes Geschosses sehen kann und die Soldaten sich selbst korrigieren können, nicht von solch überragender Bedeutung.

Es gibt ein weiteres Argument gegen den Versuch, eine Freiwilligen-Feldartillerie aufzustellen: die Kosten der Geschütze und ihrer Bespannung. Einige Kompanien mögen dann, wenn sie sich zusammentun, wirklich in der Lage sein, die Kosten der Bespannung einiger Geschütze für die Sommermonate aufzubringen und mit diesen abwechselnd zu exerzieren; jedoch werden dadurch weder Soldaten noch Offiziere zu kriegstüchtigen Feldartilleristen ausgebildet. Die Kosten, eine Feldbatterie mit sechs Geschützen auszurüsten, sind, allgemein berechnet, ungefähr gleich denjenigen, die man benötigt, um ein ganzes Infanteriebataillon aufzustellen. Keine Kompanie der Freiwilligen-Artillerie könnte sich solche Ausgaben leisten. Bedenkt man, was für eine Schmach der Verlust eines Geschützes auf dem Schlachtfelde bedeutet, dann kann man wohl bezweifeln, daß eine Regierung jemals geneigt sein würde, im Falle einer Invasion die Freiwilligen-Artillerie mit Feldgeschützen, Pferden und Fahrern entsprechend den Bedingungen auszustatten, nach denen die Freiwilligen mit Handfeuerwaffen versehen werden.

Aus diesen und anderen Gründen kommen wir zu der Schlußfolgerung, daß der eigentliche Bereich für die Freiwilligen-Artillerie die Bemannung der schweren Geschütze in ortsfesten Batterien an der Küste ist. Ein Ver- <190> such mit der Feldartillerie mag in Binnenstädten unvermeidlich sein, um das Interesse an der Bewegung aufrechtzuerhalten, und es wird sicherlich weder Offizieren noch Soldaten schaden, mit der Handhabung leichter bespannter Geschütze so weit wie möglich vertraut gemacht zu werden; jedoch bekennen wir, daß wir aus unserer eigenen persönlichen Erfahrung mit der Waffe sehr an ihrer schließlichen Tüchtigkeit im Felddienst zweifeln. Immerhin werden sie vieles gelernt haben, was ihnen ebenso nützlich beim Gebrauch schwerer Geschütze sein wird, und sie werden bald der Aufgabe gewachsen sein, wenn man sie an diesen einsetzt.

Es gibt einen anderen Punkt, auf den wir hinweisen wollen. Die Artillerie ist weit mehr als die Infanterie und die Kavallerie eine im wesentlichen wissenschaftliche Waffengattung, und als solche wird ihre Wirksamkeit hauptsächlich von den theoretischen und praktischen Kenntnissen der Offiziere abhängen. Wir bezweifeln nicht, daß jetzt Major Griffiths' "Artillerist's Manual" im Besitz eines jeden Offiziers der Freiwilligen-Artillerie sein wird. Der Inhalt des Buches zeigt, mit welcher Mannigfaltigkeit des Stoffes ein Artillerieoffizier und sogar ein Unteroffizier sich vertraut machen muß, bevor er irgendwelche Fertigkeiten in seiner Waffe vorweisen kann. Jedoch ist das Buch nur ein kurzer Abriß dessen, was ein tüchtiger Artillerist wissen sollte. Neben der regulären, für Infanterie und Artillerie gleichen Kompanie- und Bataillonsausbildung sind es die Kenntnisse der vielen verschiedenen Kaliber der Geschütze, die Kenntnisse ihrer Lafetten und Bettungen, ihrer Ladungen und Schußweiten sowie der verschiedenen Geschosse; weiterhin sind es der Aufbau der Batterien und die Wissenschaft von der Fortifikation, ständige und Feldbefestigungen, die Munitions- und Feuerwerksherstellung, und schließlich jene Wissenschaft der Geschützkunst, die im gegenwärtigen Augenblick so vortrefflich neue Ergänzungen durch die Einführung von gezogenen Geschützen erhält. Alle diese Dinge müssen sowohl theoretisch als auch praktisch gelernt werden, und sie sind alle von gleicher Bedeutung; denn wann auch immer die Freiwilligen-Artillerie zum aktiven Dienst aufgerufen wird sie muß in die Klemme geraten, wenn nicht alle diese Zweige berücksichtigt worden sind. Von allen Freiwilligen-Korps ist die Artillerie deshalb dasjenige, bei dem die Tüchtigkeit der Offiziere von größter Bedeutung ist, und wir wünschen und glauben, daß sie sich bis zum äußersten anstrengen werden, um jene praktischen Erfahrungen und theoretischen Kenntnisse zu erlangen, ohne die sie am Tage der Bewährung als mangelhaft befunden würden.