Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1860

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 191-194.

1. Korrektur
Erstellt am 18.09.1998

Karl Marx

Kriegsvorbereitungen in Preußen

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 6097 vom 8. November 1860]

<191> Berlin, 23. Oktober 1860

Ärger und Furcht, die unsere Liberalen wegen der Teilnahme des Prinzregenten am Warschauer Kongreß fühlen, reagieren sich - wie immer beim Kummer echter preußischer Liberaler - in kränkenden Beschimpfungen Österreichs und seiner neuen Verfassung ab. Vor allem wird Franz Joseph niemals verziehen werden, diese Herren ihres besten Trostes und des ständigen Themas ihrer wortreichen Selbstgerechtigkeit beraubt zu haben, nämlich des Gegensatzes zwischen dem "konstitutionellen" Preußen und dem "absolutistischen" Österreich. Das österreichische Patent ist natürlich nicht nur Spitzfindigkeiten, sondern auch ernsthaften Bedenken jeder Art ausgesetzt. Die Umstände, unter denen, und die Hand, durch die das Geschenk verliehen wurde, geben ihm eher den Charakter einer Ausflucht als einer wahren Konzession. Bereits einmal, am 4. März 1849, verkündete Franz Joseph den Entwurf einer Verfassung, nur, um sie im folgenden Jahr, nachdem sich das Kriegsglück für seine Seite entschieden hatte, zu widerrufen. Aber schließlich gibt es in der Geschichtschronik kein Beispiel dafür, daß Fürsten jemals von sich aus ihre Privilegien eingeschränkt und den Forderungen des Volkes nachgegeben hätten, es sei denn unter starkem äußeren Druck. Es gibt kein Beispiel dafür, daß sie ihr Wort gehalten hätten, wenn sie es wagen konnten, ihre Eide und Versprechen ungestraft zu brechen. Die alte ungarische Verfassung ist in ihrer Vollständigkeit nicht wiederhergestellt worden, da die beiden wichtigsten Rechte des Landtages in Pest, über Geldbeschaffung und Aushebung der Truppen zu entscheiden, dem Reichsrat in Wien übertragen wurden, der dazu bestimmt ist, den Reichstag des ganzen Kaiserreiches zu bilden. Dieser sieht sich mit Attributen ausgestattet, die geeignet sind, eine ständige Quelle des Streites <192> zwischen ihm und den verschiedenen nationalen und provinzialen Landtagen zu werden. Aus den Verfassungen der deutsch-slawonischen Provinzen, die auf allgemeinste und unbestimmteste Umrisse beschränkt sind, kann man alles oder nichts machen. Der größte Fehler, der seitens der Magyaren an dem Patent gefunden wurde, ist die Trennung Kroatiens, Serbiens und Transsylvaniens von Ungarn und die Bewilligung von eigenen Landtagen für diese Provinzen. Wenn man sich aber die Ereignisse von 1848/49 ins Gedächtnis zurückruft, kann man mit Recht bezweifeln, ob die Kroaten, Slawonen, Serben und Walachen geneigt sein werden, die Beschwerde zu teilen und die Ungarn durch ihre Unterstützung zu bestärken. Die Wiener Staatsmänner scheinen in diesem Falle mit dem Nationalitätenprinzip einen geschickten Streich geführt zu haben und machen es sich selbst zunutze.

Der gemeinsame Reichstag des ganzen Reiches jedoch, der unter dem Namen Reichsrat seinen Sitz in Wien hat und sich aus ernannten Delegierten der verschiedenen Landtage in Galizien, Ungarn, Transsylvanien, Kroatien, Serbien, Venetien und den deutschen Provinzen, die sich außerhalb des Bereichs des Deutschen Bundes befinden, zusammensetzt - wird dieser Reichstag nicht die Beziehungen zerschneiden, die bis dahin zwischen Deutsch-Österreich und dem Deutschen Bund bestanden? Das ist die große Frage, auf der jetzt der amtliche preußische Liberalismus herumreitet, der niemals um Argumente für seine Lieblingsidee, Deutsch-Österreich aus dem Deutschen Bund auszuschließen, verlegen sein wird. Aber die ganze Überlegung geht von der falschen Voraussetzung aus, daß man das Patent Franz Josephs zu buchstäblich auffaßt. Während das letztere seitens des österreichischen Herrscherhauses als kluger Plan angesehen werden muß, gibt es den verschiedenen Völkern, die von Habsburgs Herrschaft unterdrückt werden, eine wertvolle Handhabe, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen und die Ära der Revolutionen wiederzueröffnen. Einstweilen wird die österreichische Verfassung viel dazu beigetragen haben, den pharisäischen Stolz der preußischen Scheinliberalen zu demütigen und die Hohenzollerndynastie des einzigen Vorteils zu berauben, dessen sie sich über ihre Rivalen rühmen konnte, nämlich die alten Interessen der Bürokratie und des Militärs unter der angeseheneren Form des Konstitutionalismus weitergeführt zu haben. Um ihnen einen Einblick in den wirklichen Zustand dieses vielgerühmten "wiedergeborenen" Preußens zu geben, wird es notwendig sein, auf die Veränderungen zurückzukommen, die kürzlich in der Organisation der preußischen Armee durchgeführt wurden. Man erinnere sich, daß das preußische Abgeordnetenhaus - während ihm der Mut fehlte, <193> einerseits der öffentlichen Meinung zu trotzen und die Regierungsvorschläge über die Reorganisation der Armee unverhüllt zu sanktionieren und andererseits entschiedenen Widerstand gegen die martinetistischen Neigungen des Prinzregenten zu leisten - auf den üblichen Ausweg der Schwäche verfiel, einen Mittelweg, der weder Fisch noch Fleisch ist. Es weigerte sich, den Regierungsplan für die Reorganisation der Armee zu bewilligen, stellte aber 9.500.000 Taler zur Verfügung, um die Armee in einen tauglichen Zustand zu versetzen, um den von außen zu erwartenden Gefahren zu begegnen. Mit anderen Worten, die preußischen Abgeordneten bewilligten die Geldmittel, die von der Regierung benötigt wurden, ihre Pläne durchzuführen; aber sie bewilligten diese unter irreführenden Vorwänden. Das preußische Parlament war kaum vertagt worden, als das Ministerium, offen die Bedingungen brechend, unter denen die Bewilligung gewährt worden war, ohne weiteres begann, die vom Prinzregenten beabsichtigten und von den sogenannten Volksvertretern verworfenen Veränderungen in der Organisation der Armee durchzuführen. Während der Parlamentsferien ist das stehende Heer verdoppelt worden, indem es von 40 auf 72 Linien- und 9 Garderegimenter erweitert wurde. Die laufenden jährlichen Ausgaben für das Militärbudget sind so durch den höchsten Willen des Prinzregenten unter offener Mißachtung nicht nur des Volkswillens, sondern auch der Stimmen seiner Scheinvertreter um 100 Prozent erhöht worden, Aber man glaube nicht, der Prinz von Hohenzollern oder einer seiner Kollegen lasse es auf das Schicksal von Strafford ankommen. Es wird ein wenig gemurrt werden, einige werden die dynastische Loyalität und das grenzenlose Vertrauen in das Kabinett glühend verteidigen, und das wird auch alles sein. Wenn man nun bedenkt, daß sogar die alte Heeresorganisation, die nach Lage der Dinge bei einer rein landwirtschaftlichen Bevölkerung errichtet wurde, ein unerträgliches Hindernis für die Ressourcen und die produktive Tätigkeit eines Volkes geworden ist, das sich auf dem Wege der industriellen Entwicklung befindet, wird es leicht zu verstehen sein, wie die Armee, deren Stärke jetzt verdoppelt ist, die besten Energien der Massen erdrücken und die Ressourcen des nationalen Reichtums erschöpfen muß. Die preußische Armee kann sich jetzt rühmen, im Verhältnis zur Bevölkerung und zu den nationalen Hilfsquellen, die größte Europas zu sein.

Es ist bekannt, daß ein Hohenzollernherrscher, wenn er über sich selbst spricht oder wenn sein Kabinett und seine Beamten über ihn sprechen, den Namen "Kriegsherr" <"Kriegsherr": hier und im folgenden in der "N.-Y. D. T." deutsch und englisch> trägt. Nun bedeutet dies natürlich nicht, daß die <194> preußischen Könige und Regenten über das Kriegsglück herrschen. Ihre große Besorgnis, den Frieden zu erhalten, und ihr bekanntes Streben, auf offenem Feld durchgebleut zu werden, zeigen es besser. Durch diesen Titel "Kriegsherr", der von den Hohenzollernherrschern so gehegt und gepflegt wird, versteht es sich fast von selbst, daß die wahre Stütze ihrer königlichen Macht nicht im Volk gesucht werden muß, sondern in einem Teil des Volkes, der - von der Masse getrennt und ihr gegenübergestellt - sich durch bestimmte Tressen und Litzen unterscheidet, der zu unbedingtem Gehorsam erzogen und zu einem bloßen Instrument der Dynastie gedrillt wird, die ihn als ihr Eigentum betrachtet und sich seiner nach Laune bedient. Ein preußischer König würde deshalb lieber abdanken, als seiner Armee erlauben, auf die Verfassung zu schwören. Deshalb muß ein Hohenzollernherrscher, der der König seines Volkes nur soweit ist, als er der "Kriegsherr" oder, mit anderen Worten, der Eigentümer der Armee ist, in sie vor allem vernarrt sein, sie hätscheln, ihr schmeicheln und sie mit immer größeren Bissen vom Nationalreichtum ernähren. Dieses große Ziel hat man durch die neue militärische Organisation erreicht. Die Anzahl der Offiziere wurde verdoppelt, und die schnelle Beförderung zu höheren Rängen in der französischen, österreichischen und russischen Armee, auf die die preußischen Offiziere verlangend-besorgt ihr Auge geworfen hatten, ist ihnen gesichert worden, ohne Leib und Leben dem geringsten Wagnis auszusetzen.

Daher herrscht gerade jetzt, zwar nicht unter den einfachen Soldaten, aber unter den Offizieren der preußischen Armee eine riesige Begeisterung für den Prinzregenten und seine "liberalen" Minister. Gleichzeitig wurden die aristokratischen Fuchsjäger, die über die liberalen Phrasen des neuen Regimes brummten, völlig beschwichtigt durch die neue Gelegenheit, die sich ihnen bietet, ihre jüngeren Söhne an den Geldbeutel des Landes zu hängen. Für all dies gibt es auch vom dynastischen Standpunkt ein Hindernis. Preußen hat jetzt all seine verfügbaren Kräfte in nur einem stehenden Heer konzentriert. Ist diese Armee einmal geschlagen, wird es keine Reserven geben, auf die man zurückgreifen kann.