Inhaltsverzeichnis Artikel und Korrespondenzen 1861

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 15, 4. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961, Berlin/DDR. S. 275-280.

1. Korrektur
Erstellt am 20.09.1998

Friedrich Engels

Gewehre und Gewehrschießen -
Das Lancaster- und das Enfield-Gewehr

Geschrieben Ende April 1861.
Aus dem Englischen.


["The Volunteer Journal, for Lancashire and Cheshire" Nr. 35 vom 4. Mai 1861]

<275> Der kürzliche Wettkampf zwischen Leutnant Wallinger und den Sergeanten der Königlichen Genietruppen, von dem in unseren Nummern vom 6. und 13. April berichtet wurde, hat die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit wieder auf die Vorzüge des Lancaster-Gewehrs, besonders als Armeewaffe, gelenkt. In dem Wettstreit von Chatham feuerten die Sergeanten mit der regulären 577er ovalgebohrten Lancaster-Büchse der Königlichen Genietruppen, die etwa 4 Pfd.St. kostet. Eine solche Waffe mit dem hochentwickelten Whitworth-Gewehr zu vergleichen, das etwa 25 Pfd.St. kostet, ist offenbar unangebracht. Angemessener wäre es, einen Vergleich zwischen dem Lancaster- und dem gewöhnlichen Enfield-Gewehr anzustellen, da der Kostenunterschied dieser beiden Waffen nicht sehr wesentlich ist und der Preis für das Lancaster-Gewehr wahrscheinlich dem des Enfield-Gewehrs angeglichen werden könnte, wenn man es in ebenso großen Mengen in den staatlichen Fabriken herstellte. Es bleibt nun die Frage, ob es ein besseres Gewehr ist. Ein Korrespondent der "London Review" bejaht dies, indem er es von allgemeinen Prinzipien her begründet und auch aus den vorliegenden Erfahrungen beurteilt. Wir möchten die Aufmerksamkeit auf folgende Abschnitte aus seinem Artikel über dieses Thema lenken:

"Die Gesetzmäßigkeit, die das genaue Gewehrschießen, die Schießpraxis bestimmt, ist sehr einfach. Es ist nur notwendig, eine Gleichung zwischen der Länge und dem Durchmesser des Geschosses aufzustellen und diesem Geschoß eine entsprechende Rotationsbewegung um seine Längsachse zu verleihen, um zu einem Resultat von unfehlbarer Genauigkeit zu gelangen, unabhängig von dem präzisen System, durch das die Rotation oder drehende Bewegung erzeugt wird. Das heißt, in das Innere des <276> Gewehrlaufs mögen noch so viele Züge in beliebiger Form geschnitten oder es mögen keine Züge vorhanden sein - die Genauigkeit wird in jedem Falle die gleiche sein, solange die Gleichung erhalten bleibt und das Geschoß eine eigene Rotationsbewegung bekommt. Bei der Erwägung, welche Waffe für den Soldaten am geeignetsten ist, ist jedoch als erste Bedingung zu berücksichtigen, daß sie nicht ein bestimmtes Gewicht und ein bestimmtes Maß überschreitet und daß sie leicht geladen und leicht gereinigt werden kann. Es folgt daraus, daß zum leichten Laden die Reibungsfläche während des Ladens so klein wie möglich sein sollte, und daß bei der Wahl für die den Zügen zu gebende Form soweit wie möglich alle Kanten vermieden werden sollten. Wir kennen keine andere Form, die diese Bedingung besser erfüllt als die ovale Spirale, da es bei dieser Form nur zwei Reibeflächen beim Laden gibt und keine andere Form ein so leichtes Reinigen mit den notwendigerweise spärlichen Mitteln erlaubt, die dem Soldaten während des aktiven Einsatzes zur Verfügung stehen. Diese Ansicht scheint durch die Erfahrungen des indischen Feldzuges und durch die Versuche von Malta, Gibraltar und anderen ausländischen Standorten bestätigt worden zu sein. In Indien soll das Enfield-Gewehr in manchen kritischen Abschnitten des Feldzugs völlig versagt haben. Zeitungen, Privatbriefe und offizielle Berichte wimmelten von Klagen; mit derselben Munition jedoch, unter denselben Umständen haben die Gewehre mit ovaler Bohrung, mit denen die Königlichen Genietruppen bewaffnet waren, zur Zufriedenheit von Offizieren und Mannschaften stets ihren Dienst geleistet.

Wenn das Enfield-Gewehr mit einem kleineren Kaliber hergestellt und ein längeres Geschoß benutzt wird, ist seine Wirkung, verglichen mit der des Whitworth-Gewehrs, gleich gut; doch das Enfield-Armeegewehr, wie es jetzt ist, muß als ein Versuch angesehen werden, unmögliche Bedingungen zu erfüllen. Den Offizieren, die mit der Konstruktion dieser Waffe beauftragt waren, wurde nicht erlaubt, das Kaliber der Waffe unter eine gegebene Grenze zu reduzieren. Seitdem datiert das Kaliber von 0,577 Zoll als Standard. Als eine Folge dieses zu großen Kalibers zeigte sich ein ihm anhaftender Mangel - es ist schwierig, ein vollkommenes, unfehlbares, hermetisches Zusammenpassen von Geschoß und Laufinnerem zu sichern, wenn die Kugel durch die Entzündung des Pulvers aus dem Gewehrlauf getrieben wird. Man prüfe das wirkliche Ergebnis, welches das Enfield-Gewehr mit seinen unvollkommenen Bedingungen erzielt. Das Gewicht der Kugel ist mit 530 Gran festgelegt, die Pulverladung mit 70 Gran, das Kaliber, wie vorher festgestellt, mit 0,577 Zoll. Nun kann die Wirkung von 70 Gran Pulver, die auf den großen Querschnitt des Geschosses einwirken, nicht genügend Druck entwickeln und tut dies auch nicht, um in jedem Falle das Geschoß durch genügende Expansion in die Züge zu pressen. Sorgfältige Experimente zeigen, daß noch nicht 10 Prozent der Geschosse gleichmäßig und vollständig expandiert sind. Manchmal ist ein Zug besonders eingekerbt, manchmal zwei, und nur ein Zehntel aller abgefeuerten Geschosse sind völlig expandiert; daraus resultiert das ungenaue Schießen mit dem Armeegewehr des Kalibers von 0,577 Zoll.

Die besten Bedingungen für ein genaues Schießen mit Gewehren, die in irgendeiner Form gezogen sind, können nun wie folgt beschrieben werden: Kaliber 0,5 Zoll, Länge des Geschosses 1,12 Zoll, 1 Umdrehung beziehungsweise Drall auf 18 Zoll, Pulver- <277> ladung 90 bis 100 Gran (Nr. 6), gleiches Geschoßgewicht, nämlich 530 Gran. Die unter dieser Bedingung auf den Querschnitt des Geschosses angewandte Kraft ist ausreichend für ein sicheres, unfehlbares Hineinpassen des Geschosses in die Bohrung, und das geschieht folgendermaßen: Der verringerte Durchmesser der Bohrung ergibt ein längeres Geschoß, und es ist kein hölzerner Dübel wie bei den Armeegeschossen notwendig, um das Metall auszuweiten. Das Geschoß ist daher ein homogener Körper mit einer Länge von etwa drei Durchmessern. Bei der Entzündung wirkt die Expansionskraft des Pulvers zuerst auf das Ende oder das hintere Geschoßteil (a), und die Übertragung der Triebkraft, obgleich fast augenblicklich erfolgend, ist trotzdem der vis inertiae <Trägheitskraft> der Metallmasse des Geschosses ausgesetzt, die sich in der ganzen Länge (von a zu b) und zurück durch den entgegengesetzten Luftwiderstand im Gewehrlauf auswirkt.

Es ist auf den ersten Blick klar, daß sich der Widerstand im mittleren Teil des Geschosses als dem Teil des größten Widerstands (c) zeigt, und infolgedessen würde das Geschoß dort durch eine ganz einfache Expansion leicht gekürzt werden, sagen wir um etwa ein zehntel Zoll, wobei der zentrale Teil im Durchmesser ausreichend vergrößert würde, um sich hermetisch der Form des Inneren des Gewehrlaufs anzupassen, welche Form er auch haben mag.

Wenn diese vollkommeneren Bedingungen erfüllt sind, gibt es nicht einmal in 500 Fällen eine fehlerhafte Expansion, das Geschoß nimmt stets die Form der Züge, und daraus ergeben sich höchst vortreffliche Schießergebnisse.

Diese Bemerkungen beziehen sich auf die gezogenen Gewehre jeder Konstruktion. Was wird durch diese günstigen Bedingungen beim gezogenen Gewehr erreicht, und warum tragen sie zu einem präziseren Schießen bei? Wir haben gezeigt, wie das Laufinnere vollkommen durch das Geschoß ausgefüllt wird und werden uns jetzt bemühen, die daraus resultierenden Ergebnisse nachzuweisen. Eine der Hauptaufgaben bei der Konstruktion eines gezogenen Gewehrs ist, eine flache Flugbahn zu erhalten, das heißt, die Kurve, die das Geschoß beim Flug beschreibt, muß einer geraden Linie so nahe wie möglich kommen. Als notwendige Voraussetzung dafür ist eine hohe Geschwindigkeit unbedingt erforderlich, damit der Einfluß der Gravitation auf den Flug des Geschosses auf ein Minimum herabgesetzt wird. Die Reduzierung des Kalibers ergibt nun das erste Resultat, und durch die Verwendung einer größeren Pulverladung für den kleinen Querschnitt des Geschosses werden höchste Geschwindigkeit und präziseste Ergebnisse erreicht.

<278> Bezüglich der Methoden, die Gewehrläufe zu ziehen, ergibt sich aus dem bereits gesagten, daß, solange das Geschoß beim Verlassen des Laufes den notwendigen Drall bekommt, es nichts zur Sache tut, wie die Rotation zustande kommt, ob durch eine sechseckige Bohrung, wie beim Whitworth-Gewehr, eine ovale, wie beim Lancaster Gewehr, oder durch drei Züge, wie beim Enfield-Gewehr. Auch eine bestimmte Anzahl der Züge ist nicht notwendig, denn wenn ein Zug das Geschoß genügend faßt, um es zu drehen, ist die notwendige Voraussetzung gegeben. Es haften jedoch den Methoden des Schneidens der Züge Mängel an, die leicht gezeigt werden können. Wenn die Züge kantig geschnitten sind, tritt bei der Expansion, sowohl durch das Ausfüllen der Kanten wie auch durch die dort wahrscheinlich entweichenden Treibgase ein Kraftverlust ein. - Überdies bedeutet jede Kante im Gewehrlauf einen Nachteil; so zeigen sich bei jeder Anzahl von Zügen proportional zu ihrer Tiefe dieselben Mängel. Daher ist die ovale Spirale des Lancaster-Gewehrs theoretisch zur Zeit die beste Form, der sich das Geschoß bei sehr geringer Expansion leicht anpaßt.

Daß das Lancaster-Gewehr große Vorzüge haben muß, geht aus der Tatsache hervor, daß vor der Annahme des Enfield-Modells dem Lancaster-Gewehr, das damals mit ihm konkurrierte, von vier verschiedenen Komitees unabhängig voneinander der Vorzug gegeben wurde. Es wurde dem Oberbefehlshaber zur Billigung vorgelegt und von ihm zur endgültigen Entscheidung nach Hythe geschickt. Der erste Bericht der Offiziere der dortigen Infanterieschießschule war sehr günstig; der zweite Bericht entschied zugunsten des Enfield-Gewehrs. Als Grund für diese Entscheidung wurde damals angegeben, daß die Geschosse "streuten". Später sollen jedoch folgende Tatsachen durchgesickert sein: Die ersten 10.000 Geschosse der Pritchett-Munition, mit der die ersten Versuche durchgeführt wurden, hatten den richtigen Standarddurchmesser. Mit diesen Patronen wurde glänzend geschossen. Beim zweiten Experiment wurde nicht dieselbe Munition verwendet. Die erstere war 1853 hergestellt worden, letztere 1854; die experimentierenden Offiziere in Hythe hatten keine Ahnung von dem Unterschied der Munition, da sie nicht informiert worden waren, daß die 1854 hergestellten Geschosse einen um 0,007 Zoll geringeren Durchmesser hatten als die Munition von 1853.

Diese Tatsache wurde erst eineinhalb Jahre nach der endgültigen Entscheidung zugunsten des Enfield-Gewehrs aufgedeckt, als Oberst (damals Hauptmann) Fitzroy Somerset das Modell des Karabiners mit ovaler Bohrung der Königlichen Genietruppen prüfte. Es ist leicht einzusehen, daß bei dem verkleinerten Durchmesser des Pritchett-Geschosses, der geringer war als die eigentliche Standardausführung, es in vielen Fällen, besonders bei übermäßiger Härte des Bleies, den Gewehrlauf verlassen würde, ohne in Rotationsbewegung gekommen zu sein, das heißt, es würde nicht genug expandieren, um das Laufinnere eines Lancaster- oder irgendeines anderen Gewehrs auszufüllen.

Nur wenige bezweifeln, so glauben wir, daß das Whitworth-Gewehr für die Verwendung in der Armee zu kostspielig ist und eine sorgfältigere Behandlung verlangt, als im aktiven Einsatz zu gewährleisten ist. Die Versuche sollten daher jeweils am Lancaster- oder Enfield-Gewehr oder an anderen Modellen vorgenommen werden, die <279> der groben Behandlung wahrend des Krieges entsprechen. Das läßt sich jedoch nicht durch Schießwettbewerbe bewerkstelligen, sondern durch Schießen von einer festen Auflage mit gleicher Pulvermenge und mit Geschossen von gleichem Gewicht und Guß, so daß alle Bedingungen gleich sind und das Ausprobieren nur den jeweiligen Vorzügen der Waffen selber gilt."

Die vorhergehenden Bemerkungen beziehen sich auf zwei verschiedene Fragen: 1. Welches ist die beste Proportion zwischen dem Durchmesser und der Länge des Geschosses bei einem Schuß aus irgendeinem Gewehr? 2. Welches sind die Vorzüge des Lancaster-Gewehrs, der oval gebohrten Züge?

Was die erste Frage betrifft, so sind wir weit davon entfernt, mit dem Autor darin übereinzustimmen, daß die Proportionen seines besten Geschosses allen anderen vorzuziehen sind. Die Gewehre, die bisher die besten Resultate erzielt haben - das Schweizer und das Whitworth - haben beide ein kleineres Kaliber als 0,5 Zoll und eine verhältnismäßig größere Geschoßlänge. Wir können hier jedoch nicht in eine Diskussion über ein Thema von so allgemeiner Natur eintreten.

Was die zweite Frage betrifft, so können wir keinen überzeugenden Beweis des Autors sehen, den er auch nur für eine Überlegenheit des Lancaster-Gewehrs über das Enfield-Gewehr anführt. Daß die Karabiner der Genietruppen weniger oft versagt haben als die Enfield-Gewehre der Infanterie, ist leicht durch die Tatsache zu erklären, daß die Infanterie in jeder Armee hundertmal zahlreicher ist als die Geniesoldaten; daß letztere ihre Karabiner noch nicht einmal benutzen, wenn die Linientruppen ihre Gewehre hundertmal benutzen, weil Genietruppen andere Aufgaben haben, als als Infanterie zu agieren.

Daß ein langes und schweres Expansionsgeschoß, am hinteren Ende ausgehöhlt, so hergestellt werden kann, daß es mit voller Ladung fast jede Form der Züge nimmt, ist durch das Beispiel des Whitworth-Gewehrs bewiesen; hier ist die erforderliche Ausdehnung außergewöhnlich groß, und doch nimmt das Geschoß am hinteren Teil die sechskantige Form an. Ohne Zweifel kann daher solch ein Geschoß hergestellt werden, das sich genügend ausdehnt, um ovale Züge auszufüllen, wenn die Differenz der beiden Durchmesser nicht zu groß ist. Aber warum in dieser Hinsicht der Karabiner der Genietruppen besser sein sollte als das Enfield-Gewehr, ist mehr, als wir verstehen können. Das Idealgeschoß unseres Autors hat durchaus nichts mit diesem Karabiner zu tun - es würde nicht dazu passen. Wenn unser Autor selbst bei einer Reduzierung des Kalibers eine stärkere Ladung von 90-100 Gran Pulver für notwendig hält, damit sein Geschoß <280> die ovalen Züge völlig nimmt, sind wir der Ansicht, daß dies einem stillen Eingeständnis gleichkommt, daß die gegenwärtige Ladung von 70 Gran nicht immer eine volle Expansion des Geschosses in den ovalen Zügen des Karabiners der Genietruppen gewährleistet. Unser Autor sagt nicht, was bei der stärkeren Ladung mit dem erhöhten Rückschlag geschehen soll; wir wissen jedoch, daß die 80 bis 90 Gran beim Whitworth-Gewehr eine nicht sehr angenehme Stärke des Rückschlages ergeben, der bei schnellem Feuern sehr bald die Zielsicherheit beeinträchtigt.

Die ungewöhnlich guten Ergebnisse, die mit dem Karabiner der Geniesoldaten beim Wettkampf in Chatham erzielt wurden, sowie einige überaus gute Schießergebnisse von Privatpersonen mit Lancaster-Gewehren, die zuweilen in der Presse erwähnt werden, lassen es wünschenswert erscheinen, die Leistungen des Expansionsgewehrs mit ovalen Zügen und seine Eignung als Militärwaffe erneut zu überprüfen. Wir unsererseits glauben, daß man auch dabei Mängel finden wird, und daß das Prinzip des Ziehens bei den Armeegewehren tatsächlich eine sehr zweitrangige Angelegenheit ist. Warum kommt man, statt beim Enfield-Gewehr über so geringfügige Dinge zu debattieren, nicht sofort auf die Hauptsache und sagt, daß sein größter und wichtigster Mangel sein zu großes Kaliber ist? Man ändere dieses und wird feststellen, daß alle anderen Verbesserungen nebensächlich sind.

F. E.